RSV Kohlfurth: Zum 100jährigen Bestehen einer untergegangenen Legende

“He, schieß her!” sag ich.

Der Junge zögert. Er kennt mich nicht. Er weiß nicht, mit wem er es zu tun hat. Und sein Ball macht einen neuen Eindruck. Womöglich schießt er mir die Pille zu, und ich schnapp sie mir und laufe weg. Er mustert mich mit kurzem, intensiven Blick. Erst als er meine O-Beine ausmacht, die ja in Wahrheit gar keine echten O-Beine mehr sind, sondern nur noch zwei Satzzeichen, Klammer auf, Klammer zu, (aber es reicht noch, um den alten Fußballer durchschimmern zu lassen: dreimal die Erde umrundet mit der Pille am Fuß), da endlich nimmt der Junge seinen Ball in die Hand und wirft ihn mir zu. Halbhoch, im Bogen.

Ich bin kurz irritiert, weil er den Ball nicht geschossen, sondern geworfen hat, aber nun ist er in der Luft, ich stoppe ihn mit dem Oberschenkel. Lasse ihn tänzeln auf den alten Muskelsträngen, fünf, sechs Mal, links, rechts, rechts, dann abtropfen – und per Dropkick geht’s zurück an den Absender. Schön trocken, wie eine Frikadelle vom Tresen des Vereinslokals.

Das ist natürlich nicht ohne Risiko, im Alter von fünfzig Jahren einen Fußball auf den Oberschenkeln tänzeln zu lassen, aus dem Stegreif und dann per Kunstkick zurückzubefördern – ohne sich zuvor warm zu machen. Ohne sich zu lockern. Ohne sich ein bisschen einzufinden in die plötzliche Fußballsituation, eine Situation, wie ich sie zwar unzählige Male erlebt habe – aber in jungen Jahren. Jetzt mit 50 könnte die Pille schon nach dem ersten Tänzeln vom Oberschenkel rutschen und zu Boden plumpsen wie eine dicke gescheiterte Kartoffel. Und dann steht man da mit seiner knallroten Birne. Noch ungünstiger, doch durchaus möglich: ein doppelter Bandscheibenvorfall, der einen bis ans Lebensende jeden Morgen beim Aufstehen an diese wehmütige kleine Kick-Einlage erinnert.

Mit anderen Worten, ich sollte es lieber sein lassen. Ich sollte den Ball, der mir entgegengeworfen kommt, einfach fliegen, sich seinen Weg suchen lassen. Ich sollte mich nicht einmischen. Aber ich kann nicht anders. Erstens: ich hab den Ball angefordert, und zweitens: Kommt mir ein Ball unter die Augen, egal wo, egal wann, muss ich handeln. Muss ich mich einmischen. Muss ich schießen. Zumeist handelt ohnehin der Ball, nicht ich. Der Ball sucht mich.

Ich bin sein Mekka.

Es ist schon eine Art Standard geworden. Wenn ich irgendwo hergehe, wo ein Fußball im Spiel ist, dauert es keine halbe Minute und die Pille rollt auf mich zu. Schön, vielleicht muss ich einen halben Schritt nach links oder nach rechts machen, um sie annehmen zu können, aber im Ergebnis rollt sie stets in meine Richtung. Es ist ein Orakel. Läuft der Ball nämlich ausnahmsweise nicht in meine Richtung, geht er mir also ganz bewusst aus dem Weg, dann weiß ich, es stimmt etwas nicht. Da ist etwas nicht in Ordnung. Da stimmt grundsätzlich etwas nicht mit meinem Leben. Da ist richtig was im Eimer.

Der Keeper, Susanne Eggert, 2012

Wir spielten auf den weiten saftigen Wiesen der Hasseldelle, bevor die Neue Heimat 1969 frech ihre Hochhäuser aufschlug. Erst stellten sie mich ins Tor, die Großen, weil ich als 6jähriger Pico noch zu klein war, um im Feld mitzuspielen, „der wimmelt uns nur zwischen den Beinen rum.“

Als ich mein Debüt gab als Torwart, sprang ich von Pfosten zu Pfosten wie ein Flummi. Ich hielt die unmöglichsten Bälle. „He, der kann ja richtig was.“ Ich erinnere mich an einen strammen Weitschuss, den ich passieren ließ, der in die Maschen ging, hätte es Maschen gegeben und nicht nur Pullover oder Trainingsjacken als Torpfosten, doch ich hatte mich lang gemacht, um den Schuss zu kriegen, so lang wie möglich – wie eine Wasserpumpenzange fuhr ich ein weiteres Glied aus, mit dem niemand mehr gerechnet hatte. Und auch wenn es am Ende nicht reichte und der Ball ins Tor ging, es war genau diese eine vergebliche Parade, die bei den großen Jungs gut ankam. Es dauerte nicht mehr lange, und ich durfte im Feld mitspielen.

