Bitterstoffe

1

Großes Hallo in der S-Bahn Richtung Düsseldorf-Flughafen.

„Luise, süße Schwester, wie sieht’s aus? Hast du dein Röckchen dabei..?“

„Zwei, Edith, zwei..! Eins mit Rüschen, eins mit Schlitz. Extra für dich, Liebes!“

„Na Prösterchen! Dann kann’s ja losgehn.“

Die beiden Schwestern machten es sich mitten im Durchgang auf ihren Gepäckstücken bequem und begossen die kommenden zehn Tage im klimatisierten Beach Club Mallorca mit hochprozentigen kleinen Schweinereien, während ich am nächsten Halt raus musste, mit deutlich kleinerem Gepäck, Notizbuch und einem Einladungsschreiben.

Und zwar In Fahrtrichtung links, wie die Stimme von Band freundlich empfahl, vermutlich weil man in Fahrtrichtung rechts voll in den Inter-City nach Dortmund gekracht wäre. Klar steigt man da lieber links aus, klar hält man sich da lieber an die automatische Bandansage, die überall in Deutschland gleich klingt. Egal, ob in der Regionalbahn oder am Flughafen, stets weist einen die gleiche freundliche Frauenstimme auf etwas hin. Es ist, als stünde für Bandansagen deutschlandweit nur eine einzige Frauenstimme zur Verfügung, die sämtliche Texte einliest. Das ist ein bisschen gespenstisch. Ich mein. 40 Millionen deutsche Frauen. Und nur eine, die weiß, wo es lang geht.

An diesem kühlen Septembertag war ich auf dem Weg zur Auftaktveranstaltung einer Maßnahme des Job-Centers. Sechs Monate warteten darauf, mich in Geiselhaft zu nehmen, sechs Monate und nicht einen Maßnahmetag weniger. Andererseits war alles besser als 14 Tage Mallorca Beach Club all inclusive mit Louise, Edith und vierzigprozentigen Schweinereien.

Die Maßnahme fand im stillgelegten Trakt einer alten Volksschule statt und diente der Stabilisierung der Beschäftigungssuche, wie es im Anschreiben hiess. Hätte man das Kind beim Namen genannt, die Maßnahme hätte Sechs Monate raus aus der Statistik heissen müssen, und die Referenten nicht Referenten sondern Reinigungskräfte, Statistiksäuberer, Putzerfischchen mit 36 Tagen Urlaubsanspruch.

Allein die Formulierung Stabilisierung der Beschäftigungssuche war mir ein Rätsel. Ich meine, wie zum Henker liess sich eine Suche stabilisieren? Forcieren liess sich eine Beschäftigungssuche, sie liess sich meinetwegen aufgeben oder anpassen oder sonstwie gestalten, doch stabilisieren?! Wie ging das denn? Wurden da vor Maßnahmebeginn stramme Bambusstäbe und Rankstützen ausgeteilt? Oder doch lieber direkt als Dragee gereicht, in den Rachen geschoben, zur innerlichen Anwendung, für die ganz Sensiblen?

Egal. Wenn ich im Leben eins gelernt hatte. Eine Formulierung in einem offiziellen Schreiben ist nie umsonst, es steckt immer etwas dahinter. In diesem Fall war es der unausgesprochene Vorwurf, der Verdacht: Langzeitarbeitslose sind nicht stabil. Sie finden keine Arbeit, weil sie nicht hart genug daran arbeiten, Arbeit zu finden. Sie geben zu schnell auf, sie sind haltlos und labil, sie pennen bis in die Puppen, sie verschlampen Unterlagen und kleben in der Bewerbungsmappe das falsche Foto falschrum auf die falsche Seite, HERRGOTT!! NUN STABILISIEREN SIE SICH DOCH ENDLICH, SIE..SIE..

SEELCHEN!

2

Ich hatte noch ein wenig Zeit und entschied mich, im Schnellcafe am Hauptbahnhof einen Espresso zu nehmen. Ist ja immer ein Risiko. Wenn man Pech hat, erwischt man einen Espresso, der nach allem, also wirklich nach allem, aber nicht nach Kaffee schmeckt, weder nach Pulver- noch nach Kapsel-Kaffee, ja nicht mal lauwarm nach Hauptbahnhof, trotz aller neuen Vollautomaten. Der hier dagegen ging sogar. War zwar nicht so schwarz, dass man gleich zum Gospelsänger wurde, aber immerhin, er ging. War okay, soweit. Naja, ein Bahnhofs-Kaffee eben, mein Gott.

Ich blickte aus dem Fenster und wen entdeckte ich auf dem Bahnhofsvorplatz? Ben Jakubeck, den jeder nur Jack nannte. Seine knorrige Visage war unübersehbar, auch wenn er selbst blind wie ein Maulwurf war und sich eher tastend durch die Welt bewegte. Meist hatte er einen Schmöker aus dem Fantasybereich in Arbeit, einen Öko-Thriller mit noch mehr Monstern, er las ununterbrochen, er war süchtig nach Buchstaben. Er las im Gehen, er las im Stehen und im Sitzen, er las, wo immer er sich aufhielt, die Schwarte dabei so nah vor den Augen, als würde sie schön bräunen und toasten. Er las nicht, er schlang. Und so sahen die Bücher denn auch aus. Zerfleddert, voller Eselsohren und eingeschobener Kassenbons als Lesezeichen.

Ohne was zu lesen bin ich kein Mensch, hatte er einmal gesagt, ohne was zu lesen verhungere ich, doch an diesem Morgen war er genau das: verhungert, kein Mensch. Er war ohne Buch unterwegs. Er stand unbeteiligt auf dem Bahnhofsvorplatz und beobachtete den Himmel über dem Taxistand. Jedenfalls wirkte es so. Ganz sicher konnte man sich bei ihm nicht sein. Ganz sicher konnte man sich nie bei jemandem sein. Ich zögerte einen Moment, wusste nicht, ob er ansprechbar war, ging dann aber hinaus, den Pappbecher mit heißem Bahnhofskaffee in der Hand.

