Kampfname Kabul

Ein Kampfname, oder Spitzname, schleift sich mit der Zeit ab. Die Leute, die ihn benutzen, werden mit jedem Jahr weniger, und am Ende weiss überhaupt niemand mehr, unter welchem Namen du früher bekannt warst, und du endest sang-und klanglos als Herr Lauterjung mit einem Hr. Lauterjung-Schildchen an der Bürotüre.

Natürlich gibt es Ausnahmen. Blacky Fuchsberger heisst auch mit 85 noch Blacky, das kommt vor. In der Regel hält der Spitzname aber nur knapp bis hinter die Jugend. Und wer in eine neue Umgebung zieht, hat ganz verloren. Der fängt bei null an, mit Vor-und Zuname.

Das Problem: Bei vielen Spitznamen lässt sich im Nachhinein kaum noch nachvollziehen, wie sie entstanden sind, häufig liegt kein erkennbares Motiv zugrunde, kein Muster. Man kann schon von Glück reden, wenn man einen griffigen Spitznamen erwischt.

Ein gewaltiger Kampfname war Kabul. Peter Gärtner war Kabul. Er hatte früh pechschwarzen Bartwuchs, womit auch schon alles abgedeckt war, was ihn irgendwie mit Kabul, der der Hauptstadt von Afghanistan, in Verbindung gebracht hätte. Kabul war ein unbefangener braver Bursche und hatte ausser dem ungewöhnlich frühen Bartwuchs nichts von Ali Baba oder den vierzig Paschtunen, er war einfach ein großer Bub, der sich verschluckte, wenn er sich aufregte. Auf den ersten Blick hatte er sogar etwas matschiges an sich. Ein bräsiger Dickhäuter war Kabul, und er rückte dauernd seine viel zu grosse Brille zurecht.

Warum ihn nun jedermann Kabul rief? Er wusste es selbst nicht. Niemand wusste, warum. Und es juckte auch keinen. Nicht damals. Die Dinge waren, wie sie waren, fertig, aus. Warum lange fragen? Es wusste doch eh keiner eine Antwort. Die einzige Antwort, die Jugendliche zu sehen bekamen, war in einer grossen schwarzen Wolke unterwegs und segelte rasch davon: The long black cloud is coming down..

Im Sommer 1976 oder 77 verbrachte ich mit Kabul eine Nacht unter einer belgischen Autobahnbrücke, es war nicht die schönste Nacht meines Lebens.

Wir waren zu viert per Autostopp Richtung England unterwegs, Karlos, Schnaat, Kabul und ich. Weil aber zum Verrecken kein Fahrzeug anhalten wollte, dessen Fahrer scharf auf drei blonde Boys plus einen schwarzhaarigen schweigsamen samt Gepäck war, blieb uns nichts anderes übrig, als uns aufzuteilen.

In 2×2-Mannstärken.

Schnick-Schnack-Schnuck, der Verlierer musste mit Kabul weiter. Während Schnaat, Karlos und ich verbissen darum kämpften, nicht mit Kabul weitertrampen zu müssen, stand er nur mit zuckenden Augenbrauen daneben und tat so, als ginge ihn das überhaupt nichts an. Speichel hockte in seinem Mundwinkel. In Nachhinein war nicht mal auszumachen, wer Kabul eigentlich angeschleppt hatte. Wieso dieser Mensch plötzlich mit uns reiste, wo wir doch sonst immer zu dritt unterwegs gewesen waren. Wir waren uns plötzlich selbst ein Rätsel, mitten in Belgien. Im Sommer. Wir standen nah am selbst verschuldeten Abgrund.

Dann verlor ich auch noch im Schnick-Schnack-Schnuck-Endspiel, trotz bombensicherer Schere, gegen Schnaat, der auf Brunnen gesetzt hatte und es mit Karlos noch am selben Abend bis Dieppe schaffte, während Kabul und mir das Tramper-Pech treu blieb. Wir versandeten unter dieser halligen Autobahnbrücke im trostlosen belgischen Hinterland nahe Namur, wo wir die Nacht im Schlafsack auf Beton verbrachten, bei diffus gelben Scheinwerferlichtern.

Kabul erzählte bis zum Morgengrauen von seinem Tiroler Großvater, der riesige ulkige Füße hatte, obwohl sein Eheweib, Oma Rosa, selbständige Fußpflegerin war. Der Speichel in Kabuls Mundwinkel wurde zäher und gelber. Zuletzt erinnerte mich der Anblick an Senf, und ich stierte in den Nachthimmel.

