Solange man mich nicht tötete, war mir alles recht

Das Mumms, eine ehemalige Eisdiele namens Luna-Bar an der Mummstraße, erlebte in den Achtzigern seine besten Tage. Der Laden entwickelte sich zum Treffpunkt verschiedenster Cliquen und Freundeskreise, die sich mit der Zeit überlappten bis am Ende ein einziges großes feierndes Publikum übrig blieb, das Mumms-Pack. Das Mumms war die letzte echte Goldmine der Stadt, und sie wurde erst aufgegeben, als auch das allerletzte Nugget gehoben war.

Freitagabend war der Höhepunkt der Woche. Der alte Karnickelschlauch war so brechend voll, dass Türsteher engagiert werden mussten, um dem Ansturm Herr zu werden. Wer es einmal reingeschafft hatte, stand dicht gedrängt am Tresen und verteidigte rempelnd seinen Platz. Zwischendurch Pinkeln gehen war ein Risiko. Wer es dennoch versuchte und auf die Schnelle keinen Platzhalter engagieren konnte, musste sich aus der vierten Reihe an den Tresen zurücksaufen, wenn er vom Klo kam, ein mühseliges Geschäft, das immerhin einen Vorteil bot: leichter ließ sich kaum Bekanntschaft schließen. (Und ehrenwerter kaum besoffen werden.)

Bevor Benzini Freitagabend im überfüllten Mumms aufkreuzte, hörte man schon von der Straße seinen heiseren Gesang…

Linkes Bein hüpft hin und her,
rechtes Bein tut sich nicht schwer, 
zwei Beine geh’n von ganz allein 
in das nächste Wirtshaus rein…

Das Trinklied hatte er irgendwo aufgeschnappt, doch wie immer, wenn er etwas aufgeschnappt hatte, was ihm gefiel, machte er es zu seiner eigenen Sache. (Wobei es nicht immer wie ein Trinklied klang, es kam auch schon mal rockiger rüber, wie ein Schnaps-Shuffle.) Die Eingangstür flog auf und eine kapitale Kinnlade bog um die Ecke und schaufelte sich den Weg frei zum Tresen.

„Platz da, ihr Haderlumpen!“

Benzini war da. Das Wochenende konnte losgehen.

Sonntagnacht, ein Uhr. Das Wochenende war gelaufen. Als der Geschäftsführer zur letzten Runde läutete, waren Benzini und ich schon unterwegs in Richtung Eissporthalle, um seinen Wagen abzuholen. Unsere Schritte hallten durch die dunkel daliegende Fußgängerzone, wir passierten die leeren Fabrikhallen der Bahnhofsgegend und die efeubewachsenen alten Villen der Schneidwarenfabrikanten, die so verlassen dastanden wie die Herren Konsul beim letzten Stehempfang – mit ratlosem Häppchengesicht.

Benzini rotzte auf den Boden.

„Was glaubt die blöde Kuh eigentlich, wer sie ist? Einstein?? Dass ich nicht.. lache!“

Einstein? Was redete er da? Ich verstand ihn nicht. Ich hatte schon Schwierigkeiten, Schritt zu halten. Ich hatte zu viel getrunken, wie jeden Freitagabend. Der einzige Grund, warum ich mich Freitagabend volllaufen ließ, war die Tatsache, dass es Freitagabend war, es gehörte sich einfach so, freitags voll zu sein. Benzini hingegen schien mit jedem Schritt nüchterner zu werden, es war der Zorn, der einen Schnaps nach dem anderen aus seinem Blutkreislauf tilgte. Er war mit Jacki in Streit geraten, als es um die Intelligenz der Frauen ging. „Ihr habt doch nur eine Gehirnhälfte zur Verfügung!“ soll Benzini gerufen haben. Aus Spaß.

Natürlich.

Jacki war eine leicht unterkühlte blonde Kellnerin mit langen Folklorebeinen und Stulpenstiefelchen, der Benzini seit langem nachstellte. In ihrer untadeligen Reinlichkeit erinnerte sie mich an Lassie, die Fernseh-Hündin, die aus jedem Brackwasser stieg und schon in der nächsten Szene wieder so trocken und tipp topp geföhnt aus ihrem Fell blickte, als wäre nichts geschehen. Jedenfalls nichts Nasses.

Der Abend war für Benzini nicht schlecht gestartet. Endlich hatte Jacki seinem Werben nachgegeben, auf dem engen Gang runter zum Klo knutschten und fummelten die beiden im Mumms wie die Teenies. Was dann vorgefallen war, keine Ahnung. Jedenfalls sah man Jacki plötzlich abhauen und Benzini im Gedränge hinterher, ein untersetzter Panzerknacker auf Säbelbeinen. Es dauerte keine fünf Minuten und er kehrte zurück ins Mumms, ohne Jacki, hektisch fluchend, um Jahre gealtert. Seither fluchte und rotzte und alterte er in einem fort.

