Corona – die düsteren und die anderen Gedanken

Blaue Himmel, Sonnenschein. Das Virus ist da, die Krise, aber draußen kracht der Frühling los, als wäre alles wie immer. Die Narzissen explodieren, vorm Fenster duftet eine einzelne, von Sanne höchstpersönlich ausgewilderte Hyazinthe und die Hunde toben über die Wiese wie junge Rößlein. Es könnte so schön sein. Doch Corona hängt überm Land. Eine tiefe schwarze Wolke, die Krankheit und Misere bringt, und Einsamkeit. Und Geisterstadt. Die Menschen nicken einander in tief verbundener Unsicherheit zu.

Als ich mit dem Hund unterwegs bin, fliegt der erste Schmetterling des Jahres vor mir her, im üblichen Zickzack. Ein Zitronenfalter. Ich bin mir nicht ganz sicher, doch ich meine, ich hätte im Vorbeifliegen einen winzigen gelben Mundschutz gesehen.

Manchmal denk ich, das ist vielleicht der letzte schöne Tag in Ihrem Leben. Ich sieze mich in Momenten, wo ich mit mir selbst rede. Das Ganze ist nur schwer zu fassen. Es ist Krieg ausgebrochen, ein Krieg, dessen Front überall ist, ein Krieg, bei dem keine Bomben fallen, sondern Tröpfchen. Ein Krieg, der uns Tag für Tag neu erklärt wird, weil kaum jemand den Feind kommen sah. Und jetzt ist er da. Überall. Und nirgends. Und wo ist die Kriegserklärung? Der Feind ist link.

Eine hinterhältige Brut.

Wenn ich mit anderen Hundebesitzern zusammenstehe, fällt mir auf, wie zögerlich sich die Leute auf neue Umstände einlassen. Nur wenige halten die zwei Meter Mindestabstand zum Nachbarn ein. Sie nehmen den Feind nicht ernst. Sie freuen sich aufs Grillen am Wochenende. Sie verteidigen ihre Freizeit.

*

Vorgestern Mittag hab ich gedacht, es hat mich erwischt. Ich bin infiziert. Corona. Seit Tagen werde ich morgens mit leichten Halsschmerzen wach, und da ist diese Irritation in der Lunge, dieses Gefühl, als blase jemand in unregelmäßigen Abständen kleine Feuerchen in mir an. Im Lungengewebe. Tief innen drin. In der Steuerzentrale. Wo die Atmung herkommt. Wo sich früher, als ich noch geraucht hab, Teer und Nikotin gute Nacht sagten. Winzig-kleine Einschübe, die mich wahnsinnig machen, je mehr ich mich darauf konzentriere.

„Du dürftest eigentlich nicht eine einzige Nachrichtensendung sehen“, meint Sanne und zeigt mir den Vogel. „Mal ganz abgesehen von Corona-Extras.“ Sie hält mich für einen eingebildeten Kranken. Nein. Ich bin mir sicher, es arbeitet etwas in mir. Eine Entzündung. Ich lege mich aufs Bett, strecke mich lang aus und horche konzentriert in mich hinein.

ICH.

ICH.

*

Sie ist mit dem Hund gegangen, ausnahmsweise. Ist eigentlich mein Job. Nichts ist schlimmer, als einer dieser seltenen Tage, wo ich nicht vor die Tür komme. Nachdem ich mich ausgiebig verrückt gemacht habe, ziehe ich mir Schuhe an und geh einkaufen.

EINKAUFEN IST DER ABSOLUTE VIREN-SUPERALARM! Die Einkaufswagen. Die Leute. Das Bezahlen. Das Anstehen an der Kasse. Und an irgendeiner Ecke steht garantiert jemand und rotzt und schleimt, als gäbe es kein Heute.

(Sanne und ich beratschlagen später am Abend, ob man vielleicht mit Einmalhandschuhen einkaufen sollte. Wir haben aber nur noch zwei Paar, die sie gelegentlich zum Malen braucht, wenn sie richtig Sauerei macht. Als sie im Keller nach weiteren Gummihandschuhen sucht, findet sie zufällig zwei angebrochene Flaschen Desinfektionsmittel. „Das Zeug kann man auch für die Einkaufswagen benutzen“, sagt sie. „Mal eben über den Griff wischen, bevor man losfährt.“ Unsere Augen leuchten vor Freude.)

