Johnny

„Ach, Sie sind ein Schreiberling!? Das ist ja interessant. Hochinteressant! Was schreiben Sie denn?“

Ich war hauptsächlich ein Quatschkopf. Warum zum Henker konnte ich mein Maul nicht halten. Hatte ich gar nichts gelernt? Nichts war schlimmer als ein Vertreter im billigen Sakko, der von Schlafstörungen getrieben spät abends um die Rezeption herumwieselte und nur auf seine Chance lauerte, den Nachtportier in ein Gespräch zu verwickeln.

„Oder studieren Sie? Was studieren Sie denn?“

Ich tat so, als schliefe ich während ich den Kerl anstarrte, aber das brachte nichts. Er liess nicht locker. Als Generalvertreter von billigen Frisör-Scheren war er es gewohnt, den Fuß nicht zurückzuziehen, wenn er ihn einmal in der Tür hatte. Und nicht nur das. Jetzt schob er auch den Rest des Körpers hinterher. Das Knie, das Zeugs untenrum, den Rumpf.

„Ich habe während meines Studiums auch nachts gejobbt. In einem Heim für Schwererziehbare. Meine Herren, ich könnte Ihnen Sachen erzählen..“

Prüfend schaute er mich an, doch jetzt ließ ich ihn auflaufen und legte meinen abweisendsten Blick auf.

„Das war eine harte Prüfung, aber Studentenjahre sind keine Herrenjahre, nicht wahr? Ha-ha-ha!“

„Ich studiere nicht“, entgegnete ich düster.

„Nanu. Dann machen Sie das hier als Nebenjob? Verdienen sich etwas dabei, ja?“

„Nein. Ja. Also, ich mein.. nein, ich ähh schreibe.“

Und da waren wir nun. Ich schreibe! Die finsterste Kombination von zwei Wörtern, die mein Hirn mir jemals untergeschoben hat. Dieser Gewebeklumpen. Dieses.. Fasel-Areal. Während ich hinter der Rezeption stand und meine Schwätzwunden leckte, freute sich der Vertreter wie ein Saalkandidat, dass er mich drangekriegt hatte.

„Ein Schreiberling! Ja, was schreiben Sie denn schönes? Artikel?“

„Geschichten“, ächzte ich.

„Geschichten? So Novellen? Wer hätte das gedacht. Kinder, Kinder! Da trinkt man nichtsahnend sein Bierchen an der Rezeption, und als was entpuppt sich der Portier? Ein Schreiberling!“

Er hatte sein Ziel erreicht. Er war mit beiden Beinen in meinem Salon, markierte den dicken Max und – wusste plötzlich nicht mehr weiter. Die nächste Viertelstunde, die ich unter Hochdruck abschwieg, zog sich endlos hin, bis es ihm endlich zu bunt wurde und er sich beleidigt auf sein Zimmer zurückzog.

„Weckruf bitte für sechs dreißig“, bekam er gerade noch raus.

Dann kam Johnny.

Johnny, untersetzter Ire um die Dreißig, besuchte mit fünf Landsleuten einen Lehrgang in einer traditionsreichen Solinger Maschinenbaufirma. Johnny war eine Marke für sich. Er hatte diesen Bulldozergang, er nuschelte, er schielte, und in der Früh, wenn er den Essensraum betrat, zog er eine Schnapsfahne hinter sich her, breit wie eine Brautschleppe.

Es war jede Nacht das gleiche mit den Burschen. Kehrten sie ins Hotel zurück, die halbe Innenstadt leergesoffen, dann immer einzeln und im Abstand von jeweils fünf Minuten. Und der letzte, der sich an der Rezeption den Schlüssel abholte, war Johnny. „Too much beer..“ nuschelte er, „..focking too much“, mehr war aus ihm nicht herauszukriegen. Es sei denn, es war Samstagnacht und er war noch besoffener als sonst, dann geriet er auf dem Weg zum Fahrstuhl schon mal ins Stolpern und fiel „The hell with tomorrow!“ krakeelend in den offenen Lift.

