Heroinrauchen

In der Szene, in der ich mich in den Neunzigern bewegte, fixten nur wenige, das Pulver wurde geraucht und geschnupft. Wir hatten keine Lust mit einem Loch im Arm durch die Gegend zu laufen. Wir wollten breit sein, und trotzdem gut aussehen.

Wir wollten keine Fixer sein.

Wir hatten kein Interesse, bei Anbruch der Dunkelheit mit einem Packen blutbesudelter Pumpen zur Restmülltonne zu schleichen, wir wollten im Sommer kurzärmelige T-Shirts tragen können, ohne Blicke zu kassieren. Wir hatten keine Lust auf Wandervenen, Hepatitis und HIV, und niemand von uns lungerte länger als nötig auf der Platte herum, da, wo die offensichtlich Fertigen im Pulk zusammenstanden und Fellpflege betrieben.

Hätte es außerhalb der Stadt ein Baggerloch mit Sandstrand gegeben, wir wären die Beach Boys auf Heroin gewesen. Es gab ein Baggerloch außerhalb der Stadt, es gab mehrere Baggerlöcher außerhalb der Stadt, mit Sandstrand: Wir WAREN die Beach Boys auf Heroin: braungebrannt, mit stecknadelkopfkleinen Pupillen und nachtleuchtenden Frisbeescheiben.

(Ich bin mit den Kriegserzählungen meines Vaters aufgewachsen. 1944 gehörte er als 17jähriger zu Hitlers letztem Aufgebot. Und wie mein Vater als Melder hinter den feindlichen Linien agierte und dem Gemetzel an der Front ausweichen konnte, so ging ich während meiner Drogenkarriere der Einwegspritze aus dem Weg, der Maschinenpistole der Drogenszene. Ich rauchte und sniefte das Pulver in nicht haushaltsüblichen Mengen, injizierte es aber nicht ein einziges Mal, ich verweigerte mich der MP. Ich agierte wie Vater in geschützter zweiter Reihe.)

Wir waren Ende zwanzig, als wir Anfang der 90er auf harte Drogen umstiegen, wir wollten hauptsächlich unsere Ruhe haben. Wir hatten unsere Jugend verkifft und versoffen und dann, eines Tages, wachten wir in einer großen konzertierten Aktion verkatert auf und wussten nicht mehr, was jetzt noch kommen sollte. Sogar die Mauer war weg, die ganze dämliche DDR war tot.. Von diesem Moment an dauerte es nicht mehr lange, bis wir süchtig nach Heroin wurden. Wir verabschiedeten uns von gesellschaftlichen Gepflogenheiten und lebten im Paralleluniversum Morphin. Wenn ich gelegentlich hinüberschaute zu den normalen Leuten, dachte ich, na Moment, so viel anders ist das auch nicht, wie wir leben. Die richtig wilden turbulenten Sachen, die man mit zwanzig auf Droge macht, sind eine Dekade später längst passé. Nur wenn ausnahmsweise gutes Material ins Haus steht, flackert die alte Euphorie  vielleicht noch mal auf, ein kurzfristiges Vergnügen, bis die ganze Mischpoke mit dem Schädel auf die Tischkante knallt und bräsig wegpennt. Ganz normales Stammtischverhalten.

*

Die Wirkung von Heroin, Ende des 19. Jahrhunderts von Bayer in der Nachbarstadt Wuppertal entwickelt, als Hustenmittel, („vorzügliches Sedativum!“), lässt sich am ehesten mit dem erwärmten Verstreichen von Zeit vergleichen. Oder wie mein alter Kumpan Karlos es einmal zusammenfasste, in seinen eigenen Worten:

„Heroin, das ist innerlich warm am Pennen.“

Ganz normales Stammesverhalten. Und mehr ist es eigentlich auch nicht, das Wuppertaler Heroin. Und Methadon? Wurde in Frankfurt/Main entwickelt. In der Nazizeit, wie man hört. Diese ganze synthetische und halbsynthetische Verwurstung von Opium ist eine durch und durch deutsche Geschichte. Heroin ist deutsches Stubenpulver mit afghanischen Zutaten und eine durchgehende Ausnahmesituation. Heroin ist weit weg von allem, was du sonst so kennst an Drogen. Es umfängt und durchdringt dich wie die Luft, die du atmest. Es lebt in dir. Heroin ist ein Lebewesen. Heroin ist der Weißclown unter den harten Drogen, über den niemand so recht lachen kann, weil er in der Seele tieftraurig ist, schwarz wie Tinte.

