Die Crux unserer Tage

Ein Abend beim Italiener gilt als gelungen, wenn zum Absacker, sechs Pinchen Sambuca, die eingefleischten Lesben Olé, wie fahrn inn Puff nach Barceloonahhh! poltern.

Olé olé!

Ich hatte ein Loch im T-Shirt, oben an der Schulter.

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Es sind ja nicht die Sätze, die vor Kraft kaum laufen können und einem sofort ins Auge springen wie durchtrainierte Athleten, es sind eher die eingeschobenen kleinen Nebensätze, das Volk der cleveren kleinen Sherpas, die Unterstützer-Szene, die den ganzen Ballast trägt und der man zunächst, auch als Schreiber, zu wenig Beachtung schenkt, die aber den Ton einer Story vorgibt. Den Takt. Den Herzschlag. Den Blutzoll.

Genau das sind die Sätze.

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Mit einer der unheimlichsten Film-Szenen der Film-Geschichte endet Der Pate, Teil II. Jedes Mal, wenn der Film im Fernsehen wiederholt wird, schalte ich kurz vor dem Ende ein. Ich muss mir das Ende immer und immer wieder ansehen, wenn das Programm es so vorsieht für mich.

Die Szene: Der zunächst in Ungnade gefallene und dann von Clan-Chef Michael Corleone (scheinbar) wieder in die Familie aufgenommene Bruder Fredo fährt im Morgengrauen zum Angeln raus. Mit im Kahn sitzt Al, einer der Untergebenen des Mafiaclans, ein eher unscheinbarer Crack, der es gewohnt ist, still seinem Handwerk nachzugehen.

(Die Kamera ist nun abwechselnd im Bootshaus, wo Clan-Chef Michael Corleone zum Fenster hinausschaut, und draussen auf dem ruhigen See.)

Der Himmel um diese frühe Uhrzeit ist tief und betonschwer, im Hintergrund spielt die unheilvolle Musik von Ennio Morricone.

„Gebenedeit ist die Frucht deines Leibes..“, hört man Fredo beten, den Verräter, bevor ein vom Zuschauer ebenso erwarteter wie befürchteter einzelner Genickschuss übers Wasser peitscht. Der Kahn gerät ins Schaukeln, ein Vogel kreischt zwei unvergessliche Mal hintereinander, eng verwoben mit zwei dunklen Akkorden.

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Weisst du, warum dicke Menschen nicht gemocht werden? Weil es so offensichtlich ist, dass sie sich im Leben zuviel herausgenommen haben.

– Die Gräfin –

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Die meisten Leute können nicht gut zuhören, weil sie in Gedanken schon vorformulieren, was sie selber sagen wollen – das ist die Crux unserer Tage.

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Mit 50 hat man die Weltkarriere im allgemeinen schon hinter sich. Ich nicht. Wie immer liegt darin die Komik, und lauter Mißverständnisse.

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Sie verfolgt für ihr Leben gern TV-Serien, weil man dabei ausgiebig Gesichter studieren kann und nicht so tun muss, als höre man seinem Gegenüber zu, wo man es doch eigentlich nur auf diesen Krümel im Mundwinkel abgesehen hat.

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Im November letzten Jahres feierte Mutter ihren 83. Geburtstag in der St. Lukas Klinik. Wir hatten einen großen Tisch in der Cafeteria gedeckt und ein bisschen dekoriert. Während die Familie schon Platz nahm, fuhr ich mit dem Aufzug hoch zur Station, um Mutter abzuholen.

Auf dem Gang kam mir der Tod entgegen, ein Vorbote, ein junger Bursche, blond, keine zwanzig Jahre alt, völlig aufgelöst und verzweifelt. Er kam gerade von der selben Station, auf der auch Mutter lag. Er machte sich ganz dünn, hielt sich seitlich, nahe der Flurwand, wo ihn ausser mir niemand zu bemerken schien. In Situationen, wo das Leben sich plötzlich und unerwartet zum Drama verdichtet, versuche ich mich zu vergewissern, ob ich einen Zeugen habe. Einen Zeugen für das Erschrecken in seinem Gesicht, sein ebenso ton- wie bodenloses Schluchzen, und die Eile. Ich werde diesen Jungen nie wiedersehen, dachte ich. Er strebte der Wand entlang. Er bebte vor meinen Augen. Er floh von der Station, auf der Mutter lag. Ich klopfte nicht an. Sie saß im Rollstuhl und wartete bereits. Meine Schwester war mit ihr tags zuvor beim Krankenhaus-Coiffeur gewesen, sie sah richtig schick aus. Ein hübsch gemachtes Großmütterchen.

„Da bist du ja endlich.“

2 Gedanken zu „Die Crux unserer Tage

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