Schon bald galt ich als dreister Dribbler. Als Fummelkopp. Beine anderer Jungs waren für mich nichts als gegnerische Stangen, die es zu umkurven galt, so eng und elegant wie möglich. Wäre ich im Friaul geboren wie der mütterliche Zweig meiner Vorfahren, aus mir wäre höchstwahrscheinlich ein alpiner Slalomfahrer geworden, ein Risiko-Bergsteiger, ein echter Sherpa-Bescheißer.

Als ich sieben wurde, ging einer von den Großen zu meinen Eltern und bat darum, mich beim RSV anzumelden. Der Junge muss in den Verein. So spielte ich in der E-Jugend des RSV Kohlfurth und blieb bis zu den A-Junioren, da war ich achtzehn. Ich spielte alle zehn Jugend-Saisons durch. Der Platz in Kohlfurth war von unserem Küchenfenster aus gut zu erkennen. Da unten lag das Spielfeld, im Kohlfurther Kessel, Entfernung Luftlinie einen Kilometer, bei Nebelbildung zwei. Ein Fußballplatz war für mich wie ein Versprechen. Eine Verheißung. Bei schlechtem Wetterl setzte ich mich hin und malte den ganzen Nachmittag die Köpfe von Zuschauern, die ein weites Stadionrund füllten. Tausende von Köpfen. Mutter konnte es kaum fassen.

„Ist denn jeder Kopf ein Zuschauer?“

Sonntagnachmittag stand ich mit dem Feldstecher von Carl Zeiss am Fenster und guckte mir ein Heimspiel unserer 1. Mannschaft an. Winzige Figuren in bunten Trikots, die sich merkwürdig geräuschlos bewegten. Das wurde schnell anstrengend und ich ging lieber vor die Tür, irgendwo ein Eins Null vorbereiten oder es gleich selber schießen. Das war besser. Das war mein Metier. Dafür war ich geboren. Dummerweise hatte ich von Anfang an nur einen rechten Fuß. Mit links ging so gut wie gar nichts. Mein linkes Bein war bloßes Standbein, wie bei einer Tipp-Kick-Figur nur dazu da, um das Gleichgewicht zu halten. Das war auch der Grund, warum ich es laut Ekki, unserem späteren A-Jugend-Trainer, bei allem Talent niemals in den bezahlten Fußball geschafft hätte. Man musste auch damals schon beidfüßig unterwegs sein, um auf sich aufmerksam zu machen. Und ich hatte nun mal nur einen rechten Fuß und wenig Lust, den linken zu trainieren. Bei allem anarchischen Anstrich, war ich schon früh ein eher konservativer und bequemer alter Knochen.

Der RSV war ein Arbeiterverein, beinahe britisch in seinem trotzigen Stolz. Als Rasspe Sport Verein Kohlfurth ging der Club im Jahre 1909 aus dem Betriebssport hervor. Rasspe, ein mittelständischer Hersteller von Landwirtschaftsmaschinen, führte im Firmen-Emblem einen Pfeifenkopf, der vom höchsten Schornstein aus den Kohlfurther Kessel bedampfte, an der Stadtgrenze zu Wuppertal. Spötter tauften den RSV daher „Ormsnut“, Solinger Platt für:

Atemnot.

Nein, der RSV hatte keinen guten Ruf. Genauso wenig wie RASSPE selbst. Willst du schlechte Löhne, geh zu Rasspe und Söhne. Dass ich im Gegensatz zu meinen Mitspielern keine Schlosserlehre bei Rasspe absolvierte, sondern eine weiterführende Schule besuchte, wurde mir erst so richtig bewusst, als unsere Klasse kurz vor der Mittleren Reife eine Betriebsbesichtigung bei Rasspe durchführte. Da standen meine Teamkameraden im Blaumann an lärmenden Pressen, ölverschmiert, während ich reichlich schnöselig umherschlich in meinen Gary Glitter-Teenie-Jeans. Eine seltsame Situation. Weder grüßte ich meine Mitspieler vom RSV, noch grüßten sie mich. Ein paar verschämte Blicke, mehr war nicht drin.