Heroinsüchtige sind Showstars, die ihre Bühne knallhart nach innen zimmern. Es finden die großartigsten Gigs statt, doch niemand schaut hin, es feiert niemand mit. Es sind hermetisch abgeriegelte Seelenereignisse ohne Publikum – unbefriedigend, bodenlos, zwanghaft. Man begibt sich freiwillig in den härtesten Knast der Welt, um dem Leben zu entkommen. Und zuletzt, ganz am Ende, wenn der Schwung endlich dahin ist, bleibt auch dein Ego-Publikum weg und die Seele erstarrt in Gewöhnung.

Heroinsüchtige sind Gläubige, die von früh bis spät einem Gift hinterherjagen, von dem sie sich nichts als Entspannung und WÄRME versprechen. MENSCHLICHE WÄRME. SUPERTURBOWÄRME.

Gott.

„Alle Heroinsüchtigen haben ein tiefes Trauma, und genau diese Menschen steckt man ins Gefängnis.“ (Kanadischer Sucht-Arzt). Junkies werden für etwas kriminalisiert, was nur sie selbst etwas angeht. Menschen, die Drogen nehmen, wollen nichts anderes, als sich eine Weile vom Leben zu verabschieden. Was geht es den Staat oder andere Menschen an, wann ich mich für eine Weile von mir selbst verabschiede, welche Drogen ich dafür benutze, welche nicht. Synthetisch und halbsynthetisch hergestellte Wärme ist Privatsache und geht niemanden etwas an, solange ich damit nur mir selbst schade.

Würde Jesus heute auf der Erde wandeln und predigen, er nähme sich der Drogenabhängigen an, so wie er sich früher den Prostituierten und Bettlern zuwandte. Niemand ist so sehr auf der Suche nach Gott wie ein Drogensüchtiger, und niemand fällt damit so schwer auf die Schnauze und vergeigt sein kleines unstetes Leben.

„Heroinsüchtige rächen ihre Geburt“, sagte sie Gräfin einmal sehr weise.

Unter dem Einfluss von Heroin kommst du ähnlich zur Ruhe wie in der Fruchtblase. Du sabberst still vor dich hin, wie in einer Nährlösung, Däumchen lutschend. Drogensüchtige ehren die Mutter bis zur Selbstaufgabe: So nah kommst du einem anderen Menschen niemals wieder, wie in den ersten neun Monaten in der Fruchtblase. Allein die Möglichkeit, in einem anderen Leib aufzuwachsen, ihn als Obdach zu nutzen, als Brutstätte, ist so phänomenal, dass wir unser ganzes restliches Leben danach trachten, diese Wärme, dieses Feuer, diesen Schutz der Mutter NOCH EINMAL zu spüren.

Das ist Heroin.

*

Heroin ist eine dieser Geschichten, wo du ziemlich genau weißt, wie es endet, wenn du damit anfängst, und du tust es trotzdem. (Eine Weile zierst du dich noch, doch wie groß ist die Freude, wenn man seiner Gier schließlich nachgibt.) Du gibst dich der Sucht hin, mit diesem höhnischen Gefühl, ihr könnt mich alle mal, ich geh jetzt zu meiner Geliebten, da könnt ihr tausend Mal sagen, sie tut dir nicht gut. Die führt dich in den Ruin. Die zieht dich ab, das ist ne linke Tante. Zehntausend Mal. Das Blut, ausstaffiert mit frischem Stoff, rauscht lauter als jeder Einwand. Und dass Heroin unecht ist, dass Heroin bloß gestohlener Mut ist, das geht einem erst später auf.

