Das junge Fräulein Weiden

Es war Sommer, als mir das junge Frl. Weiden über den Weg lief. Es jobbte seit kurzem als Zimmermädchen im Turmhotel. Es war keine zwanzig Jahre alt, schätzte ich, und es trug gern luftige Sommerkleidchen. Es roch ein bisschen süßlich unterm Arm, wenn es ihn anhob, wie ein Buch, in dem noch niemand geblättert hatte und in dem Popcorn eine Rolle spielte.

Das Fräulein war in seiner ganzen Erscheinung keinem bestimmten Jahrzehnt zuzurechnen, die Zeit hatte es auf ihrem Weg durch die Geschichte irgendwie links liegen lassen. Das muss kein Unglück sein. Mit unscheinbaren Mädchen ist es ein bisschen wie mit Nebensätzen. Man liest sie mit, weil sie nun mal da sind, aber so richtig wahr nimmt man sie nicht. Und dann hauen sie plötzlich ein Pfund raus, dass man denkt, wow, wieso ist mir das vorher nicht aufgefallen.

Es sind ja oft gar nicht die Hauptsätze, (die wie auf Stelzen daherkommen, die vor Kraft kaum laufen können), die einem sofort ins Auge springen. Wer ein bisschen Erfahrung hat mit dem Schreiben und mit dem Lesen, der weiß: Es sind eher die eingeschobenen kleinen Nebensätze, (das Volk der cleveren kleinen Sherpas, die Unterstützer-Szene), die den Ballast einer Story tragen und denen man zunächst, auch als Schreiber, zu wenig Beachtung schenkt, die aber den Ton vorgeben. Den Takt. Den Herzschlag. Den Blutzoll.

Genau das sind die Sätze.

*

Es wollte sich mit mir treffen, das junge Frl. Weiden. Es wollte sehen, was das Leben zu bieten hatte, bevor es alt werden würde und sich auf einen eigenen Planeten rettete, wie alle anderen auch. Es war vielleicht ein bisschen naiv, das Frl. Weiden, ja, ich glaube, das lässt sich ungestraft sagen. Es wusste noch nicht viel vom Leben.

Wie schön.

Es war viertel vor sieben in der Früh an diesem Sonntag. Gleich hatte ich Feierabend. Ihr Dienst hingegen hatte gerade erst begonnen, sie war sogar eine Viertelstunde zu früh dran. Wir standen in der Hotelküche nebeneinander, füllten frisch gekochten Kaffee in Thermoskannen um und blickten über die Dächer der Stadt, die elf Stockwerke unter uns lag und noch schlief. Nur die Morgensonne hatte die Motoren schon angeworfen, ihre Strahlkraft weißte die Küche.

Von der Rezeption war das leise Klicken der Telexmaschine zu hören, die seit Stunden Anweisungen für Geschäftsleute aus Alabama empfing und ausdruckte. Ganze Papierbögen waberten über den Teppichboden.

Wir unterhielten uns ein bisschen. Es war keine wirkliche Unterhaltung. Es war eher, als würden sich zwei Hunde umrunden. Beschnuppern. Wir kannten uns ja nicht. Ein paar Mal war das Fräulein pünktlich zum Frühdienst erschienen, genau in dem Moment war ich Richtung Lift gegangen und hatte nur tschüss gesagt, worauf das Fräulein hallo gesagt hatte. Das war alles gewesen – bis hierhin. Wir hatten noch keinen Moment für uns gehabt. Nur kurzes Knistern beim Tschösagen. Freundliche Blicke.

In der Hotelküche duftete es nach Kaffee und den gebrannten Mandeln vom Rummel, der unten am Platz vor der Klingenhalle gastierte und seine Gerüche elf Stockwerke hinaufschickte, Doch vielleicht bildete ich mir die Gerüche auch nur ein, beim Blick auf die bunten Dächer der Fressbuden und Fahrgeschäfte. Eins wusste ich aber genau: Auf der Kirmes gab es gewässerte Kokusnuss-Achtel und das junge Frl. Weiden trug ein zitrusgelbes Kleidchen an diesem Tag.

Sehr schlicht, und sehr sehr sexy.

„Nachmittags treffe ich mich immer mit meinen Leuten im Karstadt-Cafe. Hast du vielleicht Lust auch mal zu kommen? Heute Nachmittag oder so? Wir sitzen immer am selben Fenster.. Wir machen viel Unsinn. Wir lachen viel.“

„Wer?“

„Na, ich und meine Freundinnen.“

Ich starrte sie an. Meinte sie das ernst? Wen glaubte sie vor sich zu haben? Einen freundlichen, ebenso aus der Zeit gefallenen Nachtportier, der seine einsamen Nachmittage im Cafe verbrachte? Im Karstadt-Cafe? Liebes Frollein, dachte ich amüsiert, ich bin ein Trinker, ein Kiffkopf, ein Acid-Head und ein Blower, ich bin auf dem besten Wege, mich in den Club 27 einzubringen. Da hab ich keine Zeit für Spielchen. Sich mit Drogen umzubringen ist harte Arbeit. Da heißt es seine Zeit gut einteilen.

Das Frl. hatte schöne lange weiße Beine, seine Stimme zitterte ein bisschen. Es war gar nicht unscheinbar, es war kein Beistellmöbel, nicht einmal schüchtern war es. Es hatte etwas gewagt, als es mich an diesem Morgen in der Küche des Turm-Hotels ansprach. Es wollte sehen, wie ich auf ihren Vorschlag reagierte.

