Der Plan

Ich war acht Jahre alt, als ich der populären Musik der damaligen Zeit verfiel. Das war 1968. Im Wohnzimmer stand die große Telefunken-Musiktruhe mit eingebauten Stereo-Lautsprechern, ein riesiges Möbelstück, das fast eine ganze Wand beanspruchte, da durfte ich aber nicht ran, ich musste mit dem kleinen Mono-Plattenspieler in der Wohnküche vorliebnehmen, der hatte aber die spannenderen Platten: die Singles meiner großen Schwester. Eloise von Barry Ryan, World von den Bee Gees, Lady Madonna und All you need is love von den Beatles.

Ich spielte die Singles wieder und wieder, dabei stets die jeweiligen Cover vor Augen, Cover, auf denen rätselhafte Erwachsene warm angezogen im Winter beisammen standen (Lady Madonna), oder hinter Unmengen Luftballons hervorlugten (Cliff Richard – Ein Sonntag mit Marie).

Die erste Single jedoch, von der ich nicht genug bekommen konnte und auf die ich mich jedes Mal freute, wenn ich mit einem Affenzahn nach Hause geradelt kam, war von Vicky Leandros. Damals war Vicky noch nicht das gurrende Schlagerfötzchen der 70er Jahre, sie war eine aufstrebende junge Griechin, die mit stürmischem Piano und großem Orchester ihrer Qual ein Ende machen wollte. Das war ihr Auftrag, und sie hatte sich ihm ganz und gar verschrieben. Sie wollte alles.

„DEINEN KLEINEN FINGER WILL ICH NICHT“, kämpfte und schrie sich Vicky drei Minuten lang durch die Aufnahme, eine wie von Katapulten abgeschossene Anklage gegen eine Liebe, die nicht alles gab. Vicky verzehrte sich so sehr, dass ich auf der Stelle süchtig wurde nach ihr, ihrer Stimme. Ich musste es wieder und wieder hören. Ich war acht Jahre alt. Ich schwärmte für Vicky. Nachts schniefte ich.

Die Platte ist im Laufe der Jahre weggekommen, ich erinnere mich aber, dass es die B-Seite war, die in der Seele eines Achtjährigen eine grandios verwüstete Landschaft hinterließ, und nicht die A-Seite. Nicht der eigentliche Hit. Das fand ich seltsam. Es war einer der ersten Momente in meinem Leben, wo ich spürte, dass mit mir irgendetwas nicht stimmte. Dass ich nicht so war wie die anderen. Ich mochte die B-Seite, verdammt! Wieso nicht die A-Seite wie alle anderen?

Eine andere Single, die ich gern spielte, war von Cliff Richard, Ein Sonntag mit Marie. Wie damals üblich, handelte es sich um die deutsche Version eines britischen Hits. Das Cover sehe ich noch vor mir, Cliff Richard inmitten einer Traube bunter Luftballons, die von der Decke hing. Aber es war nicht wie bei Vicky und ihrem großartigen Deinen kleinen Finger.., bei Ein Sonntag mit Marie lag die Sache anders. Den Song fand ich nicht mal besonders, eine Art Polka, ein Stampfen von Kartoffeln, doch die Einleitung gefiel mir, die ersten zehn, zwanzig Sekunden, und das sollte mir in späteren Jahren noch etliche Male passieren. Dass ich die Einleitung super fand, und das wars.

(Am besten war natürlich, wenn das Intro so geil war wie der Rest des Songs. Gutes Beispiel: Der spannende Bossa Nova-Beat, mit dem Drummer John Densmore Break on through to the other side einleitet, einer der besten Doors-Songs überhaupt, auch wenn der geniale Basslauf ausgeliehen war von der Butterfield Blues Band.)

„Der Sommer war längst schon vorbei“, säuselte Cliff Richard, „es war ein Sonntag, es war noch fruh.“
Fruh. Es war noch fruh. Das war toll. Das war sexy.

Fruh.

Ein einziges, falsch gesungenes Wort konnte einen ganzen Song retten. Welch eine wegweisende Erkenntnis.

In den frühen 80ern hockten Karlos und ich oft zusammen und hörten alte deutsche Schlager, lange bevor das Hören alter Schlager populär wurde. Damals schüttelten die Leute nur verständnislos den Kopf, wenn wir Die Spitzenreiter 1964 auflegten, eine LP, die ich von meinen Eltern gemopst hatte. Außer Schnaat. Klar. Der war genauso verrückt wie Karlos und ich nach Strasse der Sehnsucht von Peter Kraus und Bernd Spier:

„Wenn du willst, verbrenn das Bild von mir.. wenn du willst, das letzte Souvenir..“

Überhaupt steckten wir damals so oft die Köpfe zusammen, in hitziger Rede am Tresen, stinkbesoffen, dass manch einer schon mißtrauisch wurde: Was zum Teufel habt ihr Drei da eigentlich andauernd zu bekakeln?! Im Nachhinein würde ich das auch gern mal wissen. Ich hab null Ahnung, welche Geheimnisse wir uns anvertrauten. Vermutlich schwärmte ich den Jungs von Vicky Leandros vor, die mich 1968 in die Popmusik eingeführt hatte, und dass es die B-Seite gewesen war und nicht die A-Seite, („BEI MIR AUCH!“ krähte Karlos, „BEI MIR AUCH DIE B-SEITE! IMMER DIE B-SEITE!“),  solche Sachen eben.

B-Seiten-Sachen.

*

500beine hat die Zahnarztstory No. 4

3 Gedanken zu „Der Plan

  1. Die Musiksozialisation ist manchmal schon recht lustig:
    Beim Spaziergang im Hippergrund 1977 laute Musik aus dem Pavillion…

    Udo hörte beim Aufrollen der Kabel gerade „Freeway Jam“ – und zeigte Patty uns das Cover – in Köln dann bei Saturn gekauft.

    Tüüt-Tüüt-Trööt-Trööt
    Jens

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  2. Pingback: links for 2010-10-26

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