„Lange nicht gesehen, Jack.“

Für die frühe Uhrzeit umwehte ihn schon eine stolze Doppelkorn-Fahne, und ohne mich groß anzusehen, legte er sofort soziale Beschwerde ein. Da habe er doch glatt drei Monate im offenen Vollzug abgesessen, wegen irgendeiner lausigen, nicht bezahlten Geldstrafe, aber niemand in der Szene, er wiederholte: NIEMAND hätte etwas von seiner Abwesenheit bemerkt.

„Als ich wiederkam, fragte ich, ob was besonders passiert wär, ob ich was verpasst hätte in den letzten drei Monaten, aber alle guckten mich nur an, als hätte ich einen an der Waffel. Wie, du warst weg..!? Wo warst du denn? Ich bin schwer enttäuscht.“

Natürlich verpackte Jack seine Beschwerde in Ironie, er konnte gar nicht anders, so war er nun mal gebaut, doch dahinter war tatsächlich so etwas wie Verbitterung zu spüren. Dass man ihn so gar nicht vermisst hatte, so rein niemand, so kein einziger, das setzte selbst ihm zu, einem alten Kämpen, der sein Leben auf der Platte verbracht hatte.

Ich klopfte ihm auf die Schulter.

„Das wird schon wieder. Guck mal, ich hab dahinter im Cafe gesessen und dich sofort wiedererkannt – das ist doch schon mal was.“

„Ach, du.. redest doch nur noch mit den Leuten, damit du was zu schreiben hast. Nee, mein Freund, du zählst nicht. Du bist out of order.“

Ich kannte Jack aus längst verschollenen Haus der Jugend-Tagen. Schon damals war er als Suffkopp verschrien. Zwischenzeitlich dem Pulver verfallen, war er reumütig zum Jägermeister zurückgekehrt, vielmehr zur Billigvariante Gold-Förster oder Förster Gold, aus meiner Perspektive liess es sich nur schwer entziffern.

Was Jack schon immer auszeichnete, schon in ganzen jungen Jahren, war das filigrane Klauen von Spirituosen, ob im gut sortierten Einzelhandel oder in Discountermärkten, und er hatte es immer noch drauf. So was verlernt man nicht, meinte er bescheiden und hakte sein Talent zum Ladendiebstahl unter der Etüde Fingerübung ab.

Etwas anderes wunderte mich mehr.

„Sag mal, wieso hast du kein Buch in den Fingern?“

„Kann ich dir sagen. Ich hab keine Ahnung, was ich noch lesen soll. Die Buchhandlungen sind voll bis unter die Decke, aber ich finde nichts, was ich nicht schon mal irgendwo gelesen hätte. Bei dir hab ich auch mal geblättert, bei nem Kumpel am Rechner. In deinem Blog. Fand ich jetzt auch nicht so den Renner. So ein Mix aus Bukowski und.. ja, keine Ahnung was. Sorry, Babe, aber so isses nun mal.“

Sprachs, und tauchte unter in der Fußgängerzone. Ich blickte ihm hinterher und fragte mich, wie das eigentlich kommt, dass unter meinen Bekannten so auffallend viele Arbeitslose, Kleinkriminelle und arbeitslose Kleinkriminelle sind, aber auch ganz herkömmliche Trinker und Junkies ohne Job und Perspektive. Ha ha. Sehr witzig. Alles halb so ha ha. Es nieselte, der Wind wurde heftiger. Bis zum Schulungsgebäude waren es zehn Minuten Fußweg – die Ladenpassage runter, unten am Marktplatz rechts und immer geradeaus bis zur Kreuzung, dann halblinks. Es war ja nicht das erste Mal, dass ich für eine Maßnahme gebucht war. Dass einem Fallmanager vom Arbeitsamt sonst nichts mehr eingefallen war, nicht zu meiner Person.

„Herr Glumm, ich glaube, wir müssen noch mal.. was machen.. mit Ihnen.“

Was in Wirklichkeit zweierlei bedeutete: 1. Ich glaub, Sie müssen noch mal für ein paar Monate aus der Statistik raus. 2. Ich schätze, meine Vorgesetzte wird sonst unruhig, die olle Hippe.

Maßnahmen des Job-Centers waren die reine Zeit-und Geldverschwendung, und alle wussten Bescheid, alle spielten mit. Jedem Beteiligten war klar, dass kein Arbeitsloser schneller einen Job ergatterte, nur weil er zuvor an einer Maßnahme teilgenommen hatte, die hauptsächlich darin bestand, die Zeit totzuschlagen. Maßnahmen dienten allein dazu, die Maschinerie der Trägervereine am laufen zu halten, die sich rund um die kommunalen Arbeitsämter und deren Budget für Langzeitarbeitslose geschart und aufgebläht hatte. Die sich so verselbständigt hatte, dass niemand mehr über den Sinn dieser Angelegenheit nachdachte, jedenfalls niemand, dessen Meinung von Belang und Einfluss gewesen wäre. Und so dümpelten sie vor sich hin, Tausende von Maßnahmen in der ganzen Republik, Woche für Woche, Job-Center für Job-Center, Trägerverein für Trägerverein..

Natürlich kam es vor, dass Teilnehmer einer Maßnahme innerhalb weniger Tage die Fronten wechselten. Eben noch als arbeitslose Sozialarbeiter einer Maßnahme zugewiesen, wurden sie vom Trägerverein vom Fleck weg als Referent engagiert und standen nun als Ex-Arbeitslose vor Immer noch-Arbeitslosen und wussten nicht recht, was sie erzählen sollten, vorn an der Tafel. Warum sie nun plötzlich auf der anderen Seite waren, wo die Sieger standen, kleine Sieger zwar, mit dürftigem Gehalt und wenig Urlaub, aber Sieger, und warum aus dem Du ein Sie werden sollte. Das war aber auch nicht so wichtig. Wichtiger war, dass es bei der Übermittlung der Kontodaten keine Zahlendreher gab. Das wäre asozial gewesen.