Ein paar Minuten noch, dann würde die Chefin eintrudeln, sie kam stets Punkt 7, wenn sie Frühdienst hatte. Je länger das Zimmermädchen neben mir stand, desto stärker wurde das Verlangen, ihm die Zunge in den Hals zu stecken, es zu packen wie im Film, ohne Palaver. Einfach mal was wagen. Es ist immer das gleiche. Eine Frau will einen Mann kennenlernen, ein Mann will eine Frau küssen. Kennenlernen hinterher. Vielleicht.

Es blieb kaum noch Zeit.

„So, ich glaub, ich fang dann mal mit der Arbeit an“, sagte das Fräulein Weiden.

Ich folgte ihm vorbei am Frühstücksraum, der noch leer war um diese Uhrzeit. Die Sonne schien hinein, man sah Staubflusen im Gegenlicht auf- und niedersteigen, wie kleine Seepferdchen. Die ersten Buffet-Gäste würden die Chinesen vom 12. Stock sein, die jeden Morgen um die gleiche Zeit einmarschierten und tonnenweise heiße Milch zum Frühstück verlangten.

„Wir trinken Kaffee, auch mal eine Limonade, und Gerti kann Witze erzählen, soo gut, das musst du hören“, prustete Frl. Weiden, das mir vorausging und die Tür zur Wäschekammer aufdrückte.  Dass ich ihm folgte wie ferngesteuert, schien das Frl. nicht zu irritieren. „Wir lachen uns immer alle schlapp, wenn Gerti Witze erzählt. Wir treffen uns um fünf. Wenn du Lust hast…“

Ich kannte den Vornamen nicht. Die Chefin hatte mir das Frl. nur als Fräulein Weiden vorgestellt. Es betrat die Wäschekammer. Ich blieb auf Distanz – jetzt, wo wir da waren, war es sowieso zu spät.

6:57.

Das Zimmermädchen zog einen Stapel frischer Frottee-Handtücher aus dem Wäscheregal und füllte kichernd den Rollwagen auf.

12 Gedanken zu „Das junge Fräulein Weiden

  1. Ja scheiße. Das ist für mich das Traurigste, was du in den letzten Jahrzehnten geschrieben hast. Unsereins hatte keine Zeit, keine Chance, die unschuldigen Zitronenkleidchen auf der Haut zu spüren. Amy und die anderen aus dem Club sind folgerichtig umgefallen – und wir stehen immer noch so rum und dampfen ein Wörtchen nach dem anderen aus… Trockene Hornhäute.

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  2. Irgendwie kam mir beim Schlussabsatz der Bobbele in den Sinn … Jedenfalls: dieser Haupt-und Nebensatzfreie Abbruch hat es in sich. Da kommt der Phantast in uns Lesern voll auf seine Kosten. Oder gibt es eine Forzsetzung?

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  3. Und hiermit verleihe ich den Gebrüder-Grimm-Preis für deutsche Sprachkunst an Glumm. Begründung: Dies ist der einzige Text weit und breit, in dem jemand korrekterweise ein „Fräulein“ oder ein „Mädchen“ durchgängig (!) mit „es“ bezeichnet und nicht mit „sie“. Es heißt schließlich „das“ Fräulein. Wann immer sonst einer „das Mädchen“ schreibt, heißt es schon im nächsten Satz: „Sie ging in die Schule“. Aus Angst, es müsse doch wahnsinnig diskriminierend sein, ein weibliches Wesen als Neutrum zu bezeichnen. Dabei ist es einfach nur präzises – und elegantes – Deutsch. Dieses kleine „es“ sagt nebenbei ganz still und leise, dass jemand entwicklungsmäßig noch nicht für voll genommen werden kann. (Und ja, das müsste es für halbstarke Jungs auch geben. Wie wär’s mit „das Junge“?)

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    • Hiermit verleihe ich den Studio Glumm-Preis für den besonders klugen Kommentar an O. Driesen, weil er genau den Punkt trifft. Den Text musste ich ca. 30mal korrigieren, bis ich alle falschen „sie“ endlich raushatte.

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  4. wenn es „das Fräulein“ richtigerweise stimmt, dann gilt somit jede Schreibform geg. Fräulein der Umschreibung..“es“..Aber für mich kommt das nicht in Frage, da ich dem Ausdruck auch eine Prise wohlwollende Sympatie beigebe, ein wenig Persönlichkeit. Ein anderes Beispiel. Kameraden, die man seit Kindheit kennt, und alle mit Nachnamen angesprochen hatte, trifft man mit der inzwischen gegründeten Familie auf der Strasse nach Jahrzehnten, käme mir nicht in den Sinn, jenen Kollegen immer noch womöglich mit Gegröhle wie früher mit seinem Nachnamen zu begrüssen. Erlebe ich wie viele gelegentlich, aber somit wird auch öfters gleich erkenntlich, wie der Gute auch sonst so oberflächlich tickt. Wurde auch schon Lügen gestraft, jedoch kaum noch präsent in meiner Datenbank. Sagt einiges aus und musste mal gesagt werden. Lieber Raoul…nie mehr nenne ich dich..tja…Schlappschwanz, und dulde auch sonst keine Witze mehr im Untergrund.

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  5. Du kommst wieder einmal spät Abends nach Hause. Deine Frau steht in der Küche, leicht erbost, und dir bleibt nicht Anderes übrig, als „es tut mir Leid“ zu sagen. Alles richtig gemacht, finde ich.

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