Nur ein paar dumme Stunden *

Angst neigt dazu, an anderen Ängsten anzudocken, sich aufzupumpen und in Windeseile zu vermehren. Wenn man es zulässt. Wenn man es nicht zulässt, ist die Angst nur noch ein Scheinriese, und zieht verdattert Leine.

  • Die Gräfin

*

Ich hatte zu wenig Methadon für die Nacht, und ich wusste nicht, was ich denken sollte. Was falsch war, was richtig, was greifbar, was Einbildung. Ging es mir tatsächlich schon schlecht? Und würde es mir im Laufe der Nacht noch viel schlechter gehen, würde ich ein noch viel viel größeres Flattern kriegen, wenn das Methadon tatsächlich nicht ausreichte?

Oder machte ich wieder mal viel Wind um nichts?

Ich hockte auf dem Teppichboden und rutschte unruhig hin und her, mit dem Rücken zum heißen Heizkörper. Das Erdgas aus Russland versengte mir beinah das Fleisch,  so heiß waren die Heizungsrippen, ich fröstelte trotzdem. Vermutlich waren es nur die Nerven, die mir einen Streich spielten. Die mir einen beginnenden Entzug vorgaukelten, einfach weil ich ihn erwartete.

Sobald Angst im Spiel war, war ich zu allem fähig.

„Deine Angst ist der Quartiermacher, deine Angst ist dein Vorauskommando. Du schickst deine verdammte Angst voraus wie einen König, der dein Kommen ankündigt. Und dann kommst du.“

Jede Wette: hätte ich an diesem frostigen Winterabend des Jahres 2006 auch nur ein Schlückchen Methadon für die Nachtstunden in petto gehabt, mir wäre es blendend gegangen, selbst wenn ich es nicht angerührt hätte. Allein die Gewissheit, bei Bedarf darauf zurückgreifen zu können, hätte mich dermaßen entspannt, ich wäre erst gar nicht auf die Idee gekommen, mir könnte es schlecht gehen. Aber ich hatte kein Schlückchen Methadon in petto, und ich war abgebrannt. Ich war an dem Punkt angelangt, den jeder Süchtige fürchtet wie Graf Dracula das Tageslicht: die gewohnte Substanz war mir ausgegangen, und ich war zu pleite, um Nachschub zu besorgen.

“Sag mal, was tust du eigentlich in der Küche?” rief sie aus meinem Zimmer.

Sie war längst im Bett verschwunden und schaute eine ihrer amerikanischen Lieblingsserien, deren Personal einem mit jeder Folge mehr ans Herz wächst. Selbst den von Band eingespielten Applaus beginnt man mit der Zeit zu mögen, behauptete sie. Es klingt wie eine Schar Kraniche, die vor den Toren Marrakeschs landet.

„Ich sitze“, antwortete ich matt.

„Und tust was?“

„Lesen.“

„Was…?!“

„Lesen…“

„Ja, schon – aber was liest du?“

„Ach.. na, Zeitung.“

Tatsächlich lag die TV Today direkt vor mir. Darunter drei einzelne kleine Subutex-Pillen, die Ringo mir Monate zuvor in die Hand gedrückt hatte, mit dem freundlichen Hinweis… hier, für den Fall, dass du mal einen Affen schiebst. Ist aber nichts zum Antörnen. Ja, weiß ich doch, hatte ich genervt geantwortet, Subutex, klar. Ich bin doch nicht blöd. Ist Subutex. Danke.

„Du bist so blöd. Warum hast du mich nicht gefragt?” meinte sie später, als alles vorüber war. “Ich hätte dich vor Subutex gewarnt und der ganze Scheiß wäre nicht passiert.”

“Klar hätte ich dich fragen können. Aber du hättest mich doch sowieso gewarnt, lass die Finger davon. Nimm bloß kein Subutex, solange du keinen richtigen Affen schiebst, sonst geht der Schuss nach hinten los. Also habe ich es heimlich gemacht, damit du mir nicht reinquatschst. Ist doch logisch, oder…?”

“Na, super logisch. Weißt du was? Du bist wie ein Plattenspieler, der Jahr um Jahr dieselbe alte Platte runterleiert. Und weißt du wie die Platte heißt??! Die Platte heißt Ich baue Scheiße!“

Noch war nichts entschieden. Noch lagen die Pillen vor mir. Es war nicht mal klar, ob ich wirklich zu wenig Methadon intus hatte. Klar war nur, dass Subutex einen gewaltigen Haken hat: Es ist Opiat und Opiat-Blocker zugleich. Solange die Rezeptoren nicht komplett von Opiaten befreit sind, entzieht einem Subutex auch noch den letzten Fitzel Morphin, der sich in deinem Körper befindet, und zwar auf einen Schlag. Dann hast du von jetzt auf gleich einen Turkey, der sich gewaschen hat. Dann fühlst du dich plötzlich so roh und nackig und auf eine brachiale Art clean, dass du dir in die Hosen scheißt. Dann hast du den sudden death, vor dem man es sich in der Szene so fürchtet. Und die Szene hat immer Recht. Die Szene mag übertreiben und alles noch schlimmer machen, als es ohnehin schon ist, doch das tut sie bloß, damit man ihr zuhört.