Natürlich hatte so eine Maßnahme auch ihre guten Seiten. Man war von Leuten umgeben, die in ähnlichen Situationen steckten wie man selbst und von denen man noch etwas lernen konnte. Man kann immer von Leuten lernen, die in ähnlichen Schwierigkeiten stecken wie man selbst. Denn mal ehrlich, was ist das Leben schon groß.. Man wird allein geboren, man stirbt allein, und zwischendurch lernt man ein paar Leute kennen, wenn man Glück hat, nette, von denen sich etwas abgucken lässt.

Bei Maßnahmen des Job-Centers lernt man Leute kennen, denen nicht sofort der HIER, ICH! ICH! ICH!-Schaum vorm Mund steht, sobald irgendwo auf der Welt eine Arbeitsstelle frei wird. Nicht jeder Erwerbslose, (das Wort benutzte mein Vater immer), will unbedingt und unter allen Umständen einen Job finden. Timo zum Beispiel wollte gar nicht mehr arbeiten, er war vom Macher zum Lasser geworden. Als ihn sein Fallmanager fragte, wie er sich das denn vorstelle mit seiner beruflichen Zukunft, antwortete Timo ohne jeglichen Anflug von Ironie, „ich plane, demnächst im Lotto zu gewinnen.“

Und das war nicht mal gelogen. Timo, ein hochintelligenter Bursche mit einem IQ von 130, hatte lange Jahre als Personalberater in einer renommierten Headhunter-Kanzlei gearbeitet, doch das war beinah ein Jahrzehnt her. In der Zwischenzeit hatte er seine bettlägerige Mutter gepflegt und von seinen Ersparnissen gezehrt, so lange, bis sie restlos aufgebraucht waren, trotz eingeschränktem Konsum von so ziemlich allem, wie er sagte. Erst nach zehn Jahre Arbeitslosigkeit hatte er sich nun endlich arbeitslos gemeldet und bezog Hartz IV.

Timo, ein ruhiger Vertreter, der nicht viel Wert auf Gesellschaft legte, verbrachte seine Abende damit, bei abgestellter Türklingel klassischer Musik und Opern zu lauschen, am liebsten Puccini, am liebsten über Kopfhörer. Und wenn nicht gerade Mitarbeiter des Job-Centers in der Nähe waren, gab Timo freimütig zu, dass die Sache mit der Arbeit für ihn erledigt sei. Dass ihm, unlängst 50 geworden, das Leben zu schade sei, um davon noch jede Woche sechzig Stunden abzuknapsen. Wer arbeitet denn noch 38,5, sagte er.

„Ich hab das hinter mir. Ich hab das lang genug gemacht. Ich brauch das alles nicht mehr. Ich will die restlichen zwanzig Jahre meines Lebens geniessen und nicht bloß ein Jahr Rente beziehen und dann tot umfallen.“

Er hatte sich einen Hund zugelegt, einen quirligen Collie, mit dem er auf Agility-Wettbewerben bis hinauf nach Belgien brillierte und das Bergische Land durchwanderte, oft in tagelangen Touren. Alles besser als die Tretmühle Arbeit, sagte Timo. Alles besser als Mallorca, sagte ich.

Unter einem schlackegrauen Himmel sprang ich in der Fußgängerzone von Vordach zu Vordach, von Markise zu Markise, bis ich halbwegs trocken das Schulungsgebäude erreichte. Der Beginn der Auftaktveranstaltung war für Punkt zehn angesetzt. Schnell noch eine rauchen, unter diesem speziell für Raucher gezimmerten Unterstand mit Aschenbecher, wo schon ein Haufen anderer Vögel stand mit Fluppe in der Hand, was sie als rauchende Teilnehmer einer Job Center-Maßnahme auswies.

„Hallo.“

Kaum jemand grüsste, als ich mich dazustellte. Nicht mal ein mürrisches Nicken. Einer blies seinen Tabaksqualm in meine Richtung, vielleicht als Hallo unter Rauchern, keine Ahnung. Ich war zwar selbst langjähriger Raucher, aber kein sonderlich kommunikativer. Nur ein langer Stoffel mit Stirnglatze zwinkerte freundlich. Rottner, stellte er sich vor, betont sachlich, als wäre ich der Chef und er der Arbeitslose, der einen Job brauchte. Er schien schon voll im Rollenspiel drin. Wir unterhielten uns ein bißchen. Er war zugezogen, aus Braunschweig, und ziemlich lang gewachsen, mindestens eins Fünfundneunzig.

Träger der Maßnahme zur Stabilisierung der Beschäftigungssuche war eine als gemeinnützig anerkannte Fortbildungsakademie mit Sitz in Frankfurt, die in ganz Deutschland Ableger gebildet hatte und gut im Geschäft war. Pro Teilnehmer kassierte so ein Veranstalter einige Tausend Euro, je nach Dauer und Intensität der Maßnahme. Es gab Maßnahmen, da musste man als „Kunde“ ein halbes Jahr lang Tag für Tag acht Stunden abreissen, es gab Maßnahmen, da schaute man am Montag- und am Donnerstag-Vormittag kurz auf einen Maßnahme-Kaffee rein und hatte ansonsten seine Ruhe.