„Kabul“, stöhnte ich, „halt die Fresse.“

Am nächsten Morgen war es so laut, als stünde ein Dutzend Lastwagen in meinem Ohr, mit laufendem Motor. Kabul kroch übernächtigt aus seiner Penntüte. Halt die Fresse, Kabul, drohte ich.

In Dieppe setzten wir, wieder zu viert, mit der Fähre nach England über. Im Pizza Palace Brighton gab es ein Wettessen. Ein zünftiges Wettessen mit verschärften Regeln, zu dem wir einige englische Punks einluden, die ersten, die uns je über den Weg liefen, Strand-Punks mit Mäusezähnen und schwarzen Turnleibchen, doch die lehnten eine Teilnahme ab, wollten lieber zuschauen, wie wir uns die Finger zersemmelten. Einhändig Pizzaessen war ihnen zu gefährlich. Too much monky business.

Die verschärfte Regel machte auch Kabul zu schaffen: Die Pizza durfte nur mit dem Messer geschnitten werden, ohne Gabel. Überhaupt durfte man nur eine Hand benutzen, die andere wurde hinter den Rücken geklemmt und war ausser Betrieb. Einhändig Pizzaessen im Brighton Pizza Palace. Wir waren super drauf, wir waren die Kings. Nur Kabul stand der Schmand im Mundwinkel, dick wie Kefir. Er fror. Sein Bart dünnte aus. Er sprach kaum noch. Und das alles innerhalb von anderthalb Tagen.

Irgendwann stand er auf, nestelte an seiner viel zu grossen Brille herum und meinte, er müsse telefonieren. Zu Hause anrufen. Wir spachtelten weiter unsere Salami-Pizzen, ein grosses spastisches Wett-Gelage war in Gange, und alles deutete auf ein Fotofinish hin. Als Kabul endlich zurückkam, hörten wir sofort auf. Er sah schlimm aus. Wirklich schlimm, nicht diese Art von schlimm, wie er sonst ausgesehen hatte. Vermutlich war Kabul in diesem Moment der erste deutsche Punk, der uns je unterkam.

„Meine Oma ist tot“, erklärte er kurz und traurig, „ich muss sofort nach Hause.“

Auch die Abfahrtszeit der nächsten Fähre Richtung Dieppe hatte er schon parat, es blieb kaum Zeit sich zu verabschieden. Kabul war heilfroh, als er die Insel verlassen durfte.

Trudi ist ein anderer Kampfname, an den ich mich erinnere. Beziehungsweise, ich dachte immer, das wäre sein Kampfname, bis Trudi im Deutsch-Leistungskurs plötzlich neben mir saß und sein Namensschildchen aufbockte: Er hiess tatsächlich Trudi, aber mit Nachnamen. Stefan Trudi. Ein Nickname, der garantiert bis zum Ende aller Tage in Gebrauch bleibt. Hut ab, Trudi. Was ein cleverer Schachzug.

Leo bekam als Teenager den Trenchcoat aus der Kleiderkiste seines toten Onkels. Er war von dem Mantel so begeistert, dass er ihn Tag und Nacht trug. Selbst im Hochsommer liess er ihn liebevoll über die Schulter baumeln, ein Anblick, der seine Freunde an Linus erinnerte, Linus von den Peanuts, der Junge mit der Schmusedecke. Fortan wurde Leo nur noch Linus gerufen, bis heute – Fall abgeschlossen.

Spitznamen in der Drogenszene haben oftmals eine andere Funktion, sie dienen der Verdunkelung. Auf Anhieb fallen mir ein: das Ohrfeigengesicht, der Saarländer, die Unke, der Schnülle, Fledermaus Müller und natürlich der Bombenleger, der sofort jeden Kaufhausalarm aktivierte, sobald er nur das Wort Kaufhaus zu denken gedachte.

Hase hatte so große vorstehende Schneidezähne, es gab keinen anderen Spitznamen für ihn. Der Löwenmann hingegen hiess nicht Löwenmann wegen seiner Mähne, der Löwenmann hiess Löwenmann, weil sein Name Stefan Loewe war. Mit oe, wie der Fernseher. Wir hätten ihn also auch Fernsehmann rufen können, Fernsehmann, so wie man den Eiermann Eiermann ruft, weil er die Eier bringt, aber er brachte nun mal keinen Fernseher.