Ich wog die drei kleinen Pillen in der Hand, wie ein misstrauischer Eichmeister. Durch die geöffnete Küchentür sah ich nebenan das bläuliche Licht des TV-Bildschirms die Wände rauf- und runterklettern, mit langen zackigen Beinen, ein zentralnervöser Schneiderwipphopp. Ich hörte ihr warmes Lachen. Nebenan, in der Wirklichkeit.

Sie ahnte nichts von meinem Dilemma. Für sie war es ein normaler Sonntagabend, sie wartete, dass ich ins Bett kam. Woher sollte sie auch wissen, dass ich auf dem Trockenen saß, dass ich Schwierigkeiten hatte. Ich erzählte ja nie etwas. Ich war ein Ein-Mann-Torpedo, unterwegs im großen weiten Ozean der Sprachlosigkeit. Irgendein Stützpunkt hatte mich 1960 abgeschossen und seither schlingerte ich durch die See. Dabei war eines offensichtlich: Was auch immer mir im Genick lauerte, es war kein wirklicher Affe, kein vor Hunger drängelndes Tier, das es auf meine arme Seele abgesehen hatte, es war viel mehr das Grauen vor der Nacht, das sein langes leeres Stundenbuch vor mir auffächerte. Es war die Angst, das Methadon in meinem Blut würde nicht ausreichen bis der Morgen dämmerte und ich in der Praxis Hilten mein reguläres Wochenrezept abholen konnte.

Für meinen geliebten Apothekenzustand, der keinen Gott neben sich duldete.

Überwach, wie ich war, registrierte ich jedes Ziehen im Körper, jedes noch so winzige Reißen und Klopfen und stufte es ein auf der nach oben offenen Scheiße-fühl-Skala. Und immer wieder kontrollierte ich im Spiegel meine Pupillen. Ob sie sich aufblähten, groß wurden wie Untertassen. Pupillen, die Außenthermometer des Morphinisten, die Wetterfahne.

Die ganze verdammte Nacht lag noch vor mir, und wenn ich mich jetzt schon so desolat fühlte, wie sollte es dann erst gegen drei, vier Uhr werden, in der Schwärze des Universums. Ich wusste, was mich erwartete. Wie oft hatte ich solche Nächte schon durchwacht, ich hasste dieses chemische Aufklaffen, wenn die Schutzhülle fällt und du zur rohen Masse wirst, wenn der Körper aufmuckt und die Zellen sich vor den Toren sammeln, um gemeinsam Nachschub anzufordern. Wie hasste ich dieses Hin-und Herwerfen im Bett, das Abwechseln von Hitze und Kälte, das zornige Wegkicken der Bettdecke. Der Fernseher würde im Dauerbetrieb laufen, Nies-Attacken den Rotz aus der Nase holen, die Nacht kein Ende nehmen – und all das wäre noch meilenweit entfernt von einem einem ausgewachsenen Affen, der einem so ziemlich alles nimmt, was Menschsein bedeutet.

Die Heizungsrippen begannen schon abzukühlen. Lester, der unterm Dach hauste mit den längsten Haaren der Stadt, hatte den Heizkessel so eingestellt, dass es im ganzen Haus ab 22 Uhr 30 zur Nachtabsenkung kam. Ich ackerte den Beipackzettel zum wiederholten Mal durch, konnte mich aber kaum konzentrieren, die Worte stürzten mit kraftlosen Beinen übers Papier.

Bei der Substitutionstherapie opiatabhängiger Patienten mit Buprenorphin, dem Wirkstoff in Subutex, ist zu beachten, dass es bei der Umstellung auf Buprenorphin – vor allem wenn noch signifikante Mengen anderer Opiate im Körper sind – aufgrund seines partiell antagonistischen Charakters zur Entzugssymptomatik kommen kann.

Weiter unten fand ich etwas von mindestens vier Stunden Abstand zur letzten Einnahme eines Opiats. Vier Stunden..? Wie jetzt!? Den letzten Rest Metha hatte ich in der vergangenen Nacht genommen, gut.. 18 Stunden zuvor. Was zum Henker sprach also dagegen, wenn ich jetzt Subutex einwarf! Andererseits wusste ich von Doc Hilten, dass er Patienten vor der Erst-Einnahme von Subutex sechsunddreißig Stunden clean bleiben liess, sechsunddreißig (!), nicht vier. Auch nicht achtzehn.

