Schulschluss

Das letzte halbe Jahr ging ich nicht mehr hin. Ich hatte die Nase voll von der Anstalt. Ich war nicht versetzt worden in die 12. Klasse, eine ganz unnötige Geschichte, wegen einer 6 in Philosophie, einer 5 im Leistungskurs Bio sowie einer 5 in irgendeinem beknackten Nebenfach, Sozialkunde glaub ich.

Am Ende der Sommerferien versemmelte ich die Nachprüfung, wobei es gereicht hätte, in Bio auf 4 minus zu kommen, doch Vogel-Uli, der hagere Bio-Pauker, der mich auf den Tod nicht ausstehen konnte, („Glumm, Ihre ausgeprägte Ahnungslosigkeit erstaunt“), verweigerte mir das Upgrade, obwohl die begleitende Bio-Lehrerin später zu mir meinte, das wäre nicht nötig gewesen.

„Der Mann hätte Ihnen durchaus eine 4 geben können.“ Doch ihre Meinung blieb unmaßgeblich.

Das neue Schuljahr war von Anfang an ein Desaster.

In der neuen Klasse kam ich nicht zurecht, mir fehlten die bekannten Gesichter, die mich von der Sexta bis zur Obersekunda begleitet hatten, die neue Klasse konnte mit mir nichts anfangen, die Lehrer hassten mich für meine die Atmosphäre verpestende Passivität (Vogel-Uli), kurzum, nichts ging mehr, und ich nicht mehr hin.

Meine Eltern erfuhren nichts davon. Morgens weckte mich meine Mutter, wenn auch selten zur ersten Stunde. „Ich muss erst um zehn in die Schule“, behauptete ich frech, packte ein paar Schulsachen ein, nicht zu viele, damit die Tasche nicht zu schwer wurde, und machte mich auf die Socken. Die Zeit vertrödelte ich zum grössten Teil in der Stadt. Ich strich durch die Plattenabteilungen der Kaufhäuser, saß in den nahen Malteser Gründen. Ab zehn, halb elf war ich im Stonns Fuot, einer zweistöckigen winzigen Hardcorekneipe, gleich neben dem Tchibo. Ab und zu trank ich Bier, doch meist hockte ich einfach am Tresen und guckte zur Glastür hinaus. Ich wartete, dass Bekannte und Freunde kamen, ich plauderte mit James, dem vollbärtigen Wirt, und da auch ich eher schüchtern war, war nicht viel mit Plaudern. Ich beobachtete den dicken Hellmann, dessen fetter Hintern kaum auf den Hocker passte. Interessant dabei war besonders seine Arschritze, die sich wie eine Murmelbahn durch den Hosenboden schlängelte, wenn er mit dem Kopf auf der Theke eingepennt war und sein Hintern den engen Gang verstopfte.

An Silvester hatte mein Freund Pepe einmal einen Chinakracher in Hellmanns Schlitz gesteckt, als er eingepennt war, und es hätte nicht viel gefehlt, und der dicke Hintern wäre uns allen um die Ohren geflogen. Aber das war Silvester gewesen. Normalerweise war im Stonns nicht so viel los. Schon gar nicht am Vormittag. Eigentlich wartete ich nur darauf, dass es endlich Mittag wurde, Schulschluss, und ich nach Hause durfte.

Sobald ich ein bisschen was zu kiffen hatte, verdrückte ich mich ins Grüne. Einmal saß ich auf der großen Wiese, die Bauer Pott gehörte und Potts Wiese hiess. Von Potts Wiese aus hatte man einen grandiosen Panoramablick über die Wupperberge, bis rüber nach Wuppertal-Cronenberg und Remscheid. Ein warmer Wind strich durchs hohe Gras, Pferde schnaubten in der Nähe. Ich fühlte mich blass in der Sonne und seltsam frei. Ich holte ein Schulheft heraus und begann zu schreiben.

“Ringsum entblößen sich die Käfige..” schrieb ich, so begann das Gedicht. Das war die erste Zeile. Ich schaute auf. Das war der Tag, an dem ich beschloss, Dichter zu werden. Solingen bot für junge Dichter halbwegs ordentliches Anschauungsmaterial. Ein eher düsteres Pflaster, wo die Ortschaften Rüden heißen, Teufelsinsel, Werwolf. Oder Schwarze Pfähle. Der Kölner Alt-Komiker Konrad Adenauer nannte die Stadt einst das Sibirien Deutschlands. Der Menschenschlag ist geheimnisvoll, verschroben und misstrauisch. Gebell von fernen Höfen empfing von jeher jeden Fremden, der unangemeldet aufkreuzte, aus gutem Grund: Es konnte stets die Gendarmarie sein. In den verstreuten Tälern des Bergischen Landes hatte sich steckbrieflich gesuchtes Gesindel breit gemacht, das sich in den großen Städten an Rhein und Ruhr nicht mehr blicken lassen konnte, aus welchen Gründen auch immer.

Es ist dieses dunkle Erbe, das dem Bergischen Land bis heute zu schaffen macht. Wer die Region erstmals bereist, ist bald wie verhext vom welligen Zungenschlag der Einheimischen. Nicht umsonst nennt man das Bergische Land auch die Knautschzone des deutschen Dialekts, nirgends sonst werden auf engstem Raum so viele Varianten von Platt gesprochen. Die Landschaft ist verheißungsvoll englisch und brombeerprall, dunkel und gedämpft Die Bushaltestellen der Oberleitungsbusse tragen Namen wie Jammertal und Geilenberg, und gleich die nächste Ausstiegsmöglichkeit heißt:

Hoffnung.