Die letzten Beispiele strafen mich Lügen, handelt es sich doch durch die Bank um Spitznamen, die sich nachvollziehen lassen.

Mädchen haben seltener Spitznamen als Jungs, warum? Ich weiss es nicht. Zwei Ausnahmen sind die Unke und die Strumpfband-Natter. Der Unke saßen die Augen recht nah beieinander, das musste reichten für ihren Kosenamen.

Die Strumpfband-Natter hatte ihren Kampfnamen weg, weil sie lange falsche Wimpern trug, zwei Finger breit in die Tiefe des Raumes klimpernd. Ausserdem ging sie kühl wie eine Schlange vor, wenn sie nachts auf Beutefang war und ihre Lockstoffe verströmte. Die Natter war blond. Ich hatte ein bisschen was mit ihr. Aber ich habe sie niemals blonde Strumpfband-Natter genannt.

Weiter im Text.

Es gab noch den Stöck und die Eule, es gab Pepe und es gab den Schuh. Die Eule war eine treue Gespielin von Schnaat, aber warum sie den Spitznamen Eule weg hatte, weiss der Kuckuck. Und da war da noch der Twing.

Als ich neulich einen Knaben aus alten Zeiten traf und ihn fragte, hör mal, was ist eigentlich aus Twing geworden, den sieht man kaum noch, lebt der überhaupt noch? Da guckte der Knabe aus alten Zeiten ratlos.

„Twing..? Moment, wer was das noch mal?“

Jetzt hatten wir ein Problem. Ich hatte nämlich absolut keine Ahnung, wie Twing regulär hiess, was offiziell in seinem Personalausweis eingetragen war. Umständlich versuchte ich meinem Gegenüber in etwa klarmachen, wen ich mit Twing meinte, (Segelohren, zäher Typ, nicht ein Gramm Fett zu viel, linker Vogel), bis wir uns irgendwann auf eine Person aus alten Zeiten einigen konnten, von der wir beide (mehr oder weniger) überzeugt waren, dass der andere sie im Kopf hatte, wenn wir über Twing sprachen.

„Der hatte so Fledermausohren, oder nich?“

„Genau der!“

„Und, was macht der?“

„Wer?“

„Na, der Twing!“

„Keine Ahnung, absolut nicht. Ist der nicht tot? Ich hab mal gehört, der ist tot.“

„DER TWING IST TOT?“

Immerhin wusste ich jetzt, dass wir beide von dem gleichen Kerl sprachen. (Twing ist mittlerweile tatsächlich gestorben, an Krebs. Kurioserweise wurde er drei Monate vor seinem Tode das erste Mal Vater, mit 55.)

Was mich betrifft, ich hatte keine Spitznamen. Man rief mich Glummi, logisch, doch ein angehängtes i macht noch keinen Kampfnamen. In der Pubertät, auf dem Gymnasium, hiess ich eine Weile Pickelfresse, weil ich mehr Akne im Gesicht hatte wie ein Johannisbeerstrauch Johannisbeeren. Doch schnell gab es Probleme. Wenn jemand nach mir rief, drehte sich die ganze Klasse um, weil sich alle angesprochen fühlten. Wir alle waren Pickelfressen. Wir waren die letzte reine Jungenklasse. Wir waren der letzte reine Pickelfressenjahrgang.

Einen Spitznamen hatte ich, den benutzte aber bloß ein einziger Typ, und ich weiss nicht, ob das zählt. Der Typ kam immer ins Mumms rein und wenn er mich sah, brüllte er: „He! Riemen, was ist Sache?!“ Er nannte mich immer Riemen, wenn er mich sah, jahrelang und jedes Mal Riemen. Was ist Sache? Alles gut.

Zum Schluss wäre da noch mein guter alter Freund Schnaat. Niemand weiss, wie der Spitzname Schnaat entstanden ist. Der Kampfname. Der Schnaatname. Er bezieht sich in keinster Weise auf seinen Vor- oder auf seinen Nachnamen, und es ist auch keine Situation bekannt, aus der heraus „Schnaat“ entstanden sein könnte – und dennoch: Es muss in den frühen Siebzigern gewesen sein, als irgendwer erstmals Schnaat zu ihm sagte. Es muss ein erstes Mal gegeben haben.