*

Ruhe ist das Stichwort, Ruhe zum Schreiben, Ruhe zum Malen. Muße. Um ein Minimum an Muße und Ruhe zu haben, sozusagen die existentielle Portion, gibt es eine quasi-amtliche Voraussetzung: Man muss aus der Zeit fallen. Man darf nicht dazugehören. Nirgends, zu keiner Zeit. Wenn die Leute dich angucken, muss ihnen auf Anhieb klar sein, intuitiv und unmissverständlich: Dieser Mensch kriegt keine Sms-Nachricht von mir. Den rufe ich nicht an. Den spreche ich nicht an. Der ist definitiv nicht auf meine Party eingeladen. Der will auch nicht eingeladen oder lange angesprochen werden. Dann hat man seine Chance auf etwas Ruhe. Das Minimum. Dass man braucht, um sich zu finden, um sich abzuwenden vom Lärm dieser Welt.

Die Gräfin und ich pflegen eine besondere Form von Autismus: Wir versuchen so viel wie möglich von der Welt mitzukriegen, ohne von ihr behelligt zu werden. Kein leichtes Unterfangen. Wenn man dann, quasi nebenher, noch einem normalen Beruf nachgeht, ist das kaum möglich.

Sie umschrieb es einmal so, mit leuchtenden Augen.

„Am besten, wir schleichen uns in eine betreute Außenwohngruppe ein, damit wir den Kopf frei haben für die wirklich wichtigen Dinge des Lebens, dann sind wir Königin!“

Das ganze hat freilich einen faden Beigeschmack, und ich werde ihn nicht los. Es stellt sich nämlich die Frage, warum die Gesellschaft, um jetzt mal nur von mir zu sprechen, für einen Autor aufkommen soll, der es nicht schafft, sein täglich Brot selbst zu verdienen. Der nicht mal den Versuch unternimmt, ein Buch zu veröffentlichen, um sich wenigstens in Richtung Geldverdienen zu bewegen. Warum ihn mit Steuergeldern päppeln und mit Hartz IV durchziehen, bis er wann auch immer ein Bein auf die Erde kriegt. Und was, wenn dieses Bein niemals bis zur Erde reicht? Wenn es sich auf Dauer als Phantombein entpuppt? Blutleer und zu nichts nütze? Tja, Freunde, das ist die Sorte Fragen, die mir nicht in den Kram passt. Und weiter.

3

Was mir vom ersten Tag an gegen den Strich ging, war dieser große Aufkleber über der Tür, der uns Teilnehmer empfing: ARBEITSFABRIK. Erst dachte ich, die hätten sich irgendwie vertan in der Aufregung, doch dann sah ich mir den Banner genauer an und entdecktge Spuren von Abnutzung – der Aufkleber war nicht neu, der war schon länger da. Das war durchdacht, das Wort Arbeitsfabrik, und es klingt bedrohlich. Arbeitsfabrik hätte man auch hoch oben über einem Konzentrationslager montieren können, zur Begrüßung.

Nach einer Weile fand ich Arbeitsfabrik nur noch dümmlich und doppeltgemoppelt. Es sollte wohl darauf hinweisen, dass in diesen Räumen hart gearbeitet wird, mit klar definierten Strukturen und Hierarchien, ohne das übliche Maßnahmegesäusel und Bewerbungsgewäsch, aber mit klipper klarer Ansage: hier herrscht Pünktlichkeit. Sauberkeit. Ordnung.

Zweiter Tag der Maßnahme. Heute waren Einzelgespräche anberaumt. Anwesend waren zwölf Langzeitarbeitslose. Am ersten Tag waren es noch dreiundzwanzig gewesen, die sich in die Anwesenheitsliste eingetragen hatten. Die Hälfte der Leute hatte sich schon verabschiedet. Ich fragte mich, wie die das hinkriegten. Hatten die alle Husten und sich krankschreiben lassen? Oder war ihnen plötzlich aufgegangen, dass sie ja doch einen Job besaßen und nur vergessen hatten, da auch hinzugehen. Kann doch jedem mal passieren, so ein Malheur. Dass man seinen Arbeitsplatz vergisst und Hartz IV beantragt. Ist klar.

Einzelgespräche bedeuteten, dass ein Arbeitsloser nach dem anderen ins Büro gerufen wurde und die anderen elf Leute solange herumsaßen und nichts zu tun hatten. Zwar gab es einen großen Technik-Raum, ausgestattet mit funktionstüchtigen Rechnern und schnellem Internetanschluss, doch zumindest an diesem Tag blieben alle Teilnehmer den Monitoren fern und lernten lieber einander kennen.

Mohammed, genannt Momo, rechts von mir, ein stabiler Bursche mit Backenbart, hatte sich zur Feier des Tages früh am Morgen das Kinn ausrasiert. Nun war es so schwer gerötet, es sah aus wie nach einer schweren Brandrodung. Momo stellte sich bei jedem mit Handschlag vor. Sein Vater war ein aus Marokko eingewanderter Metzger. Er hatte diesen Beruf auch für seinen Ältesten vorgesehen, und weil Momo ein braver Muslim war, der seinem Vater gehorchte, begann er eine Metzgerlehre, die er aber nach ein paar Monaten schmiss.

„Ich kann keinen Hammel mehr riechen, Baba! Die machen mich ganz bräsig, deine scheiß Hammel!“

Er überwarf sich mit der Familie und siedelte nach München über, jobbte bei BMW am Band, verdiente gutes Geld, war einsam in der großen Stadt, kehrte zurück und heuerte im typischsten aller Solinger Berufe an, als Schlieper, Messerschleifer.

„Ich hab auch schon am Stein gearbeitet“, mischte sich ein spätes Mädchen ein, um die fünfzig, krumme Haltung, doch Momo liess sich nicht beirren. Wir erfuhren, dass er eine Weile den Plan verfolgt hatte, professioneller Bodybuilder zu werden, „für die Frauen“, wie er betonte. Tatsächlich hatte er Oberarme wie Straßenkreuzungen und ein strammes Kreuz. Beste Voraussetzungen für eine Karriere als Kraftpaket. Als ihm jedoch mehr und mehr klar wurde, dass er dafür sein ganzes bisheriges Leben über den Haufen werfen und stattdessen jede Menge Stereoide fressen müsste, entschied er sich schweren Herzens dagegen.