(aus  Fußgängerzone 1989)

*

Ich lernte Toni kennen, einen Italiener. Noch so ein verdammter Schlaumeier. Er machte eine Ausbildung zum Werkzeugmacher. Lief den ganzen Tag im Blaumann durch die Gegend, selbst in seiner Freizeit und erst recht beim Checken. Der Blaumann war ihm die perfekte Tarnung. Wer beobachtet schon einen Handwerker, meinte Toni, der einem anderen Kerl die Hand gibt, wenn man sich zufällig auf der Strasse begegnet. Dass dabei ein Heroin-Bubble gegen Drogengeld eingetauscht wird, ja mein Gott, Herr Vorsitzender, das konnte ja nun wirklich niemand ahnen.

Toni lebte mit Gina, einer Italienerin, und ihren zwei kleinen Kindern in einer heruntergekommenen Sozialwohnung, bei deren Betreten mich jedes Mal das Gefühl überkam, in einen Erdbunker hinabzusteigen, ins dunkle Verließ von Ali Baba. Ein bisschen schämten sich die beiden, in dieser Bude zu hausen, auf nicht mal anderthalb Zimmern und einem Klo, das diesen Namen nicht verdiente. Es bestand aus einem Wassereimer, der halb gefüllt oben hinterm WC hing und mittels einer Strippe aktiviert werden musste, um den Pott zu fluten. Kleine Geschäfte gingen auf diese Weise runter, bei großen Geschäften musste man schon mal mit einem Stock nachhelfen. Es war jedes Mal eine Stippvisite in der Dritten Welt, bei Toni und Gina Stoff zu kaufen. Wer spät abends kam, musste leise sein, weil die Kinder schon schliefen, also saß man um den Tisch herum und lauschte schweigend Radio Monte Carlo.

Fünfzehn Jahre später sah ich ihn auf der Strasse wieder, wir fielen uns in die Arme. Es regnete, wir gingen ein paar gemeinsame Schritte unterm Regenschirm, wie Brüder. Er war rasiert, er war schlank, er war clean. Er sah große Klasse aus. Dass wir nicht kurz Volare anstimmten, Cantare, war alles. Obwohl ich mich aus der Szene größtenteils herausgezogen hatte, waren die meisten Leute, die mich grüßten, wenn ich tagsüber durch die Stadt ging, immer noch Junkies. Was auch daran lag, dass andere Leute tagsüber gar nicht die Zeit haben, durch die Stadt zu streunen und Leute zu grüßen, die man lange nicht gesehen hat. Einem Junkie begegnen, den man lange nicht gesehen hat, ist wie ein Treffen unter alten Arbeitskollegen. Man hat viel gemeinsame Zeit in derselben Firma verbracht.

“Sag mal, was macht eigentlich der Lange, der.. Dings, der.. wie hieß er noch..? Der lange.. äh..?” fragte ich Toni.

“Der lange Stan..? Ist längst tot.”

“Der lange Stan ist auch tot? Im Ernst..? Seit wann?”

“Na, den hat man doch direkt vorm Parkhaus gefunden, die Pumpe noch im Arm. Gegenüber von den Bullen. Ist aber schon lange her.“

„Wie lange schon?“

„Wie lange der schon tot ist?“

„Ja.“

„Keine Ahnung. Ein halbes Jahr.”

Die alten Knaben starben wie die Fliegen. Selbst die zähesten Cracks gaben den Geist auf. Jahrzehntelang malträtiert, machten ihre inneren Organe schlapp, Dominosteinen gleich fielen sie nacheinander um, plopp plopp. Doppelplopp.

„Ist mir gar nicht aufgefallen, dass der lange Stan tot ist“, sagte ich.