Also schön.

Ich nahm die erste Pille à 2 mg in die Hand. Jetzt nicht lange fackeln, jetzt sublingual.. jetzt auflösen lassen ..

“Kommst du?“ rief sie.“ Warum kommst du nicht?”

“Ich komm gleich.. Noch ein paar Minuten.”

Ich blätterte sinnlos in der Zeitung, während ich wartete, in mich hinein horchte. Ob da schon was anflutete. Was da ankam. Doch es kam nichts. Logisch – was waren schon 2 mg.. war ja nur ein Klacks. Welches verdammte Junkie-Herz kam mit einem Klacks über die Runden. Was sollte da schon warm anfluten mit 2 mg..? Es dauerte keine Minute, und die beiden restlichen Pillen steckten unter meiner aufbegehrenden Zunge, lösten sich auf, versickerten im Blutkreislauf.

Eine halbe Stunde verging, ohne dass etwas passierte, dann stieg ich endlich zu ihr ins Bett. Mir ging es nicht besser, aber auch nicht schlechter. Immerhin. War ja auch schon mal was. Ich war müde. Sie legte ihre Hand auf mein Bein. Der Fernseher lief. “Ist gut der Film”, sagte sie, doch ich war woanders mit meinen Gedanken. War allein mit meiner Sucht. Wenn Heroin schon kein Publikumsknaller ist, dann ist Methadon ein wirklich einsames Geschäft. Wer sitzt schon mit seinen Freunden beisammen und teilt ein Töpfchen zuckriges Ersatzgift. Nein, der Methadonjunkie sitzt allein am Feuer.

Die Steinzeit ist einsam, an ihrem Ende.

“Ist was?” wunderte sie sich, weil ich so still war.

Ich winkte ab. Ich hatte keine Lust zu reden. Ich wollte die Nacht hinter mich bringen und am nächsten Morgen mein Rezept beim Doc abholen und in der Apotheke einlösen, nichts weiter. Ich drehte mich zur Wand hin und schlief auf der Stelle ein. Als ich eine dreiviertel Stunde später die Augen aufschlug, war ich in Panik. Mein Herz raste. Der Brustkorb steckte in Stahlzwingen, ich war pitschnass geschwitzt. Oh.. mein Gott..! peitschte es durch meinen Kopf, ich flüchtete aus dem Bett.

“Was ist denn jetzt los?!” rief sie mir hinterher.

Ich war voll auf Affen. Auf Grund gelaufen. Der Schweiß plädderte an mir runter.

“Ich fühl mich.. scheiße!”

“Wie, du fühlst dich scheiße!? Was hast du angestellt!?”

Großes riesiges Feindgebiet. Es war, als wälzte ich mich durch ein großes überwürztes Feuer, ich brannte lichterloh. Ich lief ins Bad, vor den Spiegel. Schwarze Bratpfannen glotzen mich an, wo mal Pupillen gewesen waren. Mein Herz raste wie auf durchdrehenden Rädern. Ich liess mich zitternd auf dem Wannenrand nieder.

“Was hast du gemacht?” rief sie ängstlich. Sie war mir gefolgt.

“Ich hab.. Scheisse gebaut. Ich hab.. Subutex genommen..”

“Wann?”

“Na, eben..”

“Du hast..? BIST DU BESCHEUERT!?? SUBUTEX! Da kommst du voll auf Affen, wenn du nicht clean bist!”

“Ich weiß..”

“Wie, du weißt!? Warum hast du es dann gemacht, wenn du es weißt??”

“Weil ich dachte, also.. ich weiß nicht, was ich.. Ich hatte kaum noch Metha für heute.. Scheisse! SCHEISSE!!”

Wie zum Henker sollte ich die Nacht aushalten. Ich schrie, doch kein Ton kam heraus. Ich tigerte durch die Wohnung, in Auflösung. Zerschossen.

“Das halt ich nicht aus..! Die ganze Nacht..!”

“Du hältst das aus”, versuchte sie mich zu beruhigen. “So schlimm ist das auch wieder nicht..” Ihr zweifelnder Blick strafte ihre Worte Lügen. Die ganze Nacht! All die Stunden. Bis acht Uhr. Bis der Doc aufmachte.

“Ruf den Doc an”, sagte sie.

Sie wartete erst gar keine Antwort ab. Sie suchte die Telefonnummer heraus. Es war kurz vor Mitternacht. Es sprang nur der Anrufbeantworter an.