 

Der RSV-Platz war eine Rarität. In der Mitte schwarze Asche, (später rote), an den Rändern Rasen. Nicht Fisch, nicht Fleisch, oder Fisch und Fleisch, ganz wie man will, jedenfalls ein gottverfluchter Acker, gefürchtet bei den Gastmannschaften, die mit dem Belag nicht klar kamen. Ich hab heute noch schwarze Aschekörner in den Knien, von den vielen Heimspielen.

Die seltsamen Platzverhältnisse hatten aber auch ihr Gutes. Weil man als Spieler automatisch danach strebte, aufs weiche Gras am Spielfeldrand auszuweichen, zog unser Team ein offensives Flügelspiel auf. Ich wartete als Vollstrecker in der Mitte bis die Pille kam, und dann – paff! Wie mein Onkel Fitting!

„Ich hab euch doch gesagt, ihr sollt den Lockenkopf decken!“ war der Spruch, der mich durch die Jugend begleitete, bis die krausen Haare glatter wurden und ich keine Tore mehr erzielte, weil ich am Abend zuvor wieder mal irgendwo versackt war.

Eine weitere Kohlfurther Besonderheit: Vereinsheim und Umkleidekabinen lagen gut einen Kilometer vom Platz entfernt. Dazwischen Felder und Rübenacker, die vor allem im Winter zu Schlammwüsten mutierten. Manch ein Team war schon erledigt, bevor es unseren erbarmungswürdigen Nicht-Fisch, Nicht-Fleisch Platz erreicht hatte. Wir waren schon eine gefürchtete Heimmannschaft.

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Der untergegangene Fußballplatz des RSV Kohlfurth (Mitte 90erjahre) 

Die widrigen Platzverhältnisse und ein für die damalige Zeit hoher Ausländeranteil, (italienische und türkische Väter, die bei Rasspe ranklotzten, meldeten ihre Söhne beim RSV an), sorgten dafür, dass der Club nicht gut gelitten war. Für einen Gegner wie Union Solingen, im 15 Kilometer entfernten Stadtteil Ohligs beheimatet und schon von der Mentalität eher zu Düsseldorf gehörend, bedeutete ein Auswärtsspiel in Kohlfurth eine Reise ins tiefe Germanien, zu den Urvölkern, eine Partie bei den Schmuddelkindern, den Kohlfurther Juffen, „die haben Messer im Stutzen! Die jagen uns durch ihren Kuhdung!“

Wirklich verfeindet waren wir mit der 1. Sportvereinigung aus dem Stadtteil Gräfrath, deren Jungs stets in blütenweißen schmucken Trikots aufliefen und vor Arroganz kaum aus den Stutzen kamen. Für sie waren wir die Prolls aus der Nordstadt, die Kohlfurther Juffen, während sie für uns nur Bubis darstellten, die sich von Mutti noch den Bauch waschen ließen. Wir hassten die 1. Sportvereinigung, sie hassten uns. Eine faire Angelegenheit, es wogte hin und her.

Zu den magischen Momenten zählte der Freitagmittag, wenn daheim die Postkarte im Briefkasten lag. Absender: RSV Kohlfurth. Inhalt: Spielort, Anstoßzeit, Treffpunkt des nächsten Punktspiels. Nun war das alles während des Trainings unter der Woche bereits bekanntgegeben worden, doch erst die Postkarte mit der abgestempelten Briefmarke Freitagmittag im Briefkasten machte es offiziell: Ein Match stand an. Der Countdown lief. Fußballschuhe putzen, (oder 50 Pfennig in die Mannschaftskasse, wenn man mit dreckigen Tretern zum Spiel erschien), abgenudelte Schraubstollen auswechseln, IST DAS TRIKOT GEWASCHEN, MUTTI, mit Wiwi Wupperbusch, unserem Rechtsaußen, Hassgesänge auf die 1. Spvgg. einstudieren, im Kanon.

Mein Lieblingstrainer war Ekki, in der A-Jugend. Mit Ende zwanzig war er gerade mal zehn Jahre älter als wir, er nahm uns Jungs ernst, er hatte ein Händchen für uns. (Im Gegensatz zu meinem Großvater, zum Beispiel. Der hatte nur ein lakonisches Grinsen übrig, wenn er mich fragte, ob wir am Wochenende ein Spiel hätten. Antwortete ich dann „ja, wir haben ein Heimspiel, Opa“, griente er nur „Wo denn, bei euch ungen in der Ormsnut?“)

Ein Spiel ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Es war gegen Ende der Saison, es ging um alles oder nichts. Aufstieg in die Niederrheinliga, wo Fortuna Düsseldorf und der Wuppertaler SV warteten, oder ein weiteres Jahr gegen Blau-Weiss Wald und die Sportfreunde Witzhelden. Konkurrent um den Aufstieg war der Sportclub Reusrath mit dem kuriosen Trainer Zimmermann, der eine Stimme hatte wie ein Huhn und auch so aussah, mit seinem dürren langen Hals.