Auch zum Frühstück um halb Sieben trudelten die Iren stets nacheinander ein, nie gemeinsam. Zuletzt Johnny. Er wackelte ratlos vor dem Buffet hin und her, bis ich ihm sein Kännchen pechschwarzen Tee brachte, mit drei Zwei-Kammer-Beuteln drin, die er extra von daheim mitgebracht hatte. Das Zeug roch wie Teer, wenn er frisch aufgetragen wird als Straßenbelag. Allenfalls wie Pattexdampf. Aber nicht wie Tee. Er nahm am Tisch seiner Kumpels Platz und verputzte ganz allein ein Körbchen weich gekochter Frühstückseier.

Einmal unterlief mir ein Fauxpas. Weil die Eier auf dem Buffet ausgegangen waren, musste ich kurz vor Feierabend auf die Schnelle zwanzig Stück nachkochen. Dummerweise hatte ich die Eieruhr aber auf zwei Minuten eingestellt statt auf fünf, was in der morgendlichen Hast weder der gerade einmarschierenden Chefin noch der tumben Küchenmamsell mit den blauen Bäckchen aufgefallen war. Warum auch. War ja meine Sache.

Ich wollte also gerade die Jacke anziehen und mich in den Feierabend verabschieden, da kam Johnny grinsend zur Rezeption und präsentierte ein flüssiges Frühstücksei, wobei ihm der Dotter schon zwischen den Finger herlief und auf den Tresen sickerte.

„Looks like an omelette..“, griente er.

Seit diesem Morgen duzten wir uns.

„Hi Andy.“

„Hi Johnny.“
Einige Nächte später, es wurde schon hell, saß ich im Büro vorm Fernseher und kabelte so vor mich hin, als ich plötzlich die Aufzüge rattern hörte, unterlegt von abartigen Gesängen, die entfernt an eine Nikolausfeier erinnern, auf der Geschlossenen im LKH.

Das Merkwürdige: Die Lämpchen über allen vier Aufzügen blinkten hektisch auf, was bedeutete, dass jeder Lift auf jeder einzelnen der vierzehn Etagen stoppte und die Türen aufgingen. Die Folge war eine Kakofonie von Ding Dongs. Darüber dieser schaurige Minnegesang, der jedoch klar aus den oberen Etagen kam, nicht aus den Fahrstühlen.

Irgendwie passte das hinten und vorne nicht zusammen. Es war natürlich gut möglich, dass die irischen Alkoholiker im breiten Schädel sämtliche Knöpfe in den Aufzügen gedrückt hatten, aber das erklärte nicht diesen schwer gestörten Singsang. Okay. Genug gehört.

Ich nahm das Treppenhaus.

Je höher ich stieg, desto lauter wurde es. Ganz oben, im 14. Stock, stieß ich die schwere Stahltür zum Hotelflur auf, und – ja, wen hatten wir denn da? Die Iren, allesamt in Unterhose und Socken, die Arme ineinander verschlungen, am grölen. Davor kniete Johnny und schoss ein infernalisches Erinnerungsfoto mit Blitzlicht. Es herrschte solch ein Lärm und Durcheinander, es wunderte mich, dass noch keiner der Hausmeister aufmarschiert war.

Das Turm-Zentrum, von dem das Turm-Hotel nur ein Teil war, beschäftigte drei davon: einen Hausmeister, einen Hauswart und einen Hausinspektor, und alle drei Herrschaften führten sich auf wie die Nummer eins, jeder hatte seine eigene Dienstwohnung im Gebäude.

Der Hausmeister war kaum zu sehen. Er erledigte seinen Job wie nebenbei. Es gibt Menschen, die werden von ihren Müttern wie nebenbei geboren, sie führen ein Leben wie nebenbei und wenn es soweit ist und sie unter die Erde kommen, ist das auch eher Nebensache.