„Na, der saß ja auch die halbe Zeit im Bau.“

Tatsächlich ging es bei Stan rein und raus. Ein paar Monate Haft, ein paar Monate draussen, im fliegenden Wechsel. Der lange Stan. Ein redlicher Kleinkrimineller. Wenn er mit seinen langen Zotteln und Zahnreihen ohne Zähnen die Warenhäuser der Stadt betrat, schlugen alle Kaufhaushunde Alarm. Was Stan jedoch niemals davon abhielt, umgehend die Parfüm-Abteilung aufzusuchen, mit  hängenden Manteltaschen. Der lange Stan, die dreiste Notwendigkeit, die personifizierte Platte, der Mann, der niemals einen Hehl aus seinem Appetit auf harte Drogen gemacht hatte und stets geradeaus gewesen war.

Als ich ihn das letzte Mal traf, war Stan gerade aus der Haft entlassen worden und auf dem Weg zu seiner Stammkundschaft in den Kneipen rund um den Neumarkt, die sich aufgrund Stans selbstlosem Warenhaus-Einsatz auch mal einen Flakon fürs Weib daheim leisten konnte.

Ich fragte Stan, wie es geht und so. Ob er eine Wohnung habe, ob er im Methadon-Programm untergekommen sei. Metha? Bloß nicht, knurrte Stan, den Rucksack voller Aluminiumfolie zum Heroinrauchen, und dass er absolut keinen Nerv auf Methadon habe und lieber beim Originalstoff bleibe. Auch wenn das Heroinrauchen von Alu-Folie auch nicht ohne war. Beim Blowen löst sich das Aluminium und setzt sich in der Lunge fort.

„Ich hab ein einziges Mal im Bau einen Metha-Affen geschoben, seitdem hab ich Respekt davor. Das brauche ich nicht noch mal. Das war der härteste Entzug, den ich je durchgemacht hab.“

Eines aber trieb Stan, eins fünfundneunzig lang und Beine dünn wie Zündhölzer, die Zornesröte ins Gesicht. Im Büro des Gefängnisarztes hatte er kurz vor der Entlassung heimlich einen Blick in seine Akten werfen können und dabei etwas von einer irreversiblen Absenkung des Brustkorbs sowie vom Borderline-Syndrom gelesen, schwerer Persönlichkeitsstörung.

“Ich und Borderline..??! Nur weil ich seit dreißig Jahren saufe und drogensüchtig bin? Wie scheiße sind die denn drauf??!”

Toni und ich lachten noch über die kleine Anekdote, als wir uns Ecke Cronenberger Strasse verabschiedeten, zurück in den Regen.

Das Problem bei Leuten, die einmal auf Heroin waren: Die Erinnerung an die unvergleichlich tiefe Entspannung wird man nie wieder los. Es bleibt ein Riesenmöbel in der süchtigen Seele, sperrig und flauschig zugleich. Man kann noch so einen Lauf haben, noch so zufrieden sein, ein Ex-Junkie ist niemals davor gefeit, dem kleinen Teufel nachzugeben, der ihm auflauert und einflüstert, he, mein Freund, weißt du noch, erinnerst du dich nicht mehr an den krönenden Kick, der alles in den Schatten stellte?

Als dir der Stoff den Rücken hochkroch wie eine warme freundliche Schlange?

Weißt du nicht mehr, wie es war, wenn dir nach dem Kick der Sabber aus den Mundwinkeln lief, war das nicht die reine und unschuldige Wollust? Der Höhepunkt deiner Existenz? Mach es noch mal, Junge. Nur noch einmal..

Und dann macht man es noch einmal.

*

Es gibt ein Band zwischen allen Junkies dieser Welt. Der Süchtige ist Teil einer großen Bewegung, man ist Mitspieler in einer niemals endenden Tragikomödie, auch wenn Heroinsüchtige sich untereinander aufs niederträchtigste abziehen und bestehlen, auch wenn sie sich gegenseitig für eine Messerspitze Pulver an den Galgen bringen.