“Na, was hast du denn gedacht? Dass Doc Hilten nur darauf wartet, dass ich ihm nachts anrufe!?”

“Nee, aber dass eine Nummer genannt wird für Notfälle.. was weiß ich.. Und schrei mich nicht an. Ich kann nichts dafür, dass du so blöd bist.”

Sie versuchte es bei der Auskunft. Fragte nach Hiltens Privat-Nummer. Tatsächlich erhielt sie eine Handy-Nummer. Damit hatte ich nicht gerechnet. Sie wählte. Hielt mir den Hörer hin.

“Ich.. kann doch jetzt nicht reden..”, wehrte ich ab.

“Du kannst. Natürlich kannst du. Frag, was du jetzt machen sollst.”

Ich nahm den Hörer in die Hand. Es dauerte nicht lang, und der Doktor nahm ab.

“Ja..?”

“Doktor Hilten? Hab ich Sie.. gestört?”

“Hmm.. wer isn da?” nuschelte er, als hätte er ein Sofa-Kissen im Mund.

Ich räusperte mich. “Ich hab Scheiße gebaut.. Ich hab.. mit Subutex experimentiert..”

“Experimentiert? Mit Subutex? Ja, das ist schlecht.”

Er fragte müde, mit wem er das Vergnügen hatte. Doktor Hilten war der Buddha, der sich mit einer Trutzburg aus Fett vor seinen süchtigen Patienten schützte, die ihn mit ihrer Sucht zu sehr ans eigene Versagen erinnerten. Er hasste Junkies. Er verachtete uns. Er hätte nie Doktor werden sollen. Er wollte Pilot werden, er wollte große Passagiermaschinen durch die Welt fliegen, doch die Augen waren zu schlecht.

“Dann hast du jetzt ein paar.. dumme Stunden vor dir. Hast ein paar Manschetten. Klapperst ein bisschen”, beruhigte er mich. Es klang so routiniert, wie tausend Mal eingeübt, und die Beruhigungstaktik ging halbwegs auf. “Es kann aber nichts passieren. Du brauchst keine Angst zu haben.”

“Ich fühl mich aber so scheiße.. so extrem.. ich mein, sollte ich nicht.. könnte ich mir nicht was Methadon..”

“DU SOLLST NICHTS NEHMEN!! DAMIT MACHST DU ALLES NUR SCHLIMMER!”

Ich sagte nichts mehr. Das machte alles keinen Sinn. Sie beobachtete mich.

“Du schaffst das schon”, meinte Hilten abgekämpft. “Kommst du morgen früh in die Praxis. Dann hast du es schon hinter dir. Nur ein paar dumme Stunden. Es kann dir nichts passieren..”

Ich legte auf. Tigerte durch die Wohnung. Von einem Zimmer ins andere, vom Bad in die Küche und wieder zurück.  Nur ein paar dumme Stunden! Die ganze verfluchte Nacht. Und der Affe wurde schlimmer, es war, als zwackte das unglückselige Subutex von Minute zu Minute mehr von meinem restlichen Reservoir ab. Es zerrte und rüttelte an mir wie ein Tornado an einem Haus. Das Dach war halb abgedeckt, Trümmerteile und Pfannen flogen umher. Warum musste ich auch alle drei Pillen auf einmal nehmen?! Vollidiot! Und jetzt hier rumheulen!

“Jetzt steigere dich nicht noch mehr rein..! Bleib ruhig. Ich lass dir eine Wanne einlaufen. Entspann dich”, meinte die Gräfin.

Sie meinte es gut, natürlich – ich hörte sie reden, aber es war sinnlos – sie spürte nicht den Abgrund um mich herum. Wie auch? Jeder ist seine eigene Notaufnahme.

„Nein, keine Wanne, kein heißes Wasser – bloß nicht..!“

In meinem Kopf wirbelte es. WIESO STAND AUF DEM BEIPACKZETTEL WAS VON VIER STUNDEN ABSTAND!!? Ich musste raus. Ich musste mir was besorgen. Ich war blank. Ich hatte keinen Pfennig Geld in der Tasche. Die Gräfin konnte ich nicht fragen, dann hätte sie mich gelyncht. Ich grapschte meine Brieftasche vom Schrank im Flur. Da war kein Geld drin, aber Telefonnummern.

“Wohin willst du..?”

“Ich.. muss raus hier. Vielleicht kann ich Angelo anrufen.”

“Angelo?! Das meinst du jetzt nicht ernst!? Wenn du auf Subutex irgendein Opiat nimmst, machst du alles nur noch schlimmer! Dann ist das jetzt ein Zuckerschlecken gegen das, was dich erwartet! Lass das bloß sein!!”

