Das Ende der Afri-Cola Kindheit

Meine erste Coca Cola war 1967 eine Afri-Cola, der man in der Flaschenmitte zwei Kerben eingedengelt hatte, um klar zustellen: Massa, ich hab zwei Puppen flach gelegt! Keine Ahnung. Ich war sieben Jahre alt.

Wir Kinder aus der Hasseldelle waren verrückt nach Afri-Cola. Sie schmeckte nicht sonderlich nach Afrika, trotz der Palme im Logo, sie lag eher breit und nordamerikanisch im Mund, ein bisschen wie das Kettcar, mit dem ich den Bürgersteig runtersauste und dabei Hits aus dem Radio schmetterte, die in meinem siebenjährigen Kopf alle wie MISSES APPLEBEE klangen.

Für eine Literflasche Afri-Cola legten wir Picos unser Taschengeld zusammen, sechzig Pfennige für eine große Terrine dunkel sprudelndem afro-amerikanischen Glitter. Wir trafen uns bei der spitznasigen Frau Drexelius, die über ihre klitzekleine Trinkhalle wachte wie eine Vogelmama über ihre Brut – oder wir gingen gleich rüber zum großen Getränkehandel, wenn wir ausnahmsweise genug Patte für mehrere Pullen Brause hatten.

Ein Jahr später wurden in der Hasseldelle die Fundamente für eine Hochhaussiedlung gelegt. Ein ganzer Stadtteil sollte aus dem Boden gestampft werden. Die Hasseldelle war eine alte Siedlung im Grünen mit weiten Kornfeldern und Wiesen zum Fußballspielen. Im Sommer campierten am Waldrand die Zigeuner, deren Wagenburgen wir Kinder nicht zu nah treten durften, also traten wir ihnen so nah wie möglich, ohne gesehen zu werden.

Einer der ersten Opfer der Umgestaltung war der Getränkehandel, er musste weichen. Zweites Opfer: der Kiosk von Frau Drexelius. Drittes Opfer: wir. Da meine Eltern kein „Klein-Chicago“ um sich herum haben wollten, planten sie den Wegzug.

Das Ende der Afri-Cola Kindheit.

Noch aber machte ich mit anderen Jungs die Rohbauten unsicher, die großartige Spielplätze abgaben. Nichts ist spannender als Baustellen, kaputte Leitern, Mörtel. Und urplötzlich liegt der Dieter Rupp splitternackt im Kellerschacht und strahlt uns an, mit einem riesigen erigierten schneeweißen Glied.

Wer über das männliche Genital schreibt, hat ein Problem: Nenn ich es Pimmel oder Latte, Rohr oder Schwanz, Lümmel, Penis oder Riemen, medizinisch oder Schweinkram, es bleibt eine schwierige Entscheidung – bis auf den Fall von Dieter Rupp, 1969, nackig im Neubauschacht an der Hasseldelle, da war die Sache sonnenklar. Was uns da anblitzte im Frühlingslicht, das war ein Glied, ein 1a schneeweißes Glied, durchzogen von blauen Adern und erstaunlich stramm für sein Alter und ohne ein einziges Haar am Sack.

Dieter ist schon lange verheiratet, hat zwei Kinder, arbeitet bei der Stadt. Neulich haben wir uns kurz unterhalten, der übliche Mist, wie teuer und doof alles geworden ist, aber innerlich habe ich den Hut gezogen, aus Respekt, ja, aus Ehrerbietung für diesen ersten weißen Hai, der mir je über den Weg gelaufen ist.

*

Kurz vor dem Umzug verliebte ich mich in Karina. Das Haus, in dem sie wohnte, stand nicht weit entfernt. Ein Reihenhaus. Ein Neubau. Nach der Schule ging ich hin, setzte mich gegenüber auf die Mauer, und wartete. Ob sie am Fenster erschien. Ob sie nach mir schaute. Ich war verliebt, und sie wusste nichts davon.

Karina war älter als ich, nicht viel älter, ein Jahr vielleicht. Aber wenn die Frau, die man liebt, neun ist und man selber ist erst acht, dann ist ein Jahr ein Haufen Zeit.

Sommer 1969.

Ein verstörender Sommer. Ich saß wie auf Zündplättchen, wenn ich auf sie wartete. Auf ihr Erscheinen. Filmaufnahmen und Fotos aus dieser Zeit zeigen Straßenschlachten und Wasserwerfer, doch für mich gab es nur dieses Mädchen mit langem Haar und weißer Haut. Sie trug weiße Strümpfchen und Lackmäntelchen mit Gürtelschnalle. Ich saß auf der Mauer und blickte zu ihrem Fenster hoch. Ich wartete auf ein Zeichen, auf eine Bewegung hinter der Gardine.

Noch heute sehe ich mich dort sitzen, Stunde um Stunde, bis es dunkel wird. Sie war ein Engel in einem weißen Lackmäntelchen, doch sie zeigte sich nicht. Das Haus lag ruhig da.

Niemals geschah etwas.

Einmal kam ihr Vater von der Arbeit. Er parkte sein Auto, und als er mich sah, blieb er kurz stehen. Er schien zu überlegen, wo er mich hinstecken sollte. Dann ging er weiter, den Kiesweg hinauf. Ich war nur ein kleiner Junge, der auf der Mauer saß und seinen Wünschen nachhing.

Er schloss die Haustüre auf. Niemand begrüßte ihn. Seine Frau nicht, nicht die Tochter. Nicht mal der Hund kam angelaufen. Es gab keinen Hund. Ein verlorener Mann, eine tote Seele. Niemand freute sich auf ihn, wenn er nach Hause kam.

Ihr Zimmer war oben im ersten Stock. Manchmal bewegte sich die weiße Gardine. Ich war nicht sicher. Vielleicht glaubte ich auch nur, die Gardine bewege sich, weil ich sie so sehr ins Visier genommen hatte. Weil ich es so sehr wollte.

Das Häuschen war das erste in einer Reihe von fünf Häusern, die alle gleich aussahen, wie Bastelarbeiten aus weißem Beton lehnten sie aneinander. Daneben standen Flachdachbungalows mit Vorgärten, in denen dürre Bäumchen und Sträucher, gerade erst angepflanzt, dem Wind nichts entgegenzusetzen hatten. Staub strich um die Häuser, Bauschutt und Splitter. Mir brannten die Augen. Ich war glücklich.

Daheim spielte ich Schlager und Beat-Singles meiner großen Schwester. Eloise. Lady Madonna. See how they run. Ein stürmisches Piano und die leidenschaftliche Stimme von Vicky waren der Soundtrack meiner ersten großen Liebe.

Dich mit Anderen teilen kann ich nicht.

Am Nachmittag kletterte ich auf mein Mäuerchen, und sobald Bewegung ins Haus kam, schnurrte und bubbelte mein kleines Herz, als hätte es jemand angehoben und mit weißer Munition unterfüttert: alles bereit zur Sprengung.

Das Haus lag ruhig da.

*foto.kinderwagen.big

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