Als vor Jahren der Hurrikan Katrina über New Orleans kam und erste Filmberichte von Menschen zu sehen waren, die bis zum Hals im Wasser steckten, in einer Stadt, die jeglicher Infrastruktur beraubt war, galt mein erster Gedanke den Junkies. Mein Gott, dachte ich, wie sollen die Süchtigen über die Runden kommen, wenn Straßen und Häuser und Telefonleitungen zerstört sind, wenn Arztpraxen und Apotheken und die Treffpunkte der Dealer nicht mehr existieren.

Weil sich das Leben größtenteils auf illegalem Terrain abspielt, sind Junkies auf feste Strukturen angewiesen. Ein Junkie kann nicht mal eben die Stadt wechseln. Ohne seine Leute ist er aufgeschmissen. Ein Junkie braucht Eingeweihte. Ein Junkie ist der gefesselte Mensch.

Ein Junkie hat nur ein Kapital: seine Sucht, und er setzt sie bis zum äußersten ein.

*

Ende der Achtzigerjahre grassierte eine neue Mode. Durch die Beigabe von Laufmitteln wurde Heroin plötzlich rauchfähig und die Leute begannen, sich die Lunge zu ruinieren. Was weniger am Stoff lag, dessen Wirkstoffgehalt selten 15 % überstieg, sondern an Streckmitteln und der beschichteten Aluminiumfolie, auf der das Pulver erhitzt und geschmolzen wird. Zwar flämmen die gewissenhaften unter den Süchtigen die Folie vor dem Rauchen ab, um die schädlichen Stoffe so gut es geht auszumerzen, doch dazu haben die meisten User weder Lust noch Muße. Man ist einfach zu scharf aufs Breitwerden, um zuvor eine solch umständliche Lahme Enten-Aktion einzuschieben, die womöglich eine halbe Minute und länger in Anspruch nimmt. Eine halbe Minute weniger breit ist eine halbe Minute weniger breit. Noch Fragen.

Es gab die ganz ungeduldigen Blower, die sich gleich ein halbes Gramm aufs Blech packten, die richtig kleine erdbraune Hügel bauten und das Feuerzeug starteten. Sobald das Pulver sich nun auf der Alufolie verflüssigt und zur dunkelbraunen, nach bitteren Mandeln riechenden Pampe wird, lässt man es heiß über die Folie hin und her rollen, vor und zurück, wie eine Schiffsschaukel auf der Kirmes, immer verfolgt vom Mundröhrchen, durch das der Heroinqualm eingezogen wird, ein Ritual, das weltweit als “den Drachen jagen” bekannt geworden ist.

Drachenjäger sind ungeduldige Leute, die aber Geduld haben müssen, da solch eine Prozedur seine Zeit braucht bis zuletzt nur noch ein öliger Klecks Heroin übrigbleibt, der in einer gewaltigen Orgie von Rauch aufgeht und sich in die Lunge frisst – ein wilder, zügelloser Moment, das ultimative Zumachen, das Erlegen des Opium-Drachens. Allein das Schreiben darüber und die Erinnerung lassen mich nach hinten wegkippen und lang aufschlagen.

Dann gab es die Punktraucher (Punktschweißer.) Punktraucher waren fleißige Wesen. Ringo war Punktraucher. Ringo hatte gerade zwei Jahre Haft wegen Dealerei abgesessen und jobbte nun in einem Elektronikfachmarkt. Er hatte was drauf, was Computer und Datenverarbeitung anging und ergatterte später einen guten Job in der IT-Branche. Dummerweise war Ringo aber auch der Ober-Süchtel aller mir bekannten Süchtel, woran er mit Mitte 40 auch elend zugrunde gehen sollte.

Ich traf ihn spät abends bei Kilian. Als alles schon zum Aufbruch bereit war, fiel mir eine Bahn Alufolie in die Augen, über und über mit rußig-schwarzen, kaum nagelkopfgroßen Punkten bedeckt. Sie lag direkt vor Ringo auf dem Tisch. Es sah nach einer ungeheuren Fleißarbeit aus. Vor lauter schwarzen Punkten war kaum noch die Aluminiumfolie zu erkennen.

