Ameisen, nickt Grossvater

Vormittags fährt die Gräfin ins Atelier und ich schnappe mir den Hund für einen kleinen Frühlingsausflug zur Müngstener Brücke. Die steht in den Wupperbergen, ist fußläufig erreichbar und stattliche 107 Meter hoch und verbindet seit 1899 Solingen mit Remscheid.

„Schau mal da oben“, sag ich zum Hund, als wir eine Stunde später, es geht ständig bergab, unter der höchsten Eisenbahnbrücke Deutschlands stehen. „Von da springen die Lebensmüden runter.. und..“, ich zeichne einen Bogen bis zum Andenkenstand, „hier unten schlagen sie beim Brezel-Bernd durchs Dach und machen alles kaputt.“

„Mami, was erzählt der Mann dem Hund für Sachen?“ fragt die kleine Annika.

„Komm jetzt!“ zischelt die Mutter und zieht Annika eilig fort.

„Und du machst schön Platz“, sag ich zum Hund, „ja, so ist schön.“

Wir machen beide schön Platz im sonnigen Gartenlokal. Die Wupper driftet gemächlich voran, man hört das Abschlagen der Bälle von der benachbarten Minigolfanlage, in der Luft ist dieser leicht zitronenbuttrige Aprilgeruch.

Am Nebentisch eine Mulattin. Sie trägt einen knappen schwarzen Lederrock und knabbert die Fritten einzeln aus der hohlen Hand, selbstvergessen und sexy, sie macht einen kleinen Porno aus jeder einzelnen Fritte. Drei pausierende Motorradfahrer, Kennzeichen ME für Mettmann, schauen ihr gebannt zu. Einer, der Anführer, hält den Anblick nicht länger aus und fordert von seinem Arbeitgeber lautstark sein altes Prämiensystem zurück.
„DAS WAR VIEL BESSER!“

Unterm großen Schöller-Eiscreme-Schirm sitzt ein Mann und beginnt seine elektrisch verstärkte Zither zu spielen. Er trägt Lederhose, Sandalen und einen edelweißbestickten Tirolerhut, als wären wir in München auf dem Oktoberfest. Schön, er will Geld verdienen. Aber müssen Leute, die Geld verdienen wollen, unbedingt laut sein und so tun, als wären sie auf dem Oktoberfest? Haben die Leute überhaupt keinen Schambereich mehr? Ist da jetzt radikal alles wegrasiert? (Diese arische Mode, sich auch noch das letzte Schamhaar auszurupfen, guckt mich komisch an. Ich sehe überall kleine nackige Kinder mit riesigen Geschlechtsteilen, funktionell und glatt.)

Die Mulattin saugt am Strohhalm, der in einer Sprite-Dose steckt, und gähnt. Auf dem Tisch liegt ihr Handy. Sie zieht es heran und stiert aufs Display, wie eine Neanderthalerin ins Feuer. Dann die nächste Fritte. Guckt ihr eigentlich jemand NICHT zu?

Zwei Schuljungs kommen angefahren und pfeffern ihre Räder in die Ecke. Das haben wir früher auch so gemacht. Find ich gut.

„Warst du schon mal wandern?“ fragt der dicke Junge seinen Kumpel und beißt ins mitgebrachte Wurstbrötchen, und weil der Kumpel nicht antwortet, fährt er kauend fort, „ich war einmal wandern, im Urlaub in Österreich, letzten Sommer. Sechzig Kilometer sind wir gewandert. Mir taten die Quanten vielleicht weh, ich hatte richtig so rosa-fette Bakterien an der Ferse.“

Der Kumpel hat anderes zu tun. Er verfolgt fasziniert die kraushaarige Mulattin bei ihrem Job an der Sprite-Dose. Als die beiden Jungs die Fahrräder aufheben und aufbrechen („Marius, steck den dicken Löffel ein, den kann man super als Spiegel benutzen“), setzen sich eine junge Frau und ein Mann an den Tisch.

Die Frau, Polizeischülerin, hadert mit ihrem künftigen Beruf.

„Ich bring es einfach nicht übers Herz, den Heinz zu verpfeifen, und wenn der mir sonst was angetan hat. Guck mal, sonst hätte ich den Heinz doch längst verraten müssen. Mach ich letztens zuhause den Kleiderschrank auf, sind da mindestens zehn Gitarren drin, noch original verpackt..“

„Ist wahr?“

„Ja, sag ich doch. Ich sag zum Heinz, sag mal, ist das jetzt hier dein verdammter Gitarrenschrank oder was?! Und wo kommen die her?“

Ihre Stirn liegt in Falten, wie das suppende Wasser der Wupper.