Der Hauswart war ein Einfaltspinsel. Nun ist es aber so: Wenn Einfaltspinsel einen Job ergattern, der ihnen ein Minimum an Macht garantiert, blühen sie auf. Sie stolzieren mit konsequent durchgedrücktem Kreuz durch die Gegend, als hätten sie jederzeit gut geschissen, und wenn sie vor einem stehen und man bittet sie freundlich, die Türe aufzuschließen, rasseln sie erstmal eine Viertelstunde mit dem Schlüsselbund bis sie endlich den richtigen Schlüssel finden.

Blieb noch der Hausinspektor. Der machte nicht viel Worte, hatte aber stets ein waches Auge auf mich als kiffenden Nachtportier und schritt in grüner Kniebunthose, Kniestrümpfen und Wanderschuhen durchs Treppenhaus. Er war mir unheimlich. Er war groß und stabil und führte diesen Dobermann an der Leine. Der trug zwar einen Maulkorb, doch das machte es nicht besser. Im Gegenteil. Was ist durchgeknallter als ein Dobermann mit Maulkorb, der von seinem neurotischen Herrchen, einem Haus-Inspektor in grünen Kniestrümpfen, an der kurzen Leine durchs Haus gezogen wird.

Wie auch immer, lange würde es nicht mehr dauern und einer der drei Hausmänner würde auf der 14. Etage auflaufen. Das war offensichtlich.

„Hey! You must be quiet! People are sleeping..!“ versuchte ich den Nachtsheriff raushängen zu lassen, vergeblich. Irgendwie wollte mir das keiner abnehmen. Ich schätze, das Leuchten in meinen Augen war einfach zu verräterisch.

„Oh, come on, Andy! Let’s drink to our health!“

Immerhin gelang es mir die Bande in Johnnys Zimmer zu lotsen, wo ich sie die nächste Dreiviertelstunde unter Kontrolle hatte und mitfeierte. Es gab Bier, es gab Whisky, ich drehte eine Tüte. Einer der Iren hatte Geburtstag. Sein Name ist mir entfallen, aber nicht das Bild, wie er da in seiner Unterhose auf dem Koffer hockte, die Augenbrauen hochgekämmt wie ein besoffener Ur-Vogel. Ich nannte ihn fortan nur the crazy kormoran.

In der anschließenden Freiwoche traf ich die Iren beinah jeden Abend am Tresen. Wir soffen uns gegenseitig unter den Tisch und erzählten uns irgendwelche Schoten, ich spreche ja ein fabelhaftes Schulenglisch, wenn ich einen im Kahn habe, zum Teil liquid like an Omelett.

Ich erkundigte mich, ob Johnny zufällig einen Namensvetter in England hatte, einen alten Knaben, der 1946 im Seebad Bournemouth als Soldat diente. Mein Vater hatte uns Kindern oft von diesem Johnny erzählt, der ihm in der Kriegsgefangenschaft begegnet war. Bei den Tommies, wie er die Briten stets respektvoll nannte. Bei den Tommies mit dem fussigen roten Haar.

Deutsche Kriegsgefangene arbeiteten am Strand in einer Kolonne. Zehn Burschen, alle um die 17, die Hitler im letzten Moment an die Front geschickt hatte, wo sie glücklicherweise in Gefangenschaft geraten waren. Ihre Aufgabe bestand darin, Strandbefestigungen abzubauen. Ein englischer Soldat wurde ihnen zur Seite gestellt, das war Johnny, Anfang zwanzig und immer einen Riecher für ein gutes Geschäft.

Eines Tages schlugen ihm die deutschen Jungs vor, aus den am Strand angespülten Jutesäcken Sommerschuhe zu fertigen und an die britischen Urlauber zu verkaufen. Um provisorische Strandschuhe herzustellen, musste man die Säcke aufschneiden, den Sand auswaschen und in der Sonne trocknen lassen. Dann die Sackleinen aufriffeln und neu flechten bis daraus eine Schuhform entstand, inklusive Leisten. Englische Rentner, die an der Promenade saßen, sahen den Prisoner of War (POW) schweigend bei der Arbeit zu.