„Was ist das denn..!?“

“Ringo ist Punktraucher”, krächzte Kilian, der Gastgeber. Er lag auf der Matratze, die er sich aus dem Schlafzimmer rübergeschoben hatte, und wartete nur noch darauf, dass wir endlich die Biege machten, er wollte allein sein. Es ging ihm nicht gut. Er war böse erkältet. Es war ein Witz: Da war Kilian bis zum Kragen voll mit Morphin, fing sich aber einen Schnupfen, der ihn fast aus den Pantinen haute.

“Hat der Glumm mal wieder nichts mitgekriegt, wa”, tönte Ringo und erklärte mir kurz das Wesen der Punktraucherei.

Man streute ein wenig Pulver aufs Blech, eine Messerspitze nur. Es war eine reine Vorsichtsmaßnahme. Beim Blowen größerer Mengen passierte es immer wieder, dass man den aufsteigenden Qualm nicht zu 100 % erwischte, dass etwas neben das Röhrchen geriet, wenn man den Drachen jagte. Was doppelt ärgerlich war. Zum einen landete der Qualm nicht in den Lungenbläschen, da, wo er hingehörte, zum anderen nicht im Röhrchen, das ebenfalls aus Aluminiumfolie angefertigt wurde, um das abgefangene Heroin nochmals rauchen zu können und den Kreislauf auf diese Art zu perfektionieren.

Die Punktraucherei war eine anstrengende Geschichte. Anstatt die Schore auf dem Blech fröhlich vor und zurück laufen zu lassen, hiess es beim Punktrauchen immer wieder von Neuem zu beginnen, die nächste Messerspitze aufzulegen. Es war die reinste Fließbandarbeit. Etwas für Stoiker. Tatsächlich war Ringo der einzige konsequente Punktraucher, der mir je unter die Augen gekommen ist, und selbst er gab das Schweißen nach einer Weile auf. Genau wie ich stieg er aufs altbewährte Schnupfen von Heroin um. Sniefen hat den Nachteil, dass die Schleimhäute das Material erst verarbeiten und weiterreichen müssen, bis es endlich im Zentrum der Sucht andockt, und bis dahin vergehen gut und gern zwanzig Minuten. Sniefen ist eine langsame, eher altmodische Angelegenheit, die aber einen entscheidenden Vorteil bietet: die Wirkung hält länger an als beim Blowen. Wenn die Raucher schon wieder an ihren Vorrat müssen, hängen die Sniefer noch entspannt im Sessel, den Schädel auf der Lehne. Hach, ja, Kinder – ist Sniefen nicht eine herrliche Angelegenheit? Das leckere Nasengetreide und das alles. Schade, dass ich es alles kotzeleid bin und schon vor Jahren aufgegeben habe.

*

Mehr Heroin

 

25 Gedanken zu „Heroinrauchen

  1. Pingback: in|ad|ae|qu|at : Litblogs.net – Lesezeichen 4 | 2011

  2. ahoi, glumm,….oder glimm, ich weiss nicht, ob ich die Tortur der Einloggung schaffe, schau ma mal, ( ich komm aus bayern ) trotzdem : ich bin auch seit 35 jahren Profi; ich finde deine Ergüsse super, das IST ( ! ! ) Kultur , du hast es drauf, die Dinge zu benennen, wie sie sind, es kommt an, aber leider sind die meisten Protagonisten in der Scene heutzutage sehr viel weniger ( ?! ) kreativ, belesen, gebildet, und / oder sensibel genug, den Witz unseres Tuns, und z.B. deiner Texte , zu verstehen.
    Ich würde mich freuen, mehr von dir zu hören.
    Augen auf, und durch !!
    Tuimo

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  3. Hi du, ich muss schon sagen,mit den sätzen hast du mir echt aus der seele gesprochen. Womit ich jetzt hauptsächlich die letzten sätze meine. Genauso ist es ja leider,habe dank der scheiss schore jetzt zum ersten mal im knast gesessen. 17 monate,bin erst seit Oktober draussen. Auch wenn ich finde,dass du das zeug ein bisschen in denn himmel hebst. Heroin. ist der teufel. Meinen sohn,meine top wohnung und meine adern habe ich durch das dreckzeug verloren. Na ja kannst ja mal was zurücktexten. lg Daniela