Wir erreichten den Parkplatz hinter der Eissporthalle, wo Benzinis Wagen stand.

„Wir müssen uns ranhalten“, grunzte er und ließ den Motor kommen. „Ist zwei Uhr. Ist fast zu spät.“

„Ist immer zu spät“, leierte ich.

„Ach, halt die Fresse, Glumm. Die machen gleich dicht.“

Ich schaute ihn von der Seite an. Benzinis vierschrötiger Schädel hätte auch auf der Osterinsel stehen können, zwischen all den anderen Steinlegenden, Benzini, der Kater Karlo der Südsee. Die Gräfin meinte einmal, er hätte die schwarzesten braunen Augen, die sie je gesehen habe. „Richtig tintig sehen die aus.“

Unser Ziel war das Getaway, eine angesagte Rock-Disco am Stadtrand, die Ballroombräute und Rocker aus dem ganzen Umland anzog. Offiziell schloss „das Getto“ schon um zwei Uhr, doch inoffiziell konnte es auch drei, halb vier werden. Darauf bauten wir. Das war unsere Chance.

„Das schaffen wir“, raunte Benzini. „Ich geb Gas, bis ich in meinen Stiefeln sterbe.“

Benzini fuhr Auto, wie er Geschlechtsverkehr ausübte, in hektischen Intervallen, überfallartig, ein bockiges Kind. Und immer so, als ginge es um die Weltmeisterschaft. Er fuhr einen weißen NSU Prinz, Baujahr 71, mit integrierter Bordbar in der Heckablage, gleich neben der Batterie. Zur Grundausstattung gehörte eine Pulle Strohrum für Notfälle, etwas Tonic sowie eine Flasche Gin. Ungeöffnet. Beefeater in aller Regel. Gordon’s Dry ging auch in Ordnung.

Gin war unser Hauptnahrungsmittel damals, trotz des dubiosen Geschmacks von Parfüm. Gin machte ordentlich besoffen, dazu kam das literarische Renommee einer alles gleichschaltenden Zukunftsdroge. Das ganze lauwarm abgemischt mit Tonic oder O-Saft – runter damit. Innerhalb kürzester Frist verzeichneten alle Beteiligten zehn, zwanzig Pfund Übergewicht, allein vom Wacholderschnaps-Saufen.

Beefeater.

Gordon’s Dry war auch in Ordnung.

(Wir Deutsche sind ein Volk, das man mit Geld überfallen und ruhiggestellt hat. Darüber haben wir unsere alten Riten vergessen, etwa das Anpflanzen von Wacholder auf den Gräbern unserer Ahnen. Reinigendes desinfizierendes Wacholder. Auf dass es den Toten beistehe.)

„Na, sicher hat Jacki einen Dachschaden“, sagte ich. „Alle Alten haben einen Dachschaden. Das ist doch das Schöne an den Alten. Oder nicht.“

„Das Schöne, das Schöne..“, brummelte Benzini. Er war zutiefst beleidigt. Er war verletzt. Er hatte gehofft, sie endlich knacken zu können. „Die kann mich mal. Was glaubt sie eigentlich, wer sie ist?“

„Einstein“, sagte ich.

Er zündete sich eine Camel ohne an. „Haha.“

„Was war denn los?“ fragte ich.

„Na nix. Das isses ja. Gar nix war los. Und plötzlich haut die ab.“

„Quatsch. Keine Alte haut einfach so ab.“

„Ach nee?! Weg ist weg! Drauf geschissen. Blöde Kuh.“

Wie alle hübschen Kellnerinnen kokettierte Jacki mit ihrem Aussehen. Sie stand am Zapfhahn und wickelte sich ihre blonden Haarsträhnen um die Finger und spielte damit so selbstvergessen und sexy gelangweilt, dass sie alle Blicke auf sich zog. Minutenlang wurde kein Bier geordert, bloß um ihre kleine Vorstellung nicht zu stören. Sonst war nicht viel los mit ihr. Eine Hündin in Stulpenstiefeln, mit langen Folklorebeinen. Aber was wissen wir Männer schon. Die Frauen und die Tiefsee sind noch nicht erforscht.

Sonntags gab es ein Problem. Das Mumms öffnete erst am Abend. Das bedeutete Leerlauf bis 18 Uhr. Schon in der Mittagszeit saß ich zu Hause und wartete ungeduldig darauf, dass Benzini in seinem weißen NSU angeprescht kam, mit einem Getöse, als würde er im Hochgebirge notlanden. Genau wie ich hatte er die Nase voll vom Sonntagvormittag, von dieser verdammten Langeweile. Von Dressurreiten in der ARD, von der Augsburger Puppenkiste, von diesem schlimmen Kater.