Wenn wir zum Auswärtsspiel nach Reusrath fuhren, in der üblichen Wagenkolonne, krähte und gackerte es aus den Seitenfenstern, bis wir die Auffahrt zu den Umkleidekabinen erreichten. Dann war schlagartig Stille, wir hielten die Luft an. Da stand er, Zimmermann, das eiserne Huhn. Er führte ein straffes Regiment mit seiner hohen Hühnerstimme, die wie eine Sirene durch Reusrath hallte.

„MENSCH, MANNI!! DU TRIFFST KEINEN MÖBELWAGEN AUS ZWEI METERN!“

„DIE PILLE VERHUNGERT JA! DIE KRIEGT UNTERWEGS JUNGE!!“

Ein Huhn mit Autorität.

Ekki nahm mich vor dem Match beiseite. Ich sollte nicht nur die Nummer 10 des Gegners mattsetzen, sondern auch das eigene Spiel ankurbeln. „Trainer“, sagte ich, „das schaff ich nicht.“ Zwar hatte er mich im Laufe seiner Amtszeit schon vom Sturm ins Mittelfeld zurückbeordert, was überraschend gut funktionierte, doch dem Spielmacher der gegnerischen Mannschaft auf den Füßen stehen und den Ball in den eigenen Reihen verteilen..?

„Glummi“, sagte er, „du machst das. Das ist dein Spiel.“

Ohne dass Ekki je darüber gesprochen hätte: Er war hochrangiger Manager bei einem renommierten Solinger Schneidwaren-Unternehmen. Kurz nach seinem fünfzigsten Geburtstag fiel er in der Kantine tot vom Stuhl. Einfach so. Das Herz. Der Stress. Die Beisetzung fand 2003 an einem klaren blauen Wochentag statt. Ein Schwarm Kraniche zog hoch über den Parkfriedhof, als ich am offenen Grab stand und mich fragte, warum zum Teufel niemand „Hintermann!“ ruft, wenn der Tod daherkommt, auf seinen schwarzen Tretern, damit jedermann Bescheid weiß, aha, da isser. Da kommt er. Von hinten. Und man vielleicht schnell noch die Biege machen kann.

Das Entscheidungsspiel beim SC Reusrath endete unentschieden, was uns nicht weiterbrachte. Wir hätten gewinnen müssen, um in die Niederrheinliga aufzusteigen. Dennoch war es das Spiel meines Lebens, an diesem Nachmittag. Ich rannte mir die Blutkörperchen aus dem Leib, dennoch waren es die Reusrather Hühner in ihrem Bretterverschlag, die den Aufstieg feierten.

Einige Jahre zuvor, in der D-Jugend, war es noch andersrum gewesen. Auch damals konkurrierten wir mit Reusrath um den Aufstieg in die Bestengruppe. Kurz vor Ende der Begegnung wurde uns ein Elfer zugesprochen, und ich als Mittelstürmer und Torschützenkönig machte mich ans Werk. Und dann trat ich mit meinen zwölf Jahren mehr in den Boden als vor den Ball. Die entsetzten Aufschreie meiner Kameraden im Rücken schaute ich dem Lederball hinterher, der feixend in Richtung Torwart holperte, es sich kurz vor der Linie aber anders überlegte und eine grobe Unebenheit des Platzes nutzend von einem Hubbel abhob und dem verdutzten Keeper durch die fangbereiten Arme glitt: 1:0!

Wir waren Meister!

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 Glumm untere Reihe 2. von li. Obere Reihe mit der gelben Spielführerbinde: Tornato. Weitere Mitspieler, an deren Name ich mich erinnere: Günther Brand (Obere Reihe, 1. re), daneben: Jochem Becker. Untere Reihe Volker Wiebusch (1. von li.), Uwe Raschke (2. von re.)