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  4. komisch..ich war jahrelang notorischer hügelraucher…
    geschnupft hab ich shore nie…aber ich habe verantwortungsvoll immer die folie abgeflämmt…gebracht hat´s für meine lungen aber trotzdem nix…ich huste mir heute noch die seele aus dem oberkörper…
    da fällt mir eine strophe aus einem lied ein:

    well, won’t you lend your lungs to me?
    mine are collapsing
    plant my feet and bitterly breathe
    up the time that’s passing.
    breath I’ll take and breath I’ll give
    pray the day ain’t poison
    stand among the ones that live
    in lonely indecision.

    lg

    flippy

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  5. NATÜRLICH einer meiner Lieblingstexte! Als ich 2006 in Therapie rückfällig wurde, rauchte ich mit nem halben Dutzend Blower, die alle aus Krefeld oder Aachen kamen. Die kannten nur Punktrauchen, unter denen war ich der Exot. Da ich aber schon seit drei Monaten clean war und eh nicht viel rauchen mußte um breitzuwerden, hab ich mich angepasst. Aber du hast recht, der Aufwand ist zu groß. Und das mit der Alu abflämmen, stimmt auch. Kam mehr als einmal vor, daß ich mir damit nicht genug Zeit genommen hab.
    Was auch faszinierend war, über zehn Jahre lang war ich nicht mehr erkältet gewesen. Dann war ich seit drei Wochen clean und ne Kehlkopfentzündung haute mich völlig aus den Socken. Eine Woche lag ich flach und hatte keine Stimme mehr. Und jetzt bin ich wieder zehn Jahre erkältungsfrei…

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  6. hab gestern Briefe gelesen-gesammelte werke und
    obwohl die Kiste aus Solingen stammte mit absender war der Kartong mir unheimlich
    nur ein kartong ohne alles
    nett verpackt mit zwei tüten von c und a
    irgendwann musste ich sie in augeschein nehmen
    die jetzt schon 1 jahr unter dem aussgesessenen alten Korbstuhl schlummerten und nicht
    gefragt wurden warum sie hier sind
    ich mein 1983
    selbst ein ungeöffneter Brief war dabei und zwei mit rote Hand versehne briefe
    das heisst nicht weitergeleitet.
    1983 genau
    Innenminister zimmermännchen hielt alle Süchtige für krimminelle Revoluzzer
    und die gehörten weg gesperrt
    hasch war noch schlimmer wie heroin
    wer konnte sich das leiste.
    wenn die letzte vene verhornt ein Plätzchen frei gibt zwischen den scorf Antillen
    scheisse ich find kein Loch mehr
    ein Brief von Tom
    einestages stolper ich über den Erdball und seh dich
    wo bist du etwa auch in Duisburg Auswahlanstalt?
    wir vermissen Dich und ein paar leute mögen dich
    hatte Mutter alles bewahrt
    ich hatte keine Ahnung ..
    hab aber nicht gewusst das da noch was war.

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  7. 33 mon.! Baby aber egal hätt ich auch nicht gemerkt , das war doch nur Däumchen drehn
    im Schlaf
    eines tages liefen wir uns da über den weg ,im runden Viereck der ausgetretenen pfaden zwischen dem Grün
    im Hof
    bei freigang ……-?
    ich sah ihn zuerst , er schien irgendwas zu checken und ich glaubte meinen Augen nicht ,es war der Tom so wie ihn Gott erschaffen
    er hatte sofort den Überblick und Connections..
    er konnte hier kaum einen kennen am ersten tag in der Runde
    wat machst du denn hier

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  8. Pingback: Heroin. Ein Frontbericht | glumm

  9. Hammer geschrieben!!!

    Ich wünsche allen die Kraft, jeden verdammten Tag aufs Neue „Nein“ zum H und „ja“ zum Leben zu sagen…

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