„Wegen den Frauen.“

Ich war überrascht, welche Jobs die Leute so alles hatten, bevor sie arbeitslos wurden. Unter den Teilnehmern befanden sich ein 57jährige ex-Chefredakteur einer Zeitung, eine Ukrainerin, die Mathematik in Kiew studiert hatte sowie ein junger Fitnesstrainer mit einem auffälligen Tattoo: Eine tintenblaue Schlange rekelte sich an seinem schlanken Hals empor. Eine Szene, die ich eher auf Porzellan vermutet hätte, auf Teegeschirr. Der Fitnesstrainer war ein gutaussehender Bursche, irgendwie atemlos. Es mangelte ihm entschieden an Ruhe. Er hatte zu gleichen Anteilen deutsche und serbische Vorfahren und war seit über einem Jahr arbeitslos, obwohl er als Fitnesstrainer im Besitz hochwertiger Trainerscheine war.

„Ich hab einfach kein Glück“, nölte er, und im weiten Rund nickten die Köpfe wie an Schnüren gezogen, sie nickten und nickten.

Ursprünglich komme er aus Baden-Württemberg, erzählte der Fitnesstrainer und beschwerte sich, dass man in Solingen nur Kiffer kennenlernte.

„Achtzig Prozent aller jungen Solinger kiffen.“

Dagegen wäre an sich nichts einzuwenden, führte er aus, „aber ich kiffe nicht, ich bin ja Fitnesstrainer. Da weiss man gar nicht, was man mit den Leuten reden soll, wenn die so bekifft sind.“

In der anschliessenden Diskussion fragten wir uns, was eigentlich die übrigen zwanzig Prozent Solinger mit ihrem Leben anstellten, die, die nicht kifften. „Saufen, fixen, tralala“, gab jemand in die Runde, und ich war der einzige, der lachte.

Tarik, EDV-Fachmann, war gut ausgebildet und noch keine dreissig Jahre alt. In jedem Kurs gab es mindestens einen arbeitslosen EDV-Fachmann. Sie standen sich gegenseitig auf dem Fuß und nahmen sich die wenigen verbliebenen 400 Euro-Jobs weg. Tarik konnte sich maßlos darüber aufregen, dass das Job-Center für die Hin-und Rückfahrt zur Auftaktveranstaltung keinen Pfennig Fahrgeld erstattete, während es ab Tag 1 der regulären Maßnahme Fahrgeld gab. Ausserdem, so Tarik, ein kleiner Nerd, hatte er bei dem Betrag, den alle Teilnehmer für einen Monat Busfahren im voraus erhalten sollten, eine andere Summe errechnet: 35, 20 Euro statt 33, 00.

Er stand mächtig unter Strom und wiederholte die Zahlen, bis sie auch der letzte von uns parat hatte und zornig aus der Wäsche guckte. Tarik war kein unsympathischer Kerl, mit einem verschmitzten Lächeln und Gespür für Komik, doch beim Geld hörte für ihn der Spaß auf. Beim Geld hörte für alle der Spaß auf, dabei hatte für die meisten der Spaß nicht einmal begonnen.

Als wir das Fahrgeld am Nachmittag abholen durften, ausgezahlt wurde es einige Strassenzüge weiter von einer Aussenstelle des Maßnahmeträgers, machte Tarik sich frühzeitig auf die Socken. Er flog beinahe die Fußgängerzone hinauf, wollte unbedingt der erste sein. Dass ihm womöglich 2 Euro 20 Cent weniger ausbezahlt werden könnten als ihm zustand, liess ihm keine Ruhe. Er wollte unbedingt Beschwerde einlegen, war sich aber nicht sicher, ob er erst abwarten sollte, ob ihm tatsächlich zu wenig ausbezahlt wurde.

„Wahrscheinlich schicken die mich sowieso von einem zum anderen und wieder zurück, bis ich nicht mehr weiss, wo mir der Kopf steht,“ seufzte er. „Das ist doch ein ganz abgekartetes Spiel.“

Und wieder sah man Köpfe nicken.

4

Die beiden zuständigen Referenten hatten wenig Zeit für uns Teilnehmer. Sie waren vollauf damit ausgelastet, dicke Akten anzulegen, die ständig aktualisiert werden mussten. Meist steckten die beiden mit der Nase in ihren Ordnern und riefen uns einzeln ins Büro, wo wir Formblätter zu unterschreiben hatten, deren Richtigkeit sie wiederum überprüfen und gegenzeichnen mussten.

Nur hin und wieder gelang ihnen in den sechs Monaten so etwas wie ein Vermittlungserfolg: Momo bekam eine Praktikumsstelle. Bei den angeblich so vielfältigen Beziehungen zur heimischen Industrie war das aber keine große Nummer.

5

Mir gefallen Menschen, die sich mit einer gewissen Nonchalance durchs Leben bewegen. Unauffällige Typen, die man schnell mal verwechselt, weil sie auf den ersten Blick so gar nichts besonderes an sich haben, bis man sie näher kennenlernt und feststellt, he, Moment, der ist ja ganz locker, der Blödmann. Der macht ja einfach nur wenig Wind um sich.

Rottner, der lange Stoffel aus Braunschweig, war ungefähr in meinem Alter. Er hatte eine Stirnglatze und ständig diese Jesus-Sandalen an den Füßen, ob bei Sonnenschein oder Regen. Mit den Latschen und dem karierten Holzfäller-Thermohemd wäre er in den frühen 90ern noch anstandslos als Sozialkundelehrer durchgegangen, mit halber Stundenzahl, doch wir schrieben das Jahr 2011 und Rottner war exakt seit 11 Jahren arbeitslos.