Unser erster Trainer in der E-Jugend hieß Schütz. Ein untersetzter 60jähriger Schlosser mit Schiebermütze und riesigen Ohren, der uns Knirpse nicht gerade mit Samthandschuhen anfasste. Das waren eher Kohlenschlepperfäustlinge, mit denen er uns bearbeitete und beknetete und beschimpfte, wobei Kohlenschlepper niemals Fäustlinge trugen, wir wurden also von einem unechten Kohlenschlepper mit riesigen Ohren trainiert. Es spotzte wie bei einem defekten Heizöfchen, wenn er an der Seitenlinie stand und unzufrieden war mit unserer Leistung.

Den dicken Duce hatte Trainer Schütz besonders auf dem Kieker. „Duce, fauler Hund!“ rief er und seine riesigen Ohren wackelten wie Hausschlappen. „Duce, Duce, Duce…! Dir kann man beim Laufen die Schuhe besohlen!“

Duce war ein kleiner dicker Sizilianer, dem ich im Februar 1987 die erste Begegnung mit der Gräfin verdankte. Er sah ein bisschen so aus wie Honore de Balzac, wenn Honore de Balzac wie der Duce ausgesehen hätte. Ein freundlicher Vogel, übergewichtig, ein bißchen verschroben.

So wie es sich gehörte, beim RSV.

Dann war da noch der Trainer, dessen Namen ich vergessen habe und der uns nur eine halbe Saison lang coachte, es muss in der B-Jugend gewesen sein. Von nichts eine Ahnung, aber immer am Plappern. Bei Heimspielen rannte er nervös hinterm Tor auf und ab, ein langes Elend, dem der Wind das dünne Haar zu einer Sturmfrisur hochbrutzelte, die er verzweifelt in den Griff zu bekommen versuchte, indem er das Haar platt drückte bis zur nächsten Böe. „Kommt heiß aus der Sahara, der Wind!“ plapperte er und niemand hörte hin. Als Geschäftsmann sorgte er mit ein paar Hunderten in die Vereinskasse dafür, dass sein hüftsteifer Sohn einen Stammplatz als Vorstopper genoss. Am Wochenende fuhren Vater & Sohn auf die Königsallee nach Düsseldorf. Da hockten die beiden dann zwischen einheimischen Bonzen und Schickimickis und furzten vorstädtisch ins Gestühl.

Irgendwann in den Neunzigern gab es ein zufälliges Wiedersehen. Ich traf das Duo in einem Kiosk am Stadtrand, den es übernommen hatte. Das Ganze war beiden so peinlich, sie taten, als hätten sie mich nicht wiedererkannt. Ich ließ mich nicht lumpen und kaufte eine schöne Tüte Süßigkeiten, für fünf Mark. Aber nur süß-sauer, Herr! Ohne Lakritze!

„Das schmiert so von innen!“ lachte ich.

Der Keeper, Susanne Eggert, 2012

Da die Jugendspiele meist am Samstag stattfanden, hatte ich sonntags Zeit, um mir die Senioren anzugucken. Dummerweise krebste die erste Mannschaft des RSV in der 2. Kreisklasse herum, das war uninteressant, also ging ich fremd: Alle vierzehn Tage zum Heimspiel der ersten Mannschaft der verhassten 1. Sportvereinigung 03..

Die spielte damals Oberliga und hatte einen schlagkräftigen Anhang. Tausend Zuschauer an der Nibelungenstrasse waren keine Seltenheit. Der Platz hatte einen Belag aus roter Asche, und die Zuschauer standen dicht gedrängt hinter den Geländern, die mit Werbetafeln bestückten waren und einen Höllenlärm verursachten, wenn Hunderte von Zuschauern mit den Fäusten gegen das Blech boxten, und feste Schuhe hatte man ja auch an, besonders im Winter.

Der harte Kern der Fans war bewaffnet mit Fahrradhupen, deren blanke metallische Töne aus den Stadien heutzutage gänzlich verschwunden sind. Ausgestorben.

Wenn im Nachtprogramm gelegentlich Wiederholungen laufen von legendären Fußballschlachten der 70er Jahre, dann hört man es noch mal massenhaft von den Rängen hupen, als hätten dort 50.000 Herrenfahrräder gesessen, und nicht Zuschauer.

Diese Sonntage an der Nibelungenstrasse gehörten mir ganz alleine. Ich war elf Jahre alt und ging alleine hin und blieb während des ganzen Spiels alleine, selbst wenn der nächste Angriff der 1. Sportvereinigung roten Staub aufwirbelnd aufs gegnerische Tor zurollte und ich in meine Tröte blies.