Meine Mutter blickte aus dem Fenster. „Da kommt dein Zigeuner“, stöhnte sie.

„Mach hin, taube Nuss!“ brüllte Benzini und stieß die Beifahrertür auf. Kaum war ich unten auf der Straße und hatte einen halben Fuß im NSU, gab er Gas, mit fliegender Tür.

„TÜR ZU, GLUMM!“

Eigentlich mochte Mutter Benzini. Sagen wir, er war ihr nicht unsympathisch. Doch sie fürchtete, er würde mich mit seiner Wildheit ins Verderben ziehen. Wie jede anständige Mutter war sie davon überzeugt, dass ihr Sohn der bessere Sohn war, die Spitzbuben waren stets die anderen. Wir fuhren zur Eissporthalle. Die Pistenbar öffnete Punkt zwölf, sonntags war Happy Hour. Ausnahme: im Winter, wenn Discolaufzeit war, waren 50 Pfennig Disco-Aufschlag fällig, pro Drink. Aus Protest blieben Benzini und ich im weißen Prinz sitzen, hörten die Greatest Hits der Kinks und nippten an der Bordbar. Aber niemals Strohrum. Der lag bei neunzig Prozent. Der war für Notfälle reserviert.

In der Pistenbar bestellten wir große Bier und ein Skatblatt. Bauernskat war unsere Spezialität. Eine Variante von Skat, wenn man bloß zu zweit ist und Langeweile hat. Wenn der dritte Mann fehlt.

„He, Glumm, auf dem Tisch gehn sie kaputt!“ stieß Benzini mich an, wenn ich den Mädels nachstierte, die in der Eislaufhalle ihre Runden drehten und die Röckchen hochwarfen. Ich machte den Stich, dann geschah nichts mehr. Man hörte nur noch das Kratzen der gehärteten Kufen, die sich übers Eis bewegten. Es war stinklangweilig in der Pistenbar. Wenn der Sonntagmittag ein Hund gewesen wäre, man hätte ihn einschläfern müssen.

Meistens blieb es bei den zwei großen Bier und einigen Partien Bauernskat, bis es endlich halb sechs Uhr war und wir uns langsam auf den Weg in die Zentrale an der Mummstraße machen konnten. Ein einziges Mal hatten Benzini und ich uns gehen lassen: mit hundert Mark auf dem Deckel verließen wir die Eissporthalle, stratzevoll. Es war Winter, wir torkelten der nahen Schwertstraße entlang, vorbei am Traditions-Gymnasium, höherer Lehrbetrieb für Jungen seit 1841, von dem ich keine drei Monate zuvor verwiesen worden war. Benzini brach krakeelend zusammen, direkt vorm Haupteingang.

„MAHHAAAAAH..!!“

Er zog eine Show ab, das hatte die Welt noch nicht gesehen. Er rotierte und schubberte über den vom Schneeregen nassen Bürgersteig wie ein tollwütiger Breakdancer, ein B-Boy. Da der Nachmittag bereits dämmerte, hatte er sich für seinen Nervenzusammenbruch den Lichtkegel einer Straßenlaterne ausgeguckt. Das war obligatorisch. Benzini wollte gesehen werden, wenn er den Irren gab. Den bestussten Mann. Nichts war schlimmer, als nicht gesehen zu werden, wenn man durchdrehte. Es sah aus wie im B-Western, in voll ausgeleuchtetem Cinemascope, und ich war der Producer im Hintergrund, der mit fahrigen Fingern im Drehbuch blätterte, um zu sehen, was los war. Wie es weiterging. Doch ich fand nichts.

„Glumm, du Schwanzlutscher, hilf mir hoch!“ grunzte Benzini, aber ich wusste Bescheid. Reichte ich ihm tatsächlich die Hand, würde er mich nur in die Tiefe ziehen und sich kaputtlachen. Am Tresen war ich oft genug darauf reingefallen, wenn er zur Begrüßung mit dem ewig gleichen Kram rüberkam. Er zeigte mit dem Stinkefinger auf meine Brust, so als hätte sich dort ein Fleck niedergelassen, irgendwas Fieses vom Frühstück, doch wenn man den Kopf senkte, um sich selbst ein eigenes Bild zu machen, verpasste er einem einen kurzen kräftigen Nasenstüber, lässig mit dem Stinkefinger, und lachte sich scheckig. Ich fiel jedes Mal darauf rein. Ich hatte keine Chance. Das war so richtig nach seinem Geschmack. Benzini war ein sehr verlässlicher Bursche. Traditionsbewusst. Mit Säbelbeinen und rußigem Timbre.