Zuvor hatte er zwei Jahrzehnte lang Wärmespeicher auf großen Frachtschiffen ausgetauscht, für eine international tätige Firma in Cuxhaven. Nun lebte er in Solingen. Warum lebst du in Solingen? fragte ich. Ich war gespannt auf die Antwort. Warum nicht? nuschelte er nur, und wir beliessen es dabei. So genau wollte ich es ohnehin nicht wissen. Rottner hatte einen Hund. Nun haben viele Arbeitslose einen Hund, sie haben ja auch die Zeit dafür, aber nicht alle haben einen Hund mit einer Geschichte wie Rottners Hund Bootsmann, ein Boxer-Rüde.

„Bootsmann? Och. Wie der Hund auf Saltkrokan?“

Rottner nickte. Viele Worte machte er ohnehin nicht. Er hatte einen leichten Sprachfehler: Die Zungenspitze klopfte beim Sprechen gegen die Schneidezähne, so leicht, dass es nicht direkt als Lispeln durchging, eher als kleine Marotte, das ’s‘ zu Bett bringen zu wollen, am hellichten Tag, mitten im hellichten Satz.

„Der Hund von den Kleinen Strolchen hief auch Bootsmann“, meinte Rottner.

Blödsinn, entgegnete ich. Der hiess anders, doch eine ganze Weile war Rottner nicht davon abzubringen, dass nicht nur der Hund auf Saltkrokan, sondern auch der Hund der Kleinen Strolche Bootsmann hiess. Und natürlich sein Hund, der Boxer-Rüde, der auch. Es ging also insgesamt um drei verschiedene Hunde, die alle Bootsmann hiessen oder so heissen sollten.

„Der hatte ein fettes schwarzes Klätschauge“, sagte Rottner, „der Bootsmann von den Kleinen Strolchen.“

„Ja klar hatte der ein schwarzes Klätschauge, stimmt, aber der hiess nicht Bootsmann, der.. der hiess anders.. Schibulsky oder so.“

„Schibulsky? Der hiess doch nicht Schiebulsky! Das war doch kein polnischer Pfannkuchen.“

„Ah Mann.. natürlich hiess die Töle bei den Kleinen Strolchen nicht Schibulsky, das weiss ich auch, das war SPASS! Aber erst recht nicht Bootsmann..!“

„Na schön“, gab Rottner sich geschlagen, als er spürte, wie ernst es mir damit war. „Aber auf Saltkrokan, der dicke Hund, der heisst Bootsmann.“

„JA!“ schrie ich. „DER SCHON!“

Das mit dem Hund war so gekommen. Ein Bekannter trat an Rottner heran, ob er nicht Lust hätte, dem örtlichen Boxerhundeverein beim Renovieren zu helfen. Das alte Blockhaus auf dem Vereinsgelände hatte es nötig. Na schön – Rottner war sowieso arbeitslos und handwerklich nicht ungeschickt. Nach vierzehn Tagen harter Arbeit war die Hütte fertig. Der Vorsitzende des Vereins kam auf ihn zu und fragte, ob er, Rottner, unbedingt eine Rechnung brauche oder ob man das vielleicht auch so regeln könne, unter der Hand.

„Och nö“, sagte Rottner, „ich will ihr Geld sowieso nicht, ich will lieber einen Hund.“

So kam es, dass nach dem nächsten Wurf des hochprämierten Zucht-Weibchens Daxa von Bückeburg Rottners Telefon klingelte: er könne jetzt ins Clubhaus kommen und sich einen Welpen aussuchen. Jetzt, auf der Stelle.

Rottner latschte hin und entschied sich für einen kleinen Rüden, dann latschte er wieder heim. Es dauerte dann noch mal zwei Monate, bis ihm der kleine Hund vorbeigebracht wurde, als Bezahlung für Renovierungsarbeiten am Clubhaus.

„Sagen Sie, haben Sie Erfahrung mit Hunden, Herr Rottner?“

„Hunde? Ich? Nicht direkt. Aber ich weiss schon, wie er heissen soll. Ich hab schon einen Namen.“

„Ja sicher. Das ist von Bückeburg, der II.“

„Hm? Nee, der heisst Bootsmann.“

Der kleine Hund ging in die Hundeschule und absolvierte die Welpengruppe, zuletzt die Rockergruppe. Allerdings ohne Rottner. Der hatte keine Lust mitzukommen, das übernahm die Frau des Vereinsvorsitzenden, zweimal die Woche, drei Monate lang, und auch nicht ganz freiwillig.

„Machen Sie mal“, hatte Rottner einfach zu ihr gemeint, „Sie machen das schon. Hauptsache, Sie versauen mir den Hektor nicht.“

„Welchen Hektor?“

„Na den Bootsmann.“

Später gewann Bootsmann Preise auf Ausstellungen, er war von bemerkenswert schönem Wuchs, was Rottner aber nicht groß beeindruckte, Schönheitswettbewerbe waren nichts für ihn, alles zu affig da, all das Gepudel.

Mittlerweile war Bootsmann im besten Hundealter und Rottner und er gute Freunde geworden. Wenn Rottner, wie während der Maßnahme des Job-Centers, den halben Tag aus dem Haus war, übergab er Bootsmann in die Hände seiner Nachbarin.

„Die gehen Joggen in der Heide. In Ordnung hab ich zu ihr gesagt, machen Sie mal, gehen Sie ruhig Joggen mit dem Kerl, Hauptsache, er kommt hinterher nicht zu mir an und beschwert sich, he, Langer, die Tante ist mit mir jeden Tag drei Stunden durchs Wohnzimmer gehoppelt.“

6

Es dauerte eine Woche und ich geriet mit dem 57jährigen Ex-Chefredakteur aneinander, der zudem eine halbe Karriere als Radiomoderator hinter sich hatte sowie eine dreiviertel Karriere als Rockmusiker. Die Betonung lag bei allen drei Karrieren auf hinter sich haben, was allerdings mit 57 nicht ungewöhnlich ist.