Ich hatte sie lange nicht so zornig erlebt. Es war Mitternacht durch. Alles wurde immer enger, je länger ich wartete und nichts unternahm. Ich musste mir irgendwo Gift leihen. Auf Kommi. Aber erstmal brauchte ich eine funktionierende Telefonzelle, eine, die Münzen annahm. Ich wollte nie ein Handy haben, ich wollte nie ständig erreichbar sein, jetzt hatte ich den Salat. Was war mit der Klingenstrasse, da stand ein Telefonhäuschen. Ich sagte, dass ich ins Städtische wolle, in die Notaufnahme.

“Ich setz mich einfach da hin, damit ein Arzt in der Nähe ist, wenn was passiert.”

“Was soll passieren?”

“Dass ich umkippe. Keine Ahnung.”

“Ich kann dich doch ins Spital fahren.”

“Nein..! Ich muss.. gehen. Die Zeit umkriegen. Die Nacht umkriegen bis morgen früh. Wenn du mich ins Städtische fährst, sind wir in zehn Minuten da, und dann? Was mach ich dann den Rest der Nacht?”

“Wenn du zu Fuß durch die Kälte marschierst, bist du auch in ner dreiviertel Stunde da.”

“Kann sein, aber nicht in zehn Minuten.”

Ich hockte auf dem Badewannenrand und schnürte schwerfällig die Stiefel. Hatte ich alles – die Brieftasche, die Handynummern?

“Bau keinen Scheiß”, flehte sie.

“Ich hab keine Kohle für Scheiße bauen.”

“Ach ja, und seit wann braucht der Herr Kohle, um Scheiße zu bauen?”

Ich konnte nicht einen Cent vom Konto abheben. Es war alles sinnlos. Es wurde immer später. Gleich war ein Uhr.

“Mach dir keine Sorgen”, sagte ich zu ihr an der Haustüre, trotz dicker Winterjacke und Weste vor Kälte bibbernd. “Ich lauf einfach ins Städtische, setz mich dahin..”

“Soll ich dich nicht doch fahren?”

“Nein…!”

Das Thermometer zeigte drei Grad unter Null. Wenn ich durch den Coppel-Park ging, Richtung Klingenstrasse, hätte sie sofort Lunte gerochen, dass ich nicht ins Krankenhaus wollte. Ich drehte mich um. Unsere Wohnung strahlte hell erleuchtet wie ein Kasino, aber sie sah ich nicht am Fenster. Nein, sie wollte nicht wissen, wohin ich ging. Sie wollte mich nicht beim Lügen ertappen.

Ich drehte ab in den Park, begleitet vom zornigen Schnattern der Enten. Meine Füße waren schwach, sie taten es nicht richtig, ich eierte mehr als dass ich ging, es war, als wäre ich auf weichgekochten Sohlen unterwegs. Richtung Telefonzelle Klingenstrasse war auch Richtung Müngstener Eisenbahnbrücke, die höchste Deutschlands, 110 Meter hoch. Wo man all den ganzen Scheiß unter sich lassen kann. Die Verwüstungen. Die inneren Debakel..

Als ich die Telefonzelle erreichte, ein in der Dunkelheit erstrahlendes gelbes Juwel, hatte ich kaum noch Kraft in den Beinen. Ich zog mühsam die Tür auf, und legte die Brieftasche auf dem Fernsprecher ab. Ich fand ein einziges 50 Cent-Stück. Der Rest war unbrauchbares Kupfergeld. Ich hatte einen einzigen Schuss frei. Und dann fand ich den Zettel mit den Telefonnummern nicht. Da waren Dutzende kleiner Zettel in der Brieftasche, aber nicht der Zettel, auf dem die Telefonnummern verzeichnet waren. Ich hatte ihn zu Hause liegen lassen. Ich war zu geschlaucht, um Scheiße zu brüllen. Wie betäubt versuchte ich mich an Angelos Handynummer zu erinnern. Er wohnte nicht weit von der Klingenstrasse. Er war der einzige, der mir einfiel, der um diese Zeit ans Telefon ging und eventuell was herausrücken konnte, auf Kommi.

Ich warf das 50 Cent-Stück ein. Probierte einige Nummern, die mir irgendwie bekannt vorkamen, aber ich hatte dauernd einen Zahlendreher drin. Ich kriegte es einfach nicht hin. Bevor es zum Anschluss kam, drückte ich nach vier oder fünf Freizeichen schnell die Gabel nieder, damit nichts flöten ging von den 50 Cent.

Und dann versuchte ich es mit der Nummer, die ich am ehesten für richtig hielt. Ich liess durchklingeln.. Es hob jemand ab. Halb zwei in der Nacht. Eine unbekannte weibliche Stimme. Kein Angelo.