„Und letzte Woche, ich denk, ich guck nicht richtig, setzt der mir eine nagelneue Mikrowelle in die Küche. Ich sag, Heinz, was soll das? Sagt er, ich liebe dich doch. Ja, scheiße, sag ich, du liebst mich doch nur bis du dein ganzes Zeugs wieder losgeworden bist! Ist doch wahr! Oder?“

Zwei Tische weiter, der Wind steht günstig, unterhält sich ein Gast mit der dürren Kellnerin.

„Ich komm ja nur einmal die Woche“, sagt er.

„Da habe ich Sie aber noch nie gesehen“, wundert sich die Kellnerin.

„Manchmal komm ich auch drei, viermal die Woche.“

„Dann habe ich Sie aber schon mal gesehen.“

Die Nervensäge an der Zither legt eine Pause ein, was von allen Anwesenden wohlwollend goutiert wird. Ich hole mir eine der ausliegenden Tageszeitungen. Im internationalen Teil lese ich die Meldung, dass allein in Nordrhein-Westfalen mehr Autos zugelassen sind als auf dem ganzen afrikanischen Kontinent zusammen. Könnte man da nicht bei der nächsten Hungersnot sämtliche PKW aus NRW nach Afrika überführen und an die dortige Bevölkerung verfüttern? Die wäre satt und hier die Autobahn leer. Eine win-win-Situation. Finden doch alle gut.

Über die Müngstener Brücke, zusammengehalten von einer Million Nieten, rattert der Regional-Express in Richtung Remscheid. Der Hund kläfft nervös mit, im Takt der Gleise.

„Fein“, lobe ich. „Und jetzt die Klappe zu.“

Eine Kleinfamilie hat Platz genommen. Der Sohn ist damit beschäftigt, den Puderzucker von seiner Waffel zu pusten, über den Tischrand hinaus. Schwer sinkt er zu Boden.

„Na! Tu das nicht, David Christopher!“

„Doch, dann kommen die Ameisen von überall!“

„Ja eben. Das will doch niemand.“

„Doch, ich!!“

Er will aufstehen, wird aber sofort niedergedrückt. Dabei will er doch nur einen Stock suchen, um die Ameisen zu verjagen, die noch gar nicht da sind. Die sich gerade sammeln zur Großen Puderzuckeraufnahme. Als der Knirps anfängt, beleidigt mit dem Taschenmesser eine Piratenflagge in den Tisch zu ritzen, bricht die Familie auf, zumal sich auch der Zithernde unterm Schöller-Eiscreme-Schirm wieder an sein Instrument wagt.

Die Kellnerin, lila Kleid, Stöckelschuhe, mager, verbreitet beim Tischabräumen einen solch unangenehmen Schweißgeruch, als würde die Wupper Leberwurst führen. Die  grobe.

Eine Großmutter und ein Großvater setzen sich zu mir an den Tisch, ist ja genug Platz für alle.

„Sieh mal, da unten“, sagt Großmutter und zeigt zu Boden.

„Ameisen“, nickt Großvater.

16 Gedanken zu „Ameisen, nickt Grossvater

  1. Großartig. Bergische Kaffeetafel mal ganz anders. Und jetzz noch die Geschichte von dem Ingenieur, der sich umgebracht hat, bevor die Brücke fertig war, weil er glaubte, dass die Teile nicht zusammen passen… Ich hatte mal eine Freundin aus Remscheid, die hat mir die Geschichte jedes Mal erzählt, wenn wir über die Wupper fuhren.

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      • da Solingen .Eine Höhe von 190 Metern (über dem Meersspiegel ) liegt
        und Remscheid bei etwa 365 -370 Metern ist es schon erstaunlicht wer diese Ingenieursleistung vollbrachte,einst
        das muss man erstmal begradigen.
        unter einer Brücke möchte man nicht leben.
        wer spielt nicht schonmal mit dem Gedanken zu fliegen.
        ach ,ja ich hab immer gut aufgepasst in Religion und Heimatkunde
        der Ingenieur überlebte sein Meisterwerk um 30 Jahre , es hat stand gehalten.

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  2. Pingback: 26.02.2019 – KieselBlog

  3. Hach, die Müngstener Brücke! Die hab ich auch schon mal in einem Buch verwurstet. Und dann immer die Mulattin: Wie du das alles miteinander verwebst, so nebenbei die tollsten Einblicke ins unterschiedlich Menschliche lieferst – da kriegt man mal kurz mit, wie du dich literarisch immer weiterentwckelst. Toll, großes Kino!

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  4. „Mulattin“? Lieber „afrodeutsche Frau“ oder einfach „Frau mit dunkler Haut und krausen schwarzen Haaren“, das klingt nicht so nach Schublade und Rassendiskriminierung.

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