Früh am Morgen riss er gleich das Maul auf, wenn auch mit einer angenehm klingenden, sehr sonoren Alexis Korner-Blues-Stimme, was den Stuss, den er absonderte, halbwegs abfing und milderte. Er sei ja immerhin Chefredakteuer einer Zeitung gewesen, maulte er zum wiederholten Male vor versammelter Mannschaft, und dass ihn das Arbeitsamt zu dieser Maßnahme „zwangsrekrutiert“ habe. Als wäre auch nur einer von uns freiwillig dagewesen. Von welcher Zeitung er kam, liess er unerwähnt, trotz Nachfrage. Erst auf mein Drängen hin rückte er mit dem Namen der Zeitung heraus,  „Die Brücke“.

Die Brücke war ein Obdachlosenmagazin und wurde in den drei bergischen Großstädten verkauft. Das war an sich kein Grund, die Nase zu rümpfen, aber wenn sich jemand permanent als ex-Chefredakteur einer Zeitgeistpostille aufspielte und dann stellte sich heraus, es war ein Obdachlosenmagazin mit einer Auflage von 500 Exemplaren.. na ja. Wir erfuhren weiter, dass er in der Redaktion als 1-Euro-Kraft angefangen hatte, dass er sich hocharbeitete und so weiter.

„Die hatten mir versprochen, ich dürfte dableiben bis zur Rente. Und dann war plötzlich doch kein Geld mehr da“, jammerte er sonor.

Es war neun Uhr, als wir um den Tisch herum hockten. Zuvor hatte eine Krankenschwester einen 45minütigen Vortrag über Gesundheit und richtige Ernährung gehalten, so als wären alle Langzeitarbeislose zu doof zum Fressen. Die Krankenschwester arbeitete im Klinikum im Nachtdienst und verdiente sich tagsüber mit solchen Vorträgen etwas hinzu. Sie war der Typ vorsichtige Radfahrerin Mitte vierzig, erinnerte mich aber an meine Schwester. Da konnte sie eigentlich sagen, was sie wollte, sie hatte bei mir einen dicken Stein im Brett.

Am Ende des Vortrags erzählte sie irgendetwas über Kalorienzufuhr, als der ex-Chefredakteur, der zufälligerweise neben mir saß, plötzlich ausholte. Es begann mit unserer von riesigen Konzernen versauten Industrienahrung (wir  werden mit Abfall zugestopft) und endete bei Quantenphysik. Für sich genommen machte das alles vielleicht Sinn, doch er warf alles in einen Topf und rührte ungeniert darin herum, bis irgendein unausgegorener Mist herauskam. Besonders auf den Geist ging mir, das alles, was aus Indien und China kam, toll war, und alles aus dem Westen bitterböse. Da platzte mir der Kragen.

„Du redest nur Scheisse“, fuhr ich ihn von der Seite an. „Von vorne bis hinten nur Müll.“

Zuletzt hatte er behauptet, eine positive buddhistische Grundstimmung könnte bei Rauchern Lungenkrebs verhindern.

„Mein Gott, natürlich erleichtert positiv denken das Leben, aber es macht den Krebs nicht weg! Das ist doch voll Kokolores.“

Ich wurde aggressiv und rückte ihn mit seinem Gefasel in Sektennähe.

„Den Quark, den du zusammenquasselst und wie du das tust, erinnert an Scientology.“

Das Wort „Scientology“ hatte ich hinter meinem Rücken aufgeschnappt, wo es Rottner gerade ausgesprochen hatte, der den Scheiss auch nicht mehr mitanhören konnte. Seltsamerweise reagierte der ex-Chefredakteur besonders auf die Heftigkeit meiner Worte.

„Ich wollte hier niemanden auf die Füße treten und Aggressionen auslösen“, sagte er.

7

Momo, der verhinderte Bodybuilder, berichtete von der wilden Zeit, als er davon träumte, Profi zu werden und die Kraftsportbühnen der Welt zu besteigen, mit eingeölten Muskelsträngen. Damals plante er den Tagesablauf strikt nach der Ernährungsvorgabe. Dazu gehörte, den Wecker auf drei in der Nacht zu stellen, um eine Portion Nudeln zu kochen und zu essen. Damit sollte der Körper mit den Kalorien aufgefüllt werden, die er im Schlaf gerade verbrannt hatte.

„Um den Energieabfall zu minimieren. Das war zu der Zeit, als ich gnadenlos auf Masse gemacht hab.“

Um auf Masse zu machen gab er Monat für Monat Hunderte von Euro für Pülverchen und Vitamin-Shakes aus.

„Das war schon geil, das Massemachen. Mit Anabolika baut man viel schneller Muskelmasse auf als nur mit Training. Da glaubst du jeden Morgen, du könntest die Welt aus den Angeln heben. Doch sobald du die Anabolika absetzt, fällt alles zusammen und du bist nur noch ein Wurm.“

Als Momo endete, war Stille. Ich fühlte mich fatal an Heroin erinnert. Nur dass Heroin keine Muskeln aufbaute, sondern Illusionen. Aber der Zusammenbruch nach dem Absetzen war der gleiche.

Links neben mir saß eine hübsche Ukrainerin, die Mathematik und Statistik in Kiew studiert hatte und in ihrem blauen 80er Jahre-Kostümchen an eine alternde Stewardess erinnerte. Nach dem Ernährungs-Vortrag der Krankenschwester meldete sie sich zu Wort und wollte wissen, wie man am effizientesten Bitterstoffe zu sich nehmen könne, doch die Krankenschwester konnte nicht wirklich weiterhelfen.