Ich ließ ihn gewähren auf dem Trottoir der Schwertstraße und ging einfach weiter. Tat so, als wüsste ich nicht, wem er gehörte. Sorry, kenne ich nicht. Ist mir zugelaufen. Autos fuhren im Schritttempo vorüber, blieben stehen. Die Fahrer wollten sehen, was da los war. Benzini zeigte jedem Verkehrsteilnehmer den Muschifinger und blökte wie ein Viehdieb. Es war die pure Testosteron-Show.

Natürlich, auch Männerfreundschaften handeln von nichts anderem als Liebe. Karlos steckte mir zum 25. Geburtstag ein abgegriffenes Taschenbuch vom Flohmarkt in den Briefkasten, ohne jegliche begleitenden Worte. Einfach nur das Buch. Im Briefkasten. Ich denke oft an Piroschka, eine wehmütige kleine Ballade von der unschuldigen ersten Liebe. Zusammensein mit Benzini hingegen bedeutete ständig die Machtfrage. Er wollte immerzu klären, wie weit er gehen konnte, ob er sein Gegenüber dominierte. An diesem Wintertag gab es keinen Sieger. Unentschieden war ein guter Ausgangspunkt unter Freunden. Es war eh alles nur Testosteron sowie einige Partien Bauernskat am Sonntag.

Mit Benzini war es wie beim Fußball. Vielleicht konnten wir deshalb so gut miteinander, auch wenn wir nicht die allerdicksten Freunde waren. Er nannte mich seinen elftbesten Freund, aber er nannte alle seine Kumpel seinen elftbesten Freund. Im Hobbyteam der Mumms Kickers spielte er Verteidiger, er war ein ungemütlicher Gegenspieler. Stürmern wie mir, ich spielte bei den Anarchos, stand er neunzig Minuten lang auf dem Fuß, er war unerbittlich. Sobald man den Ball in Besitz hatte, kam er angewatzt und stocherte einem mit seinen ungelenken Füßen solange zwischen den Beinen herum, bis er die Pille irgendwie zu- packen bekam und ins Aus spitzelte, mit einem dreckigen Grinsen im Anschlag.

Sein Herz aber gehörte dem American Football, seit er eine Zeitlang auf einer US-Airbase bei Heidelberg gejobbt hatte. Nachdem er zurück im Bergischen Land war, stieg er bei den Steelers ein und spielte Bundesliga. Obwohl er spät mit dem Sport begonnen hatte, schaffte Benzini noch den Sprung ins Nationalteam. Zwei A-Länderspiele bestritt er Anfang der 80erjahre im Rahmen einer Italienreise.

Einmal vertraute Benzini mir etwas an. Wir standen am langen geschwungenen Holztresen des Mumms. „Ich bin ein Pechvogel“, meinte er leise, außer mir bekam es niemand zu hören. Es war, als öffnete er ein Geheimfach. „Und weil ich das weiß, bin ich ständig auf der Hut. Deswegen muss ich clever sein.. clever bis zum letzten Atemzug.“ Und einen Satz weiter: „Du darfst im Leben keinen Millimeter weichen, sonst haben sie dich direkt an den Eiern, die Hyänen.“ Ich wusste nicht genau, was ich damit anfangen sollte, doch eines Tages würde ich dahinterkommen, dachte ich. Warum Benzini ein größerer Pechvogel sein sollte als ich, zum Beispiel – also als zum Beispiel ich. Interessant war, dass er diesen Satz mir gegenüber niemals wiederholte. Das mit den Hyänen dagegen leuchtete mir sofort ein.

Logisch.

Abgesehen von unseren Bauernskat-Sonntagen zu zweit waren wir die meiste Zeit im Trio unterwegs, mit Karlos als drittem Mann. Eine Weile war noch ein Vierter mit im Bunde, ein verschlagener Bursche namens Zerra. Er war von der Schule geflogen, weil er alles vermöbelte, was ihm komisch kam. Er machte stets kurzen Prozess. Ein, zwei präzise Handkantenschläge, ein trockenes Knacken, dann war nichts mehr zu hören. Nicht mal ein Mucks. Er war brutal. Zerra war der einzige echte Schläger, mit dem ich je näher zu tun hatte. Zwar hatte auch Benzini etwas von einem Schläger, aber es fehlte ihm an Brutalität. Er hatte ein zu gutes Herz. Auf seine Art war er sogar schüchtern. Der Premiumproll, den er gerne gab, war eher Attitüde, eine selbstgezimmerte Showtreppe, die Benzini gekonnt hinabstieg, Stufe um Stufe auskostend. Ich mochte ihn sehr.