“Schuldigung”, flüsterte ich und legte sofort auf. 20 Cent waren damit futsch, waren runtertelefoniert. Für nichts! Ich bekam diese scheiß Handy-Nummer nicht zusammen! Aber schuldigung sagen zu irgendeiner beschissenen Tussi, die du nicht kennst, das geht, du Pisser!

Plötzlich fiel mir Ringo ein.. Ringo hatte Handy und Festnetzanschluss. Ich hatte ihn lange nicht gesehen, vielleicht ein halbes Jahr. Wir sind gemeinsam aufgewachsen, in den späten 60ern. Eine Menge Leute sind damals gemeinsam aufgewachsen. Und auch wenn ich mich an Ringos Handy-Nummer nicht erinnerte, seine Festnetznummer stand wie eine 1 auf meinem inneren Display.

Einige Tage zuvor hatte ich noch seine Ex getroffen, die kleine Simone. Sie meinte, dass Ringo aus Angst vor der Schmiere kaum noch ans Telefon ging.

Nach dem zweiten Läuten hob er ab. “Jaa..?”

“Ich bin’s”, schnappte ich auf, tonlos, als wäre meine Stimme in einen Industriestaubsauger geraten.

“Wie siehts aus.. kannst du mir.. weiterhelfen?”

Ringo brauchte einen Moment, um meine Stimme zu entziffern.

„Das bist du.., Glumm, oder? Alter, bei mir siehts auch nicht gut aus.”

Ringo atmete schwer. Noch 10 Cent.

“Hör zu, Ringo. Mir gehts dreckig. Ich weiß nicht, wie ich über die Nacht kommen soll. Ich brauch.. nicht viel.”

Ringo schwenkte um.

“Okay. Komm vorbei. Aber mach schnell.”

“Ich beeil mich. Aber ich bin zu Fuß unterwegs. Ne halbe Stunde brauch ich.”

“Mach hin. Ich hab ne Schlaftablette drin.”

Klick. Weg war er. Ich packte die Brieftasche ein und schlich los. Vollmond. Es war eiskalt, ich fror und schwitzte abwechselnd, dann gleichzeitig, und zuletzt konnte ich es kaum mehr auseinanderhalten, ob ich schwitzte oder fror, es war eine einzige Plackerei. Meine Augen hielten kaum die Lichter aus, das grelle Licht der Reklamen und Straßenlaternen. Ich nahm den Umweg über den dunklen alten Güterbahnhof.

Schneefall setzte ein. Vor lauter Schwäche kriegte ich kaum noch einen Fuß vor den anderen gesetzt. Ein Gefühl in den Beinen, als wären die Adern und Venen mit flüssigem Beton ausgespritzt. Ich lehnte mich an einen Bauzaun, hielt mich fest. Mein Puls raste, als würde ich Schläge von innen einstecken. Ein Taxi fuhr im Schritttempo vorüber. Der Fahrer glotzte rüber zu mir. Hoffentlich glotzt der auch noch, wenn ich gleich umkippe, dachte ich. Er kam zum Stehen. Ich sah den Schneefall im Scheinweerferlicht. Ein überaus ruhiger Moment der totalen Schwäche. Der Wagen fuhr langsam weiter. Ich stolperte durch den fallenden Schnee, die Arme vor der Brust verschränkt. Ob Ringo überhaupt noch wach war, so bräsig, wie er geklungen hatte? Ob mein Klingeln ihn aufwecken konnte? REVOL las ich an einer Wand vor den alten Güterhallen. REVOL, als hätte jemand REVOLTE sprayen wollen, doch noch vorm TE erschien die Bahnpolizei.

Glück gehabt. Ringo öffnete in Unterhose und grünem OP-Hemd. „Schließ die Tür ab“, sagte er nur knapp, der Schlüssel steckte von innen. Er ging vor, auf langen dünnen Beinen. Seine Nase lief.

„Mitten in der Nacht.. Alter, dir muss es ja übel gehn..“

Seine Bude war überhitzt wie ein Mutterleib, wie immer, und seit Tagen nicht gelüftet. Aber aufgeräumt. Alles war an seinem Platz. Ringo war penibel. Und er war immer echt. Man hatte bei ihm nie das Gefühl, dass er einem etwas vormachte. Er war geradeaus.

„Wo ist dein Hund?“ fragte er.

„Hab ich zuhause gelassen.“

„Gut. Was ist los?“

„Ich könnt kotzen vor Knochenschwäche“, sagte ich. Ein Gefühl, als würde man mit Mitte 30 plötzlich noch einmal wachsen. Ich erzählte ihm, was los war. Was ich verbrochen hatte.

