Straßenbahnfahrt Heiligabend 1934

Vater und Sohn, Susanne Eggert 

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Als wir später am Abend beim Griechen saßen, fiel mir Vaters Lieblingsgeschichte aus seiner Kindheit ein. Er hatte sie erzählt, wenn wir nachmittags auf dem Balkon saßen und heißen Kakao schlürften, und wenn die ersten Takte der Geschichte erklangen, wusste ich, was kommt, und hing an seinen Lippen. Es war nicht mal eine besonders originelle Geschichte, aber er liebte es, sie zu erzählen, und wenn der Mensch etwas liebt, wird die Vorstellung gut.

Als kleiner Junge fuhr er regelmäßig mit der Straßenbahn rauf nach Cronenberg zu Tante Milly, die einen Lebensmittelladen führte. Die Linie 5 zwischen Solingen und Wuppertal galt als eine der landschaftlich reizvollsten Straßenbahnlinien Deutschlands. Die Zugmaschinen hatten die stärksten Motoren, um den tückisch steilen Anstieg nach Cronenberg zu bewältigen, und die Fahrer, Meister ihres Fachs, mussten all ihre Fahrkunst aufbieten, wenn es auf dem Rückweg nach Solingen-Kohlfurth rasant bergab ging.

Es war Heiligabend 1934, als der kleine Knirps, der mein Vater werden sollte, in Cronenberg die Linie 5 bestieg, doch als er zahlen wollte, stellte er fest, dass sein Geld weg war – zwei Groschen, er hatte sie verloren. Es war die letzte Bahn, die an diesem Tag fuhr, und keine Zeit mehr, um zurück zu Tante Milly zu eilen und Geld zu holen.

Mein Vater war der einzige Passagier an Bord. Nicht mal ein Schaffner hatte Dienst. Bloß der Fahrer und er waren anwesend.

Der Schnee wirbelte gegen die Scheiben.

“Häss du kin Jeld, Jung?“ sagte der Straßenbahnfahrer, (er trug die Mütze wie ein Kapitän, so Vater.) „Maht nix. Weisste wat, Jung? Kannste Weihnachtslieder singen?”

Vater nickte.

“Jut. Dann singste eben. Komm, ich hölp dir.”

Und so sangen die beiden Weihnachtslieder, während sie in der einbrechenden Dunkelheit runter nach Solingen rumpelten. Oh Tannenbaum, Stille Nacht, heilige Nacht.

In Kohlfurt ging meinem Vater der Text aus, er wusste nicht weiter. Er hatte Angst, jetzt aussteigen zu müssen. Jetzt, wo es wieder steil bergauf ging, die Cronenberger Strasse hoch. Es war bitterkalt draußen.

“Na, dann pfeifste eben noch wat, Jung.”

Als sie am verschneiten Stöckerberg in Solingen ankamen und der kleine Willi ausstieg, winkte ihm der Fahrer hinterher.

„Frohe Weihnachten, Jung! Und sing nit so schief, wenne gleich ungerm Christbaum stehst!“

Das vergaß Vater nie zu erwähnen, und er kicherte vergnügt in sich hinein.

11 Gedanken zu „Straßenbahnfahrt Heiligabend 1934

  1. Klasse Lektüre am frühen Morgen, jahreszeitlich passend, rührend menschlich. Ohne jedes Geglimmer, nur einfach geschilderte Menschenfreundlichkeit. Lieblingsgeschichte, an die wie viele Male erzählt….festsitzend in der Sohneserinnerung.

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  2. Menschenskinder, das saust ganz schön in mein Herz … , weißt Du was, das ist Weihnachten, nur das, eine kleine zarte Geschichte, vom Papa erzählt … dank Dir sehr, mir fällt da nämlich auch grad was ein…
    Extrem viele liebe Grüße, Margarete

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  3. Ganz wunderbar,so zart,die Tränen kullern,ich seh klein Willi,vielleicht sogar den kleinen Heinz eine eigentümliche Wehmut hüllt mich ein.Danke,du hast meine Seele berührt.

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  4. das sind die Solinger Gene(iies)
    er besticht durch dicke Waden holprigen Gesang
    Hauptsache er kann Pfeiffen..
    die zwei Groschen lagen locker ohne zu klimpern
    in der Sparbüchse

    hihi…..

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  5. Diese rührende Geschichte voll tiefer Menschlichkeit sollte dieser Tage mal auf den Titelseiten unserer grossen Tageszeitungen stehen. Sonst nix drum, weder blinkende Zimtsterne noch Zuckerwattenlametta.

    Vielen Dank dafür und herzliche Grüsse aus dem winterlichen Bembelland, Herr Ärmel

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