Zerra lernten wir kennen, als ihn sein Alter gerade vor die Tür gesetzt hatte. Er lebte mit einem Kettenhund, den man so gut wie nie zu Gesicht bekam, in einem leerstehenden Abbruchhaus am Frankfurter Damm – ohne Strom, ohne Heizung, nur mit Kerzenlicht. Zerra war eine Ein-Mann-Hausbesetzung, von der kaum jemand wusste. Weil das Haus der zukünftigen Stadtautobahn im Wege stand, konnten die Bagger jeden Tag anrücken.

„Und dann?“ fragte ich. „Was machst du, wenn sie dir die Hütte unterm Arsch wegreißen?“

„Dann.. wird sich schon was finden. Wir haben doch alle dieselbe Mami. Die wird schon für mich sorgen.“

Manchmal wünschte ich mir, ihn zu packen und alles, was falsch gelaufen war in seinem Leben, aus ihm herauszuschütteln, um zu sehen, was dann noch übrigblieb. Ob man damit arbeiten konnte. Er hatte es nicht leicht, keine Frage. Und er kam oft mit schönen Sachen rüber, wie „Jungs, ich hab kein Auge zugetan letzte Nacht… also zu schon, aber dahinter war die Hölle los.“

Während Benzini, Karlos und ich noch bei unseren Eltern wohnten und das Leben bequem auf Autopilot justierten, war Zerra ganz auf sich allein gestellt, nicht mal 17 Jahre alt. Er sprach leise, fast flüsterte er und grinste dabei so schief und herausfordernd, als könne er jeden Moment zuschlagen. Vor uns hatte er Respekt. Ihm war das Herz übergelaufen, als wir zu viert untergehakt aus dem großen Mühlenhof-Kino kamen, wo wir Quadrophenia von den Who gesehen hatten. Beseelt von den gewalttätigen Filmszenen am Strand von Brighton, wo sich Rocker und Mods gegenseitig was auf die Nase gegeben hatten, zogen wir „We are Mods! We are Mods!“ brüllend durch unsere Innenstadt. Wären uns zu diesem Zeitpunkt irgendwelche Ledernacken über den Weg gelaufen, Zerra hätte sie ganz allein kurz und klein geschlagen, doch es gab keine Rocker mehr in der Stadt. Wir waren ja nicht mal Mods – aber wen scherte das. In diesen Tagen war Zerra überglücklich. Endlich hatte er Freunde gefunden. Bis die Nacht hereinbrach und er mutterseelenallein zum Abbruchhaus am Frankfurter Damm marschierte, wo zum Wärmen nur der Bluthund blieb.

Nur? Wieso nur?“ widersprach er. „Der Hund spürt doch, dass ich seine Wärme brauche, wenn ich friere. Das macht ihn stolz. Das macht ihn glücklich. Er wird gebraucht. Mein Hund erfährt mehr Liebe als manch ein Mensch. Machst du jemanden stolz und glücklich durch deine Liebe?“

Mir fiel nichts ein. Dann: „Na, doch. Dich, Zerra.“ Die Stille, die folgte, war kurz.

Anfangs hielt ich ihn für einen Analphabeten, doch dann fand ich heraus, dass er mehr Bücher besaß als wir alle zusammen. Bücher, aus denen er sich seine eigene Straßenphilosophie zusammenpuzzelte. Sie erlaubte ihm, sich alles nehmen zu dürfen, was er zum Leben brauchte, ohne schlechtes Gewissen.

Jahre später wurde ich zufällig Zeuge einer für Zerra typischen Situation. Weil er einen Heroin-Affen hatte, nahm er dem schönen Dirk, einem Junkie, mit dem er für einen Deal verabredet war, sämtliche Packs ab, die er bei sich trug. Er musste dafür nicht einmal besonders laut werden. Ich schlag dich zu Brei, wenn du die Packs nicht freiwillig rausrückst, raunte sein Blick. Was sollte der schöne Dirk machen. Einen Kopf kleiner als Zerra, dünn und klapprig, nicht die Bohne asozial. Er weinte. Das bisschen Pulver war alles, was er noch besaß. Er sah mich hilfesuchend an. Ich saß in der Nähe auf der Bank und wartete auf den Bus. Er bettelte mich an, tonlos, etwas zu unternehmen. Ich sehe ihn noch dasitzen, unterm Dach der Bushaltestelle. Er wusste, dass ich Zerra von früher kannte, doch es war alles schon zu lange her, ich konnte nichts für ihn tun.