Er konnte es kaum glauben.

„Alter! Du nimmst Subutex auf Reste von Metha..! Wie scheiße bist du denn drauf!? Ich hab mal auf Subutex so die Panik gekriegt, ich hab mich bekotzt und beschissen, so derb bin ich abgefahren.“ Ringo wurde laut. Wunderbar laut. Was ich jetzt gut gebrauchen konnte, war eine Prise Heroin und ein steifbeiniger lauter Ringo. Er baute sich so steifbeinig vor mir auf. „Ich war die ganze Nacht nur am Kotzen, Alter! Und weil ich vorher Rotwein gesoffen hatte, war das ganze Scheißhaus eine einzige blutrote Pfütze, als wär ein Ochse ausgeblutet, Alter. Subutex auf Metha. Wie schräg bist du denn drauf?“

Er setzte sich an den gläsernen Schreibtisch, auf dem sein Notebook stand, und fischte ein Säckchen Heroin aus der Schublade.

„Ich bin blank“, sagte ich vorsichtshalber und nahm Platz.

„Kein Thema, Alter.. .“ Ringo zog mit der Rasierklinge eine Line über die Glasplatte. „Hier.. rüssel das erst mal weg. Dann gucken wir weiter. Aber so dolle bin ich auch nicht bepackt. Heut Mittag hat mich der Kruse fast leer gekauft.“

Er knallte sich aufs Bett. Der Fernseher lief. Eine DVD.

„Ausser Atem, Alter. Das Original.. mit Belmondo.“

Ich saß unentschlossen vor dem Pulver. Wusste nicht, ob ich es wagen sollte. Wenn es stimmte, was man sagte, wurde ein Subutexentzug durch die Beigabe von Heroin nur noch schlimmer.

„Was ist los, Alter?“ knurrte Ringo, die Augen auf Halbmast. „Nimm doch erst mal die Hälfte.. oder ein Drittel, und warte ab, was passiert.“

Wie immer hatte Ringo sich nicht lumpen lassen. Er war einer der ganz wenigen großzügigen Junkies. Er liebte es, großzügig zu sein. Was er mir da gestreut hatte, hätte auf der Platte locker einen Fuffie gebracht. Ringo war eine Klasse für sich. Ich kannte ihn von der Grundschule, wie waren in die gleiche Klasse gegangen. Grundschule Klauberg, Klassenlehrerin Frau Ringfeld. Auf Klassenfotos, auf dem Schulhof aufgenommen, schaut er drein wie ein Bösewicht mit langen Zähnen. Noch heute zeigte sich Zahnfleisch in der Größe Belgiens und ein Satz brandneuer Teleskopzähne, wenn Ringo lachte. Er pendelte täglich mit der S-Bahn nach Düsseldorf, wo er einen gut dotierten Bildschirmjob ergattert hatte.

„Wir sind Übriggebliebene“, hatte er einmal zu mir gemeint, als wir in der Früh mit dem Zug Richtung Düsseldorf unterwegs waren, wobei ich schon in Ohligs ausstieg, „nichts als Übriggebliebene. Ich fühle mich schon wie mein Opa, der aus dem Krieg erzählt, wenn ich bei meinem Psychiater sitze und über Heroin rede.“

Ich trippelte unruhig durch die Bude. Machte Halt vor der Sammlung kleiner Hieronymus Bosch-Figuren, die Ringo an einer ganz bestimmten Tankstelle in Rotterdam zu kaufen pflegte. Pocket Art. Der blaue Flötenbläser. Zurück zum Schreibtisch. Den Strohhalm in die Nase. Den Strohhalm wieder weg  Es ging hin und her, ohne dass ich das Heroin anrührte.

„Alter, du machst mich wahnsinnig!“

Ringo bot mir Schnaps aus der großen Pulle an.

„Hier, Artilleriefeuer, Alter. Ich dachte erst, das wär Beerenwein, du weißt schon, so ne laue Nummer, aber Teufel auch, vergiss es, das Zeugs ist gut, das tut es. Kommt sogar dem ziemlich nahe, warum ich irgendwann das Jägermeistersaufen angefangen hab.“

„Nee, keinen Schnaps. Bloß nicht.“

„Also, langsam werde ich böse. Ich streu dir ne schöne Nase – du traust dich nicht. Ich biete dir Artilleriefeuer an – willst du auch nicht. Mann, warum holst du mich überhaupt mitten in der Nacht aus dem Bett??“

Ich sah Ringo an, nahm den Strohhalm und sniefte die Straße in einem einzigen Haps weg.