Meine Eltern wussten nichts davon, dass ich nicht mehr zur Schule ging. Dass ich schon seit Monaten nicht mehr dagewesen war. Ich war volljährig, ich hatte meine Entschuldigungen eine Zeitlang selbst geschrieben, bevor es mir zu lästig wurde und ich auch das gelassen hatte. Als der graue Brief vom Gymnasium kam, fielen meine Eltern aus allen Wolken, schlugen hart auf. Warum hast du nie etwas gesagt? Warum bist du so ein Heimlichtuer geworden? Nimmst du Drogen? Was soll werden? Vielleicht ein Dichter, sagte ich. Ein Schreiber. SCHREIBEN? rief Vater. Er war nicht mal böse, es war nur, er hatte mich nicht verstanden. Vielleicht auch nicht, sagte ich. Vielleicht auch Trinker. Ich brauche erst mal Ferien. Ich fahre weg. Nach Portugal. An die Algarve. Wo es schön warm ist. Hier ist auch warm, sagte Mutter. Ja, aber nicht schön warm. Du redest Unfug, sagte Mutter. Karlos fährt mit, sagte ich. Und woher nimmst du das Geld? Wir haben einen Job, sagte ich, Karlos und ich. Bei Stahl Krebs. 6 Wochen lang aufpassen, dass man nicht versehentlich von durch die Halle schwingenden Stahlplatten zerquetscht wurde, die von ferngelenkten Hallenrobotern gelenkt wurde.

Als der Ferienjob um war, mussten wir den Mitarbeiterinnen im Büro versprechen, Postkarte von all den Orten zu schicken, die wir fortan besuchten wollten. Am nächsten Morgen sollte es losgehen. Treffpunkt elf Uhr in den Malteser Gründen. Karlos war schon lange aus der Schule raus und schlief bis mittags. Manchmal kam er den ganzen Tag nicht aus dem Bett und hörte Klaus Kinksi-Schallplatten in seiner verqualmten Mansarde. Es konnte losgehen. Am Nachmittag tauchte er endlich auf, ohne Rucksack, den hatte er nicht gefunden. Wir blieben sitzen in den Malteser Gründen, zwischen verbeulten Trinkern, und tranken. Eine Palette Karlsquell war die übliche Einheit, 24 Dosen Bier, die billigste Marke.

Wir lernten eine Menge schräger Figuren kennen, wie den zwei Meter großen Hennes. Ein herzensguter Penner um die Fünfzig, der noch das letzte Stückchen Fleischwurst mit dir teilte. Wenn er voll war, und er war dauernd voll, begann Hennes Lieder aus der Heimat zu schmettern und zu schunkeln. Er stammte von der Mosel, war auf Weinfesten groß geworden. Das mit dem Schunkeln wurde schnell zum Problem, weil er alle Mann mit sich in die Tiefe riss. Mehr als einmal purzelte alles wild durcheinander, Weinflaschen stürzten zu Boden und zerschellten, es gab Tränen und noch mehr Beulen.

Sein Pennplatz war irgendwo hinter Wermelskirchen, kilometerweit entfernt. Oft schaffte er es abends nicht bis zum Unterschlupf, weil kein Bus mehr fuhr und sich niemand erbarmte, ein besoffenes Riesenbaby mitzunehmen, das lallend am Strassenrand stand. Dann fiel er einfach um und schlief ein, wo auch immer er gerade umgefallen war.

Auch wenn Hennes die Pranken und das Kreuz eines Preisboxers hatte, er war lammfromm. Wenn er von seiner Kindheit erzählte, flennte er wie ein Bengel, der etwas angestellt hatte und nun der Mutter beichtete. Ich konnte nicht genug davon bekommen, ihn anzusehen. Er hatte große treue Hundeaugen und mochte es, die Leute in seine gewaltigen John Wayne-Arme zu schliessen und an sich zu drücken.

Uff, stöhnte Karlos und duckte sich gekonnt unter ihm weg.

Einmal zeichnete sich ein frischer Pissfleck auf Hennes‘ Hose ab, groß wie ein Basketball. Wisst ihr, warum Männer lauter Unfug machen? krächzte er besoffen. Warum soviel Unglück und Leid in der Welt ist? Weil alle Männer Weltmeister sein wollen! Keiner will Zweiter sein! Jeder ein Weltmeister!

Geschlossen prosteten wir dem Champ zu.

9 Gedanken zu „Schulschluss

  1. so wie es parallelwelten und parallellektüren gibt, so scheint es auch ein parallelschreiben zu geben.
    sie hüpfen gekonnt von motiv zu motiv, schlüpfen in die stoffe, die sie angehen, wenn sie auch jahrzehnte eines gelebten lebens auseinander liegen.
    den spagat merkt man den texten nicht an. alle sind originär, echte glumms. wie kann es auch anders sein. sie stempeln ihre erfahrungen ab, mit wörtern und sätzen, die nur ihnen unter die augen und fingerspitzen kommen.
    gut, dass sie die schule lassen mussten und dichter wurden: ahnungslosigkeit, freie zeit, und eine lust am wort – das waren die ingredienzien, wie ich ihren biografischen auslassungen entnehme.
    sehr schön wieder das kurze charakterporträt, diesmal von hennes, einem penner, der in sentenzen zu sprechen scheint.
    und doch warte ich darauf, dass sich der erzählfaden von der (zwirn-)rolle windet und ich mehr erfahre von ihren herzgeschichten. gruß, uwe

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  2. Pingback: Woanders – heute über Buchauswahl, Kamerawahl, Partnerwahl, Wohnortwahl und mehr « Herzdamengeschichten

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