Zurück zur Freitagnacht, Jahre später. Wir saßen immer noch im weißen NSU Prinz vor der Eissporthalle. Benzini kam nicht darüber hinweg, was falschgelaufen war mit Jacki.

„Erst macht die Funz mich heiß, und ne halbe Stunde später lässt sie mich dastehen wie einen dummen Jungen, da soll mal einer durchblicken. Nur weil ich einen blöden Joke gemacht hab. Ich denk, Frauen wollen Männer mit Humor.“

Wir waren noch keinen Meter weit gekommen und hörten Kinks. All day and all of the night. You really got me. Die Songs hatten schon 20 Jahre auf dem Buckel, aber das machte nichts. Ray Davies war einer von uns, er sang uns aus dem Herzen. Er sang von Rüden, die am liebsten faul in der Sonne liegen und sich die Eier lecken. Where have all the good times gone? lautete der Schlachtruf im Schwenkbereich des ewigen Sommers. Wir waren bereit zum Kampf. Wichtige Schlachten, wir ahnten es, erledigten sich nur im Überdruss. Oder sie schwelten weiter bis zum jüngsten Tag.

„Ab die Post!“ krächzte Benzini.

Der Motor heulte auf, und Benzini heizte der Boxengasse entlang bis er die Bismarckstraße erreichte und nach rechts abzweigte. Da ich keinen Führerschein hatte, war ich der perfekte Beifahrer. Ich mischte mich niemals ein. Ich meckerte nicht, ich stieg nicht automatisch mit in die Eisen, wenn es brenzlig wurde, Hauptsache, wir blieben in der Spur. Ehrlich gesagt: solange man mich nicht tötete, war mir alles recht. Wir tuschierten den Bordstein der Verkehrsinsel, als wir in den Kreisverkehr einbogen. Der Wagen begann sich sofort zu drehen, wie ein Kreisel, drei Mal, vier Mal, um die eigene Achse. Ich wusste nicht, wo mir der Kopf stand, bis wir endlich zum Stehen kamen. In Fahrtrichtung. In der Ferne rote Bremslichter. Mülltonnen gruppierten sich auf den Gehwegen zu schwarz-grauen Gangs.

„Scheiße, was war das denn?!“ rief ich.

Benzini sprach kein Wort. Er war bleich geworden, die Augen nur noch Schlitze. Er trat das Gaspedal durch. Das Ganze war wie ein Actionfilm, wo eine Nummer, die so niemand so geplant hatte, perfekt gelaufen war. Die Crew beglückwünschte sich gegenseitig. Was’n Massel, Kameraden! B-Boys! Da hörten wir es. Gleichzeitig. Es flapperte unterm Wagen, als wir die lange Straße hoch nach Hästen fuhren, irgendwo tief unterm Wagen. Ein stetes Gubbeln, und der NSU rutschte leicht zur Seite weg.

„Ein Platten…?! Na Scheiße! Das hat noch gefehlt!!“ Benzini hielt an, stieg aus. Er trat gegen die Karre. „Erst zieht die blöde Funz Leine, und jetzt einen Platten! Ich kotz gleich!“

Mit geplatztem Reifen schlackerten wir hinauf bis Hästen, von wo es nur noch bergab ging, Richtung Getaway. Benzini schaltete den Motor aus, wir rollten die Serpentinen hinunter. Ohne Licht. Im Blindflug. Flapp. Flapp. Benzini klebte an der Windschutzscheibe.

„Ich seh nix!“

Flapp. Flapp. Es klang wie ein Tonband, das gerissen war, sich aber unaufhörlich weiterdrehte.

„Ich mach mir die scheiß Felge im Arsch, verdammt!“

Natürlich hätte man aussteigen können, den Wagen abstellen und per Anhalter weiter, aber im besoffenen Kopf war das keine Option. Es ging nur noch darum, nicht von der Schmiere erwischt zu werden, ein rein sportlicher Ansatz. Ohne den Motor noch mal angeworfen zu haben, rollte Benzini auf den riesigen Parkplatz vorm Getaway. Stoppte unmittelbar vor einer erleuchteten Telefonzelle, um genug Licht zu haben für den Reifenwechsel.

„Der Glumm ist ja mal wieder zu besoffen, um zu helfen“, hörte ich ihn fluchen. Während er sich daran machte, den Ersatzreifen aufzuziehen, ging es wieder um Jacki. Sie ließ ihm keine Ruh, doch ich hörte nicht hin. Ich hatte den Punkt erreicht, wo ich nichts mehr trinken musste, um noch betrunkener zu werden. Ich wollte nur noch ins Bett. Was hatte ich hier überhaupt zu suchen. Immerhin, ich war ausgestiegen, um den weißen Prinz nicht mit meinem Gewicht zu belasten. Damit war aber auch alles abgedeckt, was ich aktiv zum Reifenwechsel beitragen konnte. Da Benzini reinen Wagenheber hatte, bockte er den NSU kurzerhand auf seinem rechten Oberschenkel auf.