Nach dem Match ging ich allein in die überfüllte Vereinskneipe und holte mir eine Schachtel Pommes rot-weiß, ohne mit irgendjemand ein Wort zu wechseln. Und dann ging ich alleine nach Hause. Ich war vielleicht nie wieder alleine so glücklich wie an diesen Sonntagen, die so einsam und turbulent zugleich waren. Introvertiert und doch mittendrin, das war das Leben, das mir gefiel, selbst an einem Sonntagnachmittag in Gräfrath, beim verachtenswerten Intimfeind.

*

2009 hätte der RSV sein hundertjähriges Bestehen gefeiert. Honoratioren wären „Ri, Ra, Rau, Er, Es, Vau!“ skandierend noch aus dem letzten Kohlfurther Fachwerkhäuschen gekrochen, um der Legende zu gratulieren, doch es sollte nicht sein.

Da der Platz dem Ausbau des benachbarten Kühlhauses der Frischdienst-Zentrale im Wege stand, die das Gelände aufgekauft hatte, löste sich der Verein Ende der 90er Jahre auf. Bitter: zu dem geplanten Ausbau kam es nie, die Frischdienst-Zentrale zog nach Wuppertal.

So liegt der alte RSV-Platz heute verlassen da, eine verwilderte Pferdekoppel, ohne Pferde. Quasi im vorauseilenden Gehorsam hatte die damalige Vereinsführung den RSV ausradiert für immer. Und dagegen protestiere ich jedes Mal scharf mit rechts, wenn mir eine Pille über den Weg läuft.

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A-Jugend RSV Kohlfurth 1977/78, Glumm obere Reihe 3. Spieler von links. 3. Spieler von re. der 2009 verstorbene Manfred Schneider

*

Bis vor kurzem wohnte in der Nachbarschaft ein kleiner alter Mann. Ich mochte es, mit ihm zusammenzustehen und seinen Geschichten von früher zu lauschen, in diesem freundlichen Solinger Singsang, der mich an meine Eltern erinnerte. An meine Onkel und Tanten, an die ganze Sippe, die Platt sprach, den Slang meiner Kindheit. Ich ertappte mich dabei, dass ich einfach die Augen schloss und mich in den wohltemperierten Worten des kleinen Mannes hin- und herwog, ohne groß auf den Sinn zu achten. Es war, als badete ich in seinen Sätzen, und wenn ich aus der Wanne stieg, war ich picobello gereinigt.

Der alte Mann aus der Nachbarschaft berichtete, dass hybridartige Fußballfelder wie in Kohlfurth (in Kolfert) bis weit in die 50erjahre nicht selten waren im Stadtgebiet, doch nirgendwo sonst hielt sich dieses Zwitterwesen aus Asche und Rasen so lange wie in Kohlfurth. Das Gras wuchs ohne jegliches Zutun und bildete zusammenhängende Flächen vom Spielfeldrand zur Mitte hin, jedes Jahr ein wenig mehr. So etwas wie einen Platzwart gab es nur insofern, dass jemand die Eckfahnen aufstellte am Spieltag und mit dem Kreidewagen die Linien abfuhr.

Irgendwann unternahm Rasspe einen letzten Versuch, den Anteil des Rasens durch regelmäßige Pflege auf 100 % zu erhöhen und stellte dem RSV einen Mähtraktor aus eigener Fabrikation zur Verfügung. Doch umsonst – spätestens in der Platzmitte setzte sich die Asche nach einer Weile wieder durch.

Zum 40jährigen Bestehen des RSV gab es 1950 (nachträglich) ein einwöchiges Fest-Turnier in Kohlfurth. Im Endspiel standen sich sonntags der SV Sudberg und der SSC 95/98 gegenüber. Bratwurststände und Trinkbuden waren aufgebaut, Hunderte Zuschauer säumten die mit Blumengirlanden geschmückten Absperrungen. Kurz vor Ende der Partie kam es zu einer mordsmäßigen Klopperei unter den Gegnern, in deren Verlauf eine betagte Anhängerin des SV Sudberg den Platz stürmte und rigoros mit ihrer Handtasche um sich schlug. Dabei wurde einem Stürmer des SSC 95/98 das halbe Ohr abrasiert. Polizei fuhr vor sowie ein Krankentransport, es wurde ein halbes Ohr gesucht und ein gutes Dutzend Platzverweise ausgesprochen.

„Dat woaren noch staatse Konden auffem Platz fröüher, die hatten noch Schitte anne Füöte!“, so der Nachbar. (Das waren noch prächtige Jungs auf dem Platz früher, die hatten noch Schitte unter den Schuhen = die konnten noch was ab.)