Gewisse Gemüsesorten wie Fenchel enthalten Bitterstoffe, sagte sie. Doch würden Bitterstoffe zunehmend aus unserer Nahrung herausgeschwemmt, damit es fluffiger schmecke.

Links von mir die Frau kicherte. Es war die Frau mit schiefer Haltung, die behauptete, auch schon am Stein gearbeitet zu haben. Dreimal verheiratet, drei Kinder von drei Männern. Stammt ursprünglich aus Freiburg und hat hoch im Norden in der Verwaltung eines Rüstungsbetriebs gearbeitet.

„Ich hatte die Panzerketten unter mir.“

In Solingen ist sie der Liebe wegen gelandet. Hat hier das dritte Mal geheiratet und 10 Jahre lang (wieso eigentlich immer genau 10 Jahre?) in einem Familienbetrieb Messer geschliffen. Seither war ihr Rücken lädiert, vom langen Sitzen am Schleifstein.

Tatsächlich bildeten Haltungsschäden über Jahrhunderte so etwas wie das Krankheitsbild Nr. 1 unter der Solinger Arbeiterschaft, und noch heute sind orthopädische Deformationen dieser Art im Stadtbild präsent: Buckel, Höcker, Schulterkröpfe.

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Ausser einem EDV-Spezialisten befindet sich in jeder Maßnahme ein Zombie. Ein graues Etwas, das auf seinem verhuschten Pfad durchs Dasein gerade Station in der Langzeitarbeitslosigkeit macht. Wobei an dieser Stelle einschränkend gesagt werden muss: Langzeitarbeitslosigkeit beginnt definitionsgemäß bereits nach einem Jahr ohne steuerpflichtige Beschäftigung. Meines Erachtens ist man nach einem Jahr aber noch lange nicht langzeitsarbeitslos. Dazu fehlt dann doch noch ein bisschen was.

In unserer Stabilisierungs-Maßnahme hiess der Zombie Eileen. Eileen war um die vierzig und hatte es an den Nerven. Das Haar gebrochen und voller Spliss, der Blick getrübt, der Mund eine Kneifzange, dazu nachlässige Kleidung – insgesamt war Eileen das, was sie selbst in sich sah: eine einzige Altlast.

Einmal stapften wir nebeneinander durchs Treppenhaus. Sie war furchtbar unsicher und wog ständig ihre Worte ab, um bloß nichts dummes, nichts falsches zu sagen. Da tat sie mir ein bisschen leid, und fortan mochte ich sie. Sie zählte zur Abteilung Ich möchte keinem auf den Wecker gehen, aber ich bin so unglücklich, merkt das denn niemand? Nicht selten weiss ich bei diesen Menchen nicht, wie ich ihnen meine Sympathie deutlich machen kann, ohne sie gleich in die Arme zu schliessen. Ein aufmunterndes kleines Lächeln hier, ein aufmunterndes kleines Lächeln da kann jedenfalls auf Dauer dümmlich wirken und eher das Gegenteil bewirken.

Also belasse ich es oft bei meiner heimlichen Sympathie und gehe davon aus, dass diese Mitmenschen meine Gefühle schon irgendwie mitkriegen, oder zur Not eben erraten. Eine trügerische Annahme, die mich im Leben schon oft in die Bredouille gebracht hat.

In einem Fall wie Eileen ging es nur darum, dass jemand spürte, dass ich auf seiner Seite war, doch in anderen Fällen wurde ich schon komplett missverstanden, nur weil ich den Mund nicht aufmachte. Weil ich davon ausgegangen war, dass Menschen meine Gedanken und Blicke schon richtig einschätzten.

So war ich auch automatisch davon ausgegangen, dass meine beiden Geschwister es mir nicht verübelten, dass ich kaum noch Einladungen annahm, ob zum gemeinsamen Essen, zum Spieleabend oder zum traditionellen Osterfeuer. Aus dem einfachen Grund, dass ich keinen Alkohol mehr trank und mir jede Gesellschaft nach spätestens einer Stunde lästig wurde und ich nur noch heim wollte. Das müssen die doch wissen, dachte ich. Die kennen mich doch. Pustekuchen. Was ich dabei nämlich unterschlug: Andere Leute, selbst Geschwister, die mit dir aufgewachsen sind, haben ihrerseits den Kopf und das Herz voll anderer Dinge, die wiederum ich nicht mitkriege. Das macht es nötig, dass man sich hinstellt und sagt, was man will und was man nicht will, was man mag und was man nicht mag, was man schlachtet oder besser heile lässt, was man küsst oder fortstößt, was man sich einverleibt oder was man auskotzt.

Wer sagt, was er will, der kriegt, was er braucht, meinte die Gräfin, als ich abends nach Hause kam und von meinem Tag in der Arbeitsfabrik erzählte. Zum Abendessen gab es überbackenes Fenchelgemüse.

Bitterstoffe, sagte ich.

8 Gedanken zu „Bitterstoffe

  1. bitterstoff, dein text. genial auf den punkt gebracht in vielen kleinen, genau beobachteten und beschriebenen details.
    ich mag bitterstoffe sehr. schade, dass sie verkannt werden.
    wer will schon fluffig?!

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  2. Es passiert mir bei intensiv Gelerntem – und das sind ja meist Dinge, die man zufällig nicht falsch machte, sondern bevor man sich blamieren konnte richtig beigebracht bekam, man selber war natürlich Fachmann und hätte auch ohne die Anweisung alles richtig gemacht – ziemlich selten, dass ich da einen Fehler begehe. Aber als ich den Anfang las und über Mallorca stolperte, las ich nicht wie üblich Majorka, sondern genau das, was da steht: Mallorca, und es klang seit langem mal wieder absolut richtig.

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  3. Pingback: in|ad|ae|qu|at : Litblogs.net – Lesezeichen 2 | 2013

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