„Hier, versuch du mal, die Pelle aufzuziehen.“

„Die Pelle?“

„Liegt da. Ich halt die Kiste solang oben. Brauchst du nur draufzustecken, die Pelle, und die Muttern festziehen.“

„Womit?“

„Na, mit dem Schraubenschlüssel!“

„Wo..?“

„DA!!“

Kaum hatte ich den Ersatzreifen in der Hand, verlor ich das Gleichgewicht und taumelte rückwärts. Ich geriet ins Stolpern und legte mich der Länge nach hin, in die hell erleuchtete Telefonzelle, deren Tür offenstand. Noch im Fallen versuchte ich Halt zu finden und riss den Telefonhörer von der Gabel, er gongte gegen die Seitenscheibe. Ich lag auf dem Rücken, zu überrascht, um Scheiße zu brüllen. Es war, als wäre ich in eine fremde Dekoration gestürzt. Ein volltrunkener Käfer. Benzini stöhnte auf, „Mannomann..“, ließ den Wagen vom Oberschenkel ab und holte sich den Ersatzreifen selbst.

Zehn Minuten später war die Pelle aufgeschraubt. Benzini hatte es allein hingekriegt. Er fuhr die paar Meter bis zur Telefonzelle, um mich einzusammeln.

„Steig sein! Mach schon, du Null!!“

Ich mühte mich auf den Beifahrersitz. Mir taten alle Knochen weh. Kaum hatte ich einen halben Fuß drin, gab er Gas. Mit fliegender Türe.

„TÜR ZUU!!“

 

31 Gedanken zu „Solange man mich nicht tötete, war mir alles recht

  1. Benzini? Karlos? Zerra? Gut ausgedacht Herr Glumm. Aber die drei Buben heissen ganz anders. Und sie wohn(t)en hier in meinem Kaff. Westi, Stahl und Hoffel. Fast vierzig Jahre ist das jetzt her.
    Von wegen Benzini, Karlos und Zerra. Und überhaupt: die Luna-Bar hiess in Wirklichkeit Terminus. So!
    Aber klasse geschrieben haben Sie Ihre Geschichte. Chapeau!

    Abendgruss aus dem wochenendlichen Bembelland, Herr Ärmel

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    • Lieber Herr Ärmel,
      der Hr. Glumm kann eigentlich gar keine Geschichten erfinden!
      Genau genommen ist er der Dokukanal in der Bloggerszene, zumindest in der Solinger.
      Westi, Stahl und Hoffel….wer soll das sein? Kenn ich nicht!
      Die Geschichte ist bis auf Nuancen richtig!
      Glumm verwendet für gewöhnlich keine Klarnamen, obwohl viele Leser schon wissen, um wen es sich handelt.
      Und Sie, Herr Ärmel, waren nicht dabei und haben die Story vermutlich aufgeschnappt.
      Ach so, Nuancen; Es war kein Kreisverkehr, sondern eine langgezogene Linkskurve am Dreieck, außerdem befand sich der Wagen auf dem linken Knie/Unterschenkel.
      Ich weiß das ziemlich genau.

      Gefällt 2 Personen

      • „Westi, Stahl und Hoffel….wer soll das sein? Kenn ich nicht!“
        Lieber Herr Benz, das ist aber schade. Denn deren goldene Zeit ist vorüber und wer zu spät kömmt… aber dieses Bonmot kennt man doch bestimmt auch in der Solinger Szene. Und das magische Bembelland haben Sie offensichtlich auch noch nicht bereist.
        Und weiterhin, lieber Herr Benz, woher wollen Sie mich denn kennen und ob irgendwo dabei gewesen bin oder nicht. Ebenso wie die Personen des von mir geschätzten Herr Glumm, trete auch ich nicht unter meinem Klarnamen auf. Jedenfalls nicht ganz.
        Aber ein Klarer geht doch immer noch – egal ob mit kurvigem oder dreieckigem Gesichtsausdruck.
        Ich weiss das ganz genau.
        .

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  2. da fällt mir ein..
    der Ralf Schwammberger alias Schwammi hatte auchmal einen Weissen
    getunten NSU , den er im Sommer denn , bei schön Wetter kurzerhand umbaute in eine 1200 Münch Cabrio
    das waren noch Zeiten den Klingenring hoch..
    Gott hab ihn selig!