„So kenn ich dich“, wieherte Ringo. „Mit dem dicken Rüssel, Alter..!“

Die nächsten zwei Stunden lag Ringo im Bett und wieherte und plauderte aus seinem Krieg, während ich gegenüber auf dem schwarzen Ledersofa lag und ununterbrochen Rad fuhr, so sehr zuckten und krampften meine Beine. Nur ganz allmählich wurde mir wärmer, stellte die Nase das Laufen von Rotze ein. Von wegen, Heroin machte alles nur schlimmer.. Ich war endlich wieder auf dem Weg, normal zu werden. Ich versuchte ein bisschen zu schlafen. Ringo pirschte sich leise zu mir rüber und deckte mich mit einer Baumwolldecke zu. Er legte eine CD mit Songs von Jonathan Richman auf, ganz leise. Ich war gerührt, wie sehr er sich um mich bemühte, aber pennen konnte ich nicht. Ich saß bald wieder auf dem Sofa – und strampelte.

Um fünf in der Früh ging es mir endlich besser. Wir teilten uns Ringos Bett und guckten zusammen Ausser Atem, wo Belmondo in einer Szene ebenfalls im Bett sitzt, nur mit Unterhose und Hut bekleidet.

“Der zieht sich morgens immer den Hut auf, bevor er im Bett telefoniert”, johlte Ringo, der sich gern schick machte.

“Das Schlimmste im Leben ist Feigheit”, sagt Belmondo zu seiner amerikanischen Geliebten und nuckelt an einer Mais-Zigarette. Dann steht er auf und wechselt den Hut gegen ein kariertes Tweed-Käppi.

“Da, cool!” rief Ringo. “Alter!”

Für Ringo (1961-2007)

 

19 Gedanken zu „Nur ein paar dumme Stunden *

  1. Gut geschrieben, Meister. Jetzt, wo ich wieder atmen kann bleibt nur noch zu sagen: gut dass ich den „Affen“ nicht kenne. Gut, dass der Kelch an mir vorüber ging. Hatte nur dran genippt, das hat mir gereicht.

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  2. Pingback: Ringo « The Glumm

  3. Hallo glummi,
    da bist du aber schwer an den hacken von richard brautigam., ken kesey. und charles bukowski.

    Sehr dicht und einfühlsam und vor allen dingen schade um ringo.
    einen fuffi stand-up-mässig mal eben so raus-zu-tun: respekt.

    gruss
    Jens

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  4. Pingback: 2011 in review « Glumm

  5. Das klingt logisch.Ich wußte nicht,daß Susanne Erfahrungen mit Opiaten gemacht hat.ich hab gehört,daß man sich mit Subotex wesentlich leichter runterdosieren kann als mit Metha,aber ich weiß genau,daß ich denselben Fehler machen würde wie Du,keine 36 Stunden warten könnte.als in den 90ern Opiatblocker auf dem Markt kamen,experimentierte unser Codeinarzt völlig verantwortungslos damit rum.er empfahl Hussi es mal zu probieren,von 36 oder auch nur 4 Stunden erwähnte er nichts.Hussi knallte sich nachmittags noch sein letztes Gramm Schore weg,um.dann nachts die Blocker zu schlucken,ich glaube es war Subotex.Hussi ist nicht der Typ,der übertreibt,deshalb glaube ich ihm.er erzälte,daß sein Körper vollkommen außer Kontrolle geriet.er spritzte z.B.dreimal ab,ohne seinen Schwanz überhaupt berührt zu haben,hatte mit Orgasmus natürlich nichts zutun.er hatte Todesangst,klingelte nachts auch den Superdoc aus dem Bett,der völlig hilflos und hinterher froh war,daß Hussi keine Schäden davongetragen hatte.im Knast ist es so,daß jeder cleane Knasti Subotex Schore bevorzugt.sie hacken eine Tablette klein und machen sich daraus mehrere kleine Näschen.eine soll viel mehr knallen als die selbe Dosis Heroin und im Endeffekt ist es auch viel billiger.ich hab mit Subotex keine Erfahrung gemacht.

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  6. Ich faß es einfach nicht,der Text ist gelöscht und ist nicht gesendet.Glaub mir,im Vergleich zu mir bist Du ein Genie,was Handy-oder PC-Technik angeht.da schnall ich rein gar nichts.muß jetzt weg,schreib Dir später.LG

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  7. Sau geil geschrieben 🙂 endlich mal jemand der mich versteht,und das mit einem grandiosen Humor.Ich werde die paar dummen ,jetzt noch 11 1/2 stunden bis zum Doc auch noch irgendwie rumkriegen.

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  8. Pingback: Heroinsucht und Substitution – Ein Erfahrungsbericht | meinedrogenpolitik

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