Die Sackfalte

Bardolino, Sommer 1967. Zur Mittagszeit wurde es auf dem Campingplatz am Gardasee so bullig heiß, die Familie flüchtete sich in die Siesta. Nur Mutter hatte noch mit dem Abwasch zu tun. Mein Vater, schwarzhaarig und kräftig, ruhte unter einem alten Olivenbaum. Im Kofferradio leierten San-Remo-Schlager, so leise, als kämpften die Batterien ums Überleben, und da bemerkte ich es: Ein Stück Sack lugte aus Vaters Badehose. Bloß ein Fitzel, eingeklemmt zwischen dem Saum des Textils und seinem Oberschenkel. Das fand ich ungehörig. In hohem Maße nachlässig. Und es sah nicht sehr intelligent aus. Wie eine Bügelfalte, an der falschen Stelle.

Vater schlief. Er lag auf der Luftmatratze und schnoberte leise vor sich hin in der sengenden Mittagshitze Oberitaliens, er träumte und hatte nicht die geringste Ahnung, was da los war in seiner Buxe.

Angenommen, in diesem Moment wäre ein Reporter auf der Suche nach Sensationen auf dem Zeltplatz aufgetaucht und hätte mir ein Live-Mikrofon unter die Nase geschoben: Eine Frage, junger Mann, was finden Sie denn so furchtbar verboten an diesem Anblick? – ich schätze, ich hätte keine wirklich überzeugende Antwort parat gehabt.

Für sich genommen war es nur ein kleines Malheur, das mir unter die Augen gekommen war, nichts Besonderes. Spielkameraden passierte es, mir selbst passierte es, bloß: Wir waren kleine Jungs. Da gehörte es dazu, dass man sich den Hodensack einklemmte. Wir waren dauernd in Bewegung und turnten herum, da hatte das Hodensackeinklemmen ständig Saison. Aber bei einem erwachsenen Mann …? Einem erwachsenen Mann hatte der Sack nicht aus der Badehose zu flutschen, nicht mal die kleinste Sackfalte, das gehörte sich einfach nicht. Das war wie Finde den Fehler! – und ich hatte den Fehler gefunden, fertig, aus.

Zu den Absonderlichkeiten des Älterwerdens, zu den Dingen, an die man sich erst gewöhnen muss, wenn man allmählich erwachsen wird, gehört die Tatsache, dass man im Laufe der Zeit zu einem Abbild seines Vaters heranreift. Dass man bald selbst dieser eckige, in Teilen endo-mesomorphe weiße Körper sein wird, zu dem man als Pico halb bewundernd, halb ängstlich aufblickte.

Ich schämte mich so sehr für Vater, fast wäre ich zur Luftmatratze gerobbt und hätte die Badehose angehoben, ganz leicht nur, um der Schlange Gelegenheit zu geben, zurück in ihr Körbchen zu schlüpfen. Aber das war mir dann doch zu heikel. Angenommen, Vater würde in diesem Augenblick wach, und sein Ältester machte sich gerade an seinem Skrotum zu schaffen! Hinzu kam, dass mir das Geschlechtsteil eines erwachsenen Mannes insgesamt wie eine seltsam vorgelagerte Inselgruppe erschien, da wollte ich nicht an Land gehen. Nicht bei meinem Vater. Nicht 1967, in einem zum Zeltplatz umgebauten ehemaligen Olivenhain am Lago di Garda.

Was uns Jungs wirklich beschäftigte, war die Sacknaht. Wir konnten nicht genug davon bekommen, sie auszukundschaften: Exakt in der Mitte, wie von einer elektrischen Nähmaschine eingezogen, verbandelte sie zwei Hälften zu einem großen Ganzen.

Sack.

Eine präzise Fleißarbeit, rasiermesserscharf auf Kante genäht. Man konnte es förmlich hören, das Surren der Nähmaschinen auf den Entbindungsstationen. Das Schuften der Hilfskräfte, die im Akkord Überraschungs-Eier zusammensteckten, die statt mit dünner Schokolade mit Sackhaut umhüllt wurden. Es gab eine Menge zu besprechen für einen Pico wie mich.

Apropos besprechen – was war eigentlich mit Mutter?

Sie hatte doch sonst ihre Augen überall und griff ein, wenn Not am Mann war. Sie saß am Campingtisch und erledigte den Abwasch, bei 35 Grad im Schatten. Erst jetzt bemerkte ich ihr Schmunzeln. Jede Wette – sie hatte alles mitgekriegt. Meine Entdeckung, meine Überlegungen, Papas Sackfalte, sie hatte jedes Detail registriert und lächelte vor sich hin. Ich bekam einen Stich im Bauch und schaute schnell weg. Ich war sechs oder sieben Jahre alt, und ich war restlos bedient.

 

12 Gedanken zu „Die Sackfalte

  1. birkenweiher, die Umkleidekabine für jungs..hihi
    ich sah hin, ach..!
    da komm ich her..nich schlecht..
    so, jetzt aber unter die dusche: shampoo stehlen….hihi

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  2. bedient bin ich auch – von der papamorphose.
    die platte ist schon da, seit jahren; der bauch wächst, und was den sack betrifft, auch dort hat sich eine papamorphe marotte eingestellt: das kraulen, auch gerne in gegenwart anderer, die das nicht immer zu goutieren vermögen. das alles fällt einm irgendwann auf und man erschrickt ein wenig.
    richtig bedient war ich vor kurzem, als ich die gleiche marotte bei meinem sohn bemerken musste. jetzt ist aber gut, sagte ich zu mir. hoffentlich bleibt ihm wenigstens der bauch und die platte erspart.
    widergänger allerorten, vor allem in familien.

    gruß, uwe

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  3. darf ich? so als erste frau, meine ich? 🙂
    den elternmorphosismus gibts nämlich auch bei frauen, die sich äusserlich den müttern angleichen. mamamorphose. und die bedient auch ganz schön. mit haut und haar sozusagen. obwohl es bei uns nie auch nur ein klein bisschen mehr haut von papa und mama zu sehen gab. schade eigentlich.

    deine mutter ist klasse, das muss hier einfach mal gesagt werden.

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  4. Jajaja. Da ist ein apokalyptischer Anblick. Apokalypse heisst „Enthüllung“, „Entschleierung“ vom griechischen κάλυψις= „verschleiern“.

    Und was da alles passieren kann:

    Den nach hohem Alkoholkonsum eingeschlafenen Noach sieht sein Sohn Ham entkleidet in dessen Zelt liegen. Anstatt die Blöße seines Vaters zu bedecken, erzählte er es seinen Brüdern. Noach verfluchte deshalb Hams Sohn Kanaan und seine Nachkommen dazu, Knechte seiner Brüder zu sein (Der Fluch über Ham). (Gen 9,21–27 EU) Damit wurde von Christen später die Versklavung schwarzer Völker biblisch gerechtfertigt und von Juden erstmals die Ausrottung der Kanaaniter als Gottes Wille angesehen.

    Kein Wunder, dass du da bedient warst -:)

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  5. Pingback: Woanders – diesmal mit Schreibtischen, Buchstaben, Kultur auf dem Land und anderem | Herzdamengeschichten

  6. Hahaha! Diesmal musste ich wirklich lachen! Deine Geschichten brachten mich schon an so mancher Stelle zum schmunzeln, aber bis zu einem echten Lacher kam es noch nie – bis jetzt. Ich muss echt sagen, ich mag keine blogs, aber deiner ist echt 1a. Du hast eine seeehr unterhaltsame art zu schreiben, richtig angenehm zu lesen^^ mach weiter so!

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