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  3. es war ein eben so schöner Sonntag wie er häätee hatt
    stattfinden würde gekonnt ,mit der Freundin am Dom
    ein Ausflug
    beim früh Kölsch
    Borussia jegen Gladkolnn
    et war schüng wedda un datt mäddchen neben mir an TISCH hadde grosse , hübsche dunkle Augen
    sie sass da mit ihren Eltern und ihrem Bruder
    ich glotzte ihr die ganzeZeit auf die Titten,was meine Freundin bemerkt hatte wegen meinem Blick
    durch die eventuell zuweot Geöffnetze Bluse unter den ohnehi nich vorhandenen Bazar
    ich hab mich auch ein wenig geschämt als wir uns unvermittelt in der Toilette ansahen wie zwei Spinner
    nur wegen dem Ausblick
    tja.
    schön

    doof
    als wir in die Innenstadt der Einkaufsmeilöe einkehrten lag noch die Aktion meines fusses
    nah
    unser geplanter Bummeltag war im Gange

    auf einmal oder plötzlich steht Thomas da , vor einem Bekleidungsgeschäft und er er kennt mich nicht sofort aber ich auch nich
    wer rechnet denn mit sowas
    seine neue Frundin wollte später ihn abholen und wir könnte ja noch was trinken meinte ich ?
    meine Freundin sagte erstmal nix dazu..

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  4. es war doch etwas ruhig als wir uns in der ausgemachten Kneipe nach Feierabend wider
    fanden
    sie fand einen weg und Tina an auch
    und ich sie an
    Thomas guckte Tina an
    das Eis war gebrochen
    eine hübsche Frau hat er da gefunden im Zug

    zufälllig
    wie er betonte in off
    des Öfteren nach der Sammelei der Schätzung
    im Zuch
    sass ausgerechnet vor ihm aus dem oder in den Weg vom Urlaub
    Therapie?
    wir haben uns sofort verstanden
    schade das ich so cool bin..
    sie war doch abgebrüht und Gymnastiklehrerin

    und da hatts Boom genacht

    da sah ich ihn das letzte mal in Köln.

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  5. der Boz ist ganz schön unterwegs gewesen in der Welt,bis heude
    ich glaub zu wissen das er zwei Söhne hat
    einer starb mit einundzwanzig an einer Überdosis.

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  6. wie dem auch sei.
    inzwischen gibt es Bierkästen mit dreissig Ampullen
    das Dithmarscher Urtyp sprängt hier die Dimensionen eines normalen Säufers
    den Kofferraum
    voller Krohnkorken
    was ich lange Zeit mit Bierdeckeln verwechselte..
    passt nich
    wetten…doch

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    • wenn du mit deiner Vergangenheit fertig bist sag bescheid
      sagte sie und versprach mir nur das gleiche
      mit siebzehn war sie in den staten nahe Wyoming im nirgendwo zur zum !Jahr posaunen und schleifen
      unter Bildung und wurde fast das erste mal vergewaltigt auf der Brücke
      zwei Neger wie sie sachte aber total nett…
      in Virginia ?
      nee
      ok
      und dann=
      ?
      „ich kam zurück und baute auf (in Turkis)
      „eehm ,ja§
      klar
      türkiss
      achso
      die Kneipe gehört mir.

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  7. ein Abend in eoiner verauchten kneipe ,verrucht
    aber es stank nicht nach Rauch
    mehr Wohnzimmer und Couch mit Sessel und Eche drum
    wer da grad nun platz nimmt..
    ich sagte ich war schonmal da aber da warst du nicht da..
    „ja und wer bist du?
    wenn du mich so komisch anguckst
    ich bin der der den du nicht kennst
    weil
    du mich kennst
    „mir ist schon aufgefallen das du müde bist
    „ja ja es ist lange her wissen Sie
    kennen Sie den Florencio ,der ihnen zum fünfzigsten rote Rosen Brachte 5o
    —————————————.,.
    „ja ich erinner mich
    der FLORI , sagten SiE
    ist tot und seine Frau auch?
    „ja ,der hat sie geliebt
    und ihre Kneipe
    aber wen interessiert das
    er hat aufgehört mit der Vernachlässigung und sich den Klassikern verschrieben
    und vorgeführt

    Sekunde mal , ich komm gleich wieder
    „ja …die haben doch da drüben gewohnt
    „ja genau die mein ich.
    „ich hab die auchmal besucht ..
    aber Edith schien zu schlafen

    ja!

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  8. Pingback: Mutmaßungen über das Deutschsein, Advent bei Frau Graugans | GERDA KAZAKOU

  9. Mann Glumm, was für eine geile Story. Voll Blue Hawaii. Hab ich grade nochmal gelesen. Man kann diesen Chef-Abratze einfach nicht besser beschreiben, fast liebevoller als er es verdient, der Hundsknochen.

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