Angeblich geschah es auf dem Schulhof, angeblich war Kabul daran beteiligt, darüber hinaus ist nichts zu erfahren. Alle Beteiligten halten dicht. Die Spitznamenmafia zeigt ihre Muskeln. Schade. Ich würde ein Hemd, das ich gut finde, dafür geben, könnte ich denjenigen auftreiben, der mir erzählt, was damals geschah, auf dem Schulhof, als irgendwer Schnaat zum Schnaat sagte, obwohl er noch gar nicht so hiess.

Tolle Sache.

Ganz zum Schluss noch eine kleine Kampfnamenanekdote. Ich habe ein schlechtes Namensgedächtnis, und es wird nicht besser mit den Jahren. Ich kann von Glück reden, wenn mir der Zufall zu Hilfe kommt. So wie neulich, als ich ein paar Stationen mit dem Bus fahre und da sitzt dieser stämmige Kerl, den ich von früher aus dem Haus der Jugend kenne, aber mehr vom Sehen.

„Glummi“, grüsst er, „wie isses?“

„Gut“, sag ich, „und dir, wie isses.. dir, äh..?“

Ich will leichtfertigerweise seinen Spitznamen anhängen, doch der fällt mir nicht ein, nicht auf die Schnelle. Da tauchen die Leute frühmorgens aus dem Nebel der Geschichte auf und erwarten wie selbstverständlich, dass man sie klar und deutlich mit Namen anredet. Wie zum Henker soll das funktionieren.

Jedenfalls, es war ein Spitzname, nach dem ich suchte, soviel war mir noch klar, und es war ein kurzer Spitzname. Nicht mehr als zwei Silben. Er lag mir auf der Zunge, aber ich kam nicht heran. Ich kriegte ihn einfach nicht gehoben, so früh am Morgen, im Bus der Linie 695. Der Spitzname dieses grossen lässigen Burschen steckte in mir fest, irgendwo zwischen der 6. und 7. Erinnerungs-Etage.

Mein Blick fiel auf einen Schuljungen, der im Durchgang stand und sich an einer Schlaufe festhielt. Auf seinem Rücken saß ein altmodischer Tornister aus braunem Leder. Leder..

LEDER!

„.. wie isses dir, LEDER!? Sag mal..! Gut??!“

„Geht so.“

11 Gedanken zu „Kampfname Kabul

  1. Vielleicht hat Herr Kabul schon damals einem gewissen Hobby gefrönt.
    Wir können uns noch gut erinnern, dass gewisse Naturprodukte den Mund austrocknen können.
    Bei uns nannte man dieses Phänomen Käsemiere.

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  2. Schnaat ist natürlich der Straßennahme, von seinem Wohnort. Isdochklar! Am Schnaat -oder was?

    Mein Kampfname kam von den übergroßen Shorts, die ich im Sportunterricht trug.
    Es war mir einfach zu eng in den Famillien-Juwelen-Tötern, die zu jener Zeit modern waren.
    Naja kann sein dass sie eine Nummer zu groß waren. Meine Größe war halt grade nicht da. (Wie so oft!)

    So rief mich jeder der wußte -oder auch nicht wußte woher der Name kam- liebevoll: „Hey, Shortie!“ Natürlich hatte der Name noch einen Bezug zu meinem Nachnamen, den ich hier aber nicht veröffentliche. (-: Sonst werd´ ich auch noch denunziert ;-).

    Schon ein Jahrzehnt später stürmten die DäEfBäh-Jungs in genauso weiten Sporthosen über den römischen Rasen zum Titel. Da waren die Kerle für mich mit meinen hautengen Gummihosen aber schon lange aus der Mode.

    Hat noch wer einen Kampfnamen parrat?

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  3. Dann sag´ ich :Fred, Bussi und Angel.
    Und setz´ noch ein Stolli obendrauf!
    Hehe, was sagst du jetzt, Meister?
    Karate ist Müll !?
    Ja, außer man macht es mit der Tastatur!
    :-)))
    Du siehst, ich habe gelernt.

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      • Achso. Ist notiert. -Eigentlich sind mir die Karatekacke-Szenen einfach zu lang. Man kann problemlos aufs Klo gehen. Den Film brauchst Du dafür gar nicht anhalten. -Vielleicht dabei noch was ins Notizbuch schreiben. (dann aber unbedingt hinsezten, sonst passiert noch ein Malheur…:) -Leider gibt es für den Tarantino wohl zu wenig Bücher mit durchdachter Dramarturgie.

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