*

Montagfrüh, Mai 2009, im Bus nach Gräfrath. Voll gepappt mit Schülern.

„Maxi, hey! Wie war das Wochenende?“

„Hä..?“

„Wie war das Wochenende?“

Es kommt keine Antwort. Türkische Jungs in der Vor-Pubertät tun sich schwer mit gesellschaftlichen Gepflogenheiten. Sie haben eigentlich nur die Ergebnisse der türkischen Süper-Lig im Kopf, und die letzte Deutsch-Arbeit, die Yüksel noch nicht zurückbekommen hat, weil er am Freitag nicht in die Schule durfte.

„Hat der Arzt gesagt. Ich hab voll die Bescheinigung.“

„Du hast ne 3 in der Deutsch-Arbeit“, unterrichtet ihn Erhan, der am Fenster sitzt und ziemlich träge geraten ist.

„Ne 3..? Boh, cool. Mit ner 4 oder ner 5 hätt ich nicht nach Hause kommen dürfen, mein Vater hätte mich voll angeschissen.“

Haltestelle Central. Ein Pulk türkischer Mädel steigt zu, mal mit, mal ohne Kopftuch. Ein Mädchen fragt Yüksel, über die Köpfe ihrer Klassenkameraden hinweg: „Was hast du in Deutsch, Yüksel? Weisst du schon?“

„Ne 3. Ich hab voll gelernt, ich hab voll alles gewusst..! Eh, Erhan, hast du Galatasaray geguckt Sonntag? Wie der voll das Feuerzeug an den Kopp gekriegt hat..? Hier, so von hinten! Da ist bestimmt voll was geplatzt, Alter.  An seinem Kopf! Wie das da… so rauskam, Blut und alles!“

„Wer?“

„Die Nummer 9. Moment, hier, ich zeig dir.“ Er spult auf dem Smartphone hin und her.

„Die Nummer 9?“ fragt Erhan.

„Ja, die 9! Das war die 9.“

„Nee, hab ich nicht gesehen, das Spiel.“

„Wo habt ihr denn gespielt Samstag?“

„In Lützenkirchen, gegen die D2. Verloren. Eins null.“

„Äh, Alter. Gegen die. Und nächste Woche?“

„Zuhause, gegen Reusrath. Die werden geschlachtet, Alter. Ich mach Meldung, eh.“

15 Gedanken zu „RSV Kohlfurth: Zum 100jährigen Bestehen einer untergegangenen Legende

  1. Pingback: 2011 in review « Glumm

  2. Mann o Mann, da kommen Erinnerungen hoch. Ich habe es in all den Jahren nicht für möglich gehalten, das mich irgend etwas oder irgend wer an Solingen positiv erinnern wird können. Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob ich beim TSV Aufderhöhe jemals gegen den RSV gespielt habe. Ich glaube nicht. Das war noch D und C Jugend.

    Aber ehrlich, Ohligs als „Düsseldorf-affin“ wahrgenommen zu haben, ich weiss nicht. Süllingen-Ülligs habe ich ganz anders in Erinnerung. Da waren mehr Malocher, schräge Typen, schräge Kneipen, als viel zu oft für manchen von uns, gut war. Sicher hatten wir Bremshey da wohnen, aber sonst….

    Jedenfalls, vielen Dank für deine Erinnerungen, die mich tatsächlich einfingen und nicht so schnell wieder loslassen werden….

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  3. starker Text , kannt ich so nich
    da geht einem schon das alte Herz auf
    deine Matte ist wirklich unnachahmlich wie deine Kopfballtore
    und Pässe in den Raum
    eine bessere 10 hat die Welt noch nicht gesehen
    schade das du nicht entdeckt wurdest.

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  4. Hallo Andreas Glumm (richtig? Evtl. verwandt mit Peter Glumm?),
    also, ich heiße Dirk Frohn und habe auch einige Jahre in der RSV – Jugend gespielt!
    Kannte auch den Ekki Thomas und einige der Spieler auf den Fotos ( z. B. Uwe Raschke).
    Finde Deine Anmerkungen ganz gut, kann nur beim Gründungsjahr nicht ganz zustimmen.
    Ich habe 1969 in der D- Jugend gespielt und anlässlich des 50-jährigen Bestehens spielten wir
    gegen Rot-Weiß Wuppertal. Die“Erste“ übrigens gegen den Landesligisten VFL Benrath!
    Der RSV müsste also 1919 gegründet worden sein!
    Würde mich freuen, wenn ich von Dir ein Feedback bekommen würde!
    FG Dirk Frohn