Was den Verkauf betraf, so wurde Johnny prozentual am Gewinn beteiligt, und die Sommerschuhe verkauften sich blendend. Johnny fürchtete sich nur vor den Häschern des eigenen Militärs, er durfte ja keine Geschäfte mit dem POW machen. Außerdem, das leuchtete ein, konnte er schlecht mit dem geschulterten Karabiner durch den schweren Sand stiefeln und nebenbei Schuhe verhökern, das machte ihn verdächtig. Also ließ er das Gewehr fortan im Bauwagen stehen, der den Kriegsgefangenen als Aufenthaltsraum zur Verfügung stand.

So zog Johnny mit einer ausladend großen Sporttasche voller Sommersandalen über den Strand und verkaufte sie an nichtsahnende Einheimische, während die POW im Bauwagen saßen, Schuhe zusammenkloppten und über eine Knarre wachten, mit ausgeklapptem Bajonett. Noch 40 Jahre später kriegte mein Vater sich nicht ein, wieviel Vertrauen Johnny in ihn und seine Kameraden gesetzt hatte. (Am Bauwagen selbst hing nach einer Weile eine Tafel mit dem Tagesangebot aus: Clarks, 30 Pence.)

Davon erzählte ich Johnny, dem Iren, aber ich glaube, er verstand nicht eine Silbe. Irgendwann nahm er mich beiseite und fragte seinerseits, beinah schüchtern, ob ich etwas „hash“ klarmachen könne. Nur eine kleine Ecke.

„One bloody corner, no problem!“ rief ich und hörte mich um. Irgendein Spinner hatte ja immer was auf der Tasche. Nachdem ich eine kleine Ecke organisiert hatte, gingen Johnny und ich sofort vor die Tür, eine Purpfeife durchziehen. Was heißt ziehen. So gierig, so ausgehungert hat man nie wieder einen Menschen an meiner Roten Zora nuckeln gesehen wie an diesem Abend. Ich fürchtete schon, mein Metallpfeifchen würde in Johnnys Lunge verschütt gehen, so kräftig und fintenreich inhalierte er den Rauch.

Nach drei Monaten Lehrgang hieß es Abschiednehmen von den Irish Boys. Heim nach Limerick!  Johnny hatte ich noch einen dicken Brösel besorgen müssen, darauf hatte er quasi bestanden, zwanzig Gramm Roten Libbi, schließlich war der Shit in Irland doppelt so teuer wie bei uns.

Einen Tag vor dem Rückflug konnte Johnny kaum damit aufhören, meine Hand zu schütteln, mich zu drücken, die Schulter zu klopfen. Er roch schlimm nach Schnaps und weichen Eiern. „You write a book, I write a Postcard!“ Ich hab nie wieder von ihm gehört.

Nettes Volk, dieser Johnny.

*

Endgültige Version

13 Gedanken zu „Johnny

  1. Du weckt Erinnerungen an einen gemütlichen Abend in einer irischen Jugendherberge (maybe Limerick) vor ähm etwa dreissig Jahren.
    Der Herbergsvater erzählte Anekdote an Anekdote. Je mehr Schnaps floß, desto mehr wurde gelacht.
    Schade erinnere ich mich an keine Details. Was mich einmal mehr respektvoll meinen Hut vor deinem Erinnernkönnen ziehen lässt.
    Köstlich erzählt!

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  2. Pingback: Too much information - Lesezeichen - Lesezeichen vom 13. März 2015

  3. Eine Hommage an die Lebensfreude.immer und immer wieder 10 von 10 ,mehr geht ja nunmal nicht.Ich würde schon wieder zu gerne schreiben wie Lütze und ich Papa Lloyd kennen gelernt haben,den alten Kanadier und mit ihm gesoffen und gekifft haben.aber es ist DEIN Blog.sorry wenn ich das ständig mißachte!

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  4. Die Antwort ist toll.es macht echt Spaß zu schreiben.vor fünf Jahren war ich ein paar Monate im Knast,da hab ich Unmengen an Briefen geschrieben.das war befreiend.aber so was wie hier Dein Blog,Deine Geschichten lesen und dazu etwas aus dem eigenen Leben schreiben,das ist eine völlig neue Erfahrung.Danke!

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