Pumpende Herzen, 1. Jahrestag

Fotos Willi Glumm 368

Willi Glumm, ∗14. Mai 1926  † 9. Februar 2014

Man konnte nicht damit rechnen, dass es sich so entwickelt, doch so ist es mit den schönen Dingen. Sie kommen, wenn weit und breit niemand damit rechnet, wenn keiner auch nur den geringsten Gedanken daran verschwendet. Die kostbaren Dinge im Leben geschehen ohne unser gewolltes Zutun, wir müssen bloß eines – wir müssen da sein. Vor Ort. On air. Bereit.

Wir müssen bereit sein.

So war es auch mit Vater und mir, als wir auf den letzten Metern noch Freunde wurden. Wir mochten uns zuvor schon, wir sympathisierten miteinander, doch wie das so ist bei Charakteren, die sich ähnlich sind, man steht sich oft gegenseitig im Weg. Es sind keine unüberwindlichen Hindernisse, es sind keine Barrikaden, die sich zwischen Vater und Sohn im Laufe der Zeit aufbauen, man könnte versuchen, sie beiseite zu räumen, doch niemand rührt einen Finger, alles bleibt, wie es ist, man arrangiert sich und lebt das Leben in solider Zuneigung – nicht mehr, nicht weniger. Das ist seltsam, ja natürlich, und doch ist es Alltag, millionenfach bewährt, in aller Welt. Eine Strategie, die dazu dient, die Herzen nicht zu laut sprechen zu lassen, denn Männerherzen, die zu laut und deutlich zueinander sprechen, sind verdächtige Herzen, auch heute noch. Männer, die ihre Liebe zueinander artikulieren, stellen die Welt in Frage, von Mann zu Mann, von Vater zu Sohn.

Ich bin mittlerweile so weit, dass ich mich schon freue, wenn ich durch die Fußgängerzone gehe und mir begegnen zwei Italiener unterm Regenschirm, einander untergehakt, eng wie Brüder, obwohl es nicht mehr regnet. Obwohl es gar nicht geregnet hat. Na schön, ich bin ein viertel Italiener und ein sentimentaler alter Knochen, und doch – wer nicht sentimental und wenigstens ein bisschen Italiener ist, der hat kein Herz, bloß eine Pumpstation:

mit Pumpleistung.

*

Nach Mutters Tod hatte ich wieder einen eigenen Schlüssel zur Wohnung an der Schillerstraße, wie auch meine beiden Geschwister, die sich ebenfalls um Vater kümmerten, aber berufstätig waren, also blieben die Wochentage an mir hängen.

Mein Bruder kam, wenn er Zeit fand, meine Schwester am Wochenende. Sie erledigte die Einkäufe und den ganzen Papierkram. Ganz klar, sie war Vaters hellster Stern in dunkler Zeit, sie gab ihm Zuversicht und Orientierung, dagegen konnten wir Söhne nicht anstinken, und wir wollten es auch nicht. Gegen funktionierende Vater-Tochter-Beziehungen lässt sich nicht anstinken. Sie sind dicker als Blut.

Sie sind der Nachfolger von Blut.

Wenn ich an Sommernachmittagen die Dachgeschoß-Wohnung betrat, saß Vater oft im Unterhemd auf dem Balkon und schlief im Sitzen. Um ihn nicht aufzuschrecken, war ich mit der Zeit dazu übergegangen, den Hund vorzuschicken, was aber auch nicht viel bringt, wenn man plötzlich die Augen aufschlägt und in die aufgerissene Schnauze eines Untiers starrt, das mit dem Schwanz um sich schlägt.

Ich liess ihn schlafen unterm roten Sonnenschirm und ging in die Küche, um nach Kakao und Apfelkuchen zu sehen. Nun wurde der Backofen nach Mutters Tod nicht mehr so penibel gereinigt wie zu ihren Lebzeiten. Er wurde eigentlich überhaupt nicht mehr gereinigt, weil sich niemand dafür zuständig fühlte. So konnte es passieren, dass der aufgewärmte Apfelkuchen nach Zwiebeln schmeckte, was aber spätestens nach Gabel Nummer 3 schnuppe war, denn dann hatte sich der Gaumen an die fremdartige Mischung gewöhnt und machte kurzerhand einen leckeren Zwiebelkuchen draus, mit Apfelaroma.

“Halb so schlimm”, sagte ich dann.

“Ja schon, aber auch nur halb so lecker”, sagte Vater.

7 Gedanken zu „Pumpende Herzen, 1. Jahrestag

  1. Anstinken – kannte ich Schweizerin nicht.
    Köstlich, wunderbar sentimental ohne je kitschig zu werden. Das ist deine Kunst, das und das Öffnen und Zubereiten von Erinnerungen in Wortgewebe.

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  2. Pingback: Lesen. Auch dazwischen. | Sofasophien, Fallmaschen & Herzgespinste

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