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    • Hallo Dirk,
      stimmt, der Peter Glumm ist mein Onkel. (Der letzte lebende.) Was das Gründungsdatum des RSV angeht, 1909 oder 1919, man kann da leider nirgends recherchieren. Ich guck mal, ob ich jemanden fragen kann, der Ahnung hat. Es wäre aber seltsam, wenn das zuvor niemandem aufgefallen wäre, die Story ist ja bereits 2009 erschienen und mich haben damals einige mails erreicht von alten RSVlern, und da hat sich niemand über das Datum 1909 beschwert. Aber wer weiss. Ich lasse von mir hören.

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  5. Erstens auch von mir ein verspätestes Kompliment für deine hervorragende und liebenswerte „Kolumne“
    über unseren fast vergessenen RSV.
    Durch deinen Bericht wurde auch ich u.a. in meine wüderschöne Jugendzeit beim RSV zurückversetzt. Als ich mit dem lesen fertig war, bin ich einige Zeit in lang vergessenen Erinnerungen versunken. Vielen Dank dafür.
    Zweitens möchte ich mich zum Gründungjahr aüßern. Ich gehe mit den Erinnerungen von Dirk Frohn konform
    (an den ich mich, wie auch an einige deiner Kameraden, sehr gut erinnere) das 1969 das 50. Jubiläum stattfand.
    Meine Erinnerung für die Vereinbezeichnung war und ist: RSV Solingen-Kohlfurth 1919 e.V.

    Liebe Grüße aus Wuppertal
    Frank Manske, Jahrgang 1955.
    Jugendspieler von der C bis A – Jugend
    anschließend Senioren, kurze Zeit 2. Mannschaft und viel später dann Alte Herren.
    PS.
    Von 1970 bis 1998 Kaufm. Angestellter bei P.D. Rasspe Söhne.

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  6. Mann Glumm, ich hab das gerade erst gelesen, Ende September 2020. Herrlich geschlenzte Bolzkommentare und klasse Fotos. Ich beneide Dich um Deine Vereinsfußballjahre bei diesem coolen Club, mit Hybridbelagplatz. Ich wette Du weißt noch genau wie das Ganze gerochen hat.

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  7. Habe von 1951 bis 1965 beim TSV gespielt bis in die Senioren.War immer gerne mit Lust Liebe bei der Sache.Hatte tolle Mitspieler,bin dann 1966 ins Bergische gezogen nach Lindlar gezogen. Es war eine schöne Zeit.Vielleicht liest einer meiner Mitspieler aus Jugend oder 1.Mannschaft.Gruss Alex Wurtscheid

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  8. Ich bin gerade durch Zufall auf ihre Geschichte gestoßen und fühlte mich in meine Kindheit zurück versetzt. Ich bin die kleine Schwester von Manfred Schneider und kann mich noch erinnern, dass ich das eine oder andere mal zusammen mit Manni zum Spiel gegangen bin. Ich war immer stolz, dass er mich mitnahm. Auch kannte ich ihren Onkel Peter recht gut, er hat mir zu meinen ersten Fussballschuhen Adidas, Franz Beckenbauer mit Schraubstollen verholfen. Mein Vater und er hatten doch in der Thekenmanschaft „Zum Laternchen “ gespielt. Vielen Dank für diese kleine Reise in die Vergangenheit.

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    • Das Laternchen auf der Kurzen Straße.. oh ja, große Legende. Wir wohnten ganz in der Nähe, an der Schillerstrasse. Vom Kinderzimmerfenster aus konnte ich das Laternchen so eben noch sehen,. An manchen Tagen hörte man nur die Autotüren auf- und zuschlagen, soviel Betrieb war damals. Dein Bruder Manfred war in der Mannschaft so etwas wie der Anführer. Ein temperamentvoller Bursche,. Gibts ihn noch? (Schuldigung, dass ich so respektlos frage.. ich tät ihn gern grüßen…)

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      • Leider ist Manni 2019 verstorben aber der Artikel und das Bild hätten ihm sehr gefallen. Manni hat sich immer gerne an die alten Zeiten erinnert.

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      • Das tut mir leid. Dass ich unter dem alten SW-Mannschaftsfoto des RSV ausgerechnet Manni hervorhob und erwähnte, sagt schon alles. Seltsamerweise sind wir uns nie wieder über den Weg gelaufen.

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