Im NETTO kaufe ich die letzten 6 Bananen ein, die es noch zu kaufen gibt, eine Tüte Tiefkühlbrötchen, Thunfisch in Olivenöl. Viele Regale bieten nur noch Staub und Krumen an. Als ich in der Schlange an der Kasse stehe, es kümmert sich niemand um einen Mindestabstand, bricht mir der Schweiß aus. Eine alte Kassiererin, die neu an der Kasse sitzt, arbeitet so langsam, am liebsten möchte ich den ganzen Laden über den Haufen schießen, nur um hier schneller rauszukommen. Geht das nicht schneller!? Hier steht ein Mann mit Corona! COVID 19! Die Kassiererin trägt Gummihandschuhe, aber sie sind zu dick, sie kann kaum die Münzen greifen. Schließlich zieht sie die Handschuhe aus und macht ohne weiter. „Sind zu dick!“ ruft sie einer Kollegin zu, die andere Probleme hat. Sie ist damit beschäftigt, für vier nicht georderte Paletten Blumenerde einen Stellplatz zu finden.

„Was sagst du!?“

„SIND ZU DICK!“

Ich staune über die prall gefüllten Einkaufswagen. Was die Leute alles aufs Band hieven. Die Speisen türmen sich meterhoch, und es kullert auch schon mal was runter und bleibt einfach auf dem Boden liegen. Niemand bückt sich nach verlorengegangenem Gemüse. Noch nicht.

Hol mal ne neue Gurke, Maria!

Nur der junge Mann, der unmittelbar hinter mir ist, tritt plötzlich einen Meter zurück, als könne  er meine düsteren Gedanken lesen. In Zeiten allgemeiner Verunsicherung verrät uns schon der kleinste Gedanke, der einem den Schweiß auf die Stirn treibt. Ich fühle mich so schwach, am liebsten würde ich mich irgendwo anlehnen, doch in dieser Corona-Superbrutstätte fasse ich nichts an, was nicht unbedingt angefasst werden muss. Nein, ich muss von ganz allein auf den Beinen bleiben, trotz Schwächegefühl. Ich fühle mich zum Kotzen.

*

Was haben wir uns über vollverschleierte Muslima das Maul zerrissen. Jetzt husten sie uns was in ihren feinen körpergroßen Virenschutz. Jetzt sind sie plötzlich fein raus. Nein, sie sind fein drin. In ihrer Burka, wo kein Virus reinkommt.

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Weil ich seit längerem springende Schmerzen im linken Arm habe und nicht weiß, was das soll und woher das kommt, hatte ich vor Wochen einen Termin beim Orthopäden gemacht. Der Termin ist morgen. Ich weiß nicht, ob ich ihn wahrnehmen soll. Es drängt mich nicht grade ins Wartezimmer. Ich kriege allmählich Panik, wenn ich Menschen sehe, potenzielle Virenschleudern. Aber ich hab den Termin schon zweimal verschoben, ein drittes Mal könnte ich mir selbst nicht verzeihen. Ich meine, der linke Arm. Hallo?! Der Herzarm! Warum also zum Orthopäden? Weil es bis zum Termin beim Kardiologen noch länger hin ist.

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Sieht denn niemand den engen Zusammenhang zwischen koronar und Corona? Es ist eigentl. ein Herz-Virus. Es dockt am Sozialraum der Herzen an und verwüstet die gesamte Infrastruktur: Nähe. Vertrauen.

Und sämtliche Ausgänge.

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Seitdem mein Bruder uns Netflix installiert hat, schaue ich in eine Menge Schrott rein. Uninteressantes Zeugs, Massenware. Ich schaffe es selten länger als fünf Minuten. Dann weiss man in der Regel Bescheid, was einen erwartet. Wie immer gibt es Ausnahmen. Echte Fundsachen. Die israelische Serie Shtisel kniet sich lustvoll in eine ultra-orthodoxe Familie in Jerusalem rein. Ich warte auf die zweite Staffel. (Keine Doku!) Momentan freue ich mich tgl. auf ein oder zwei , drei Folgen vom Breaking Bad-Ableger Better call Saul. Bob Odenkirk spielt den übermütigen Anwalt Saul, der stets den Ritt auf der Rasierklinge sucht. Lakonischer Humor, ohne lachen zu müssen.

Mir ist definitiv nicht nach Lachen zumute.

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Irgendwie glaubte ich immer, unsere Generation sei die eine große Ausnahme, die ohne existenzielle Einschnitte wie Krieg oder Hunger davonkommt. Ohne schwere Zeiten. Die eine goldene Ausnahme. Und jetzt sitzen Landräte in Bayern in ihrer Wohnung fest. Ohne jeden Besuch.

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„Ich bin auch einsam“, sage ich zu Karlos, als wir eine Runde Spazierengehen. „Jeder ist einsam.“

Einsamkeit ist ein hartes Wort, Bruder. Man sollte sich gut überlegen, ob man es benutzt, solange man noch eine Frau an seiner Seite hat, die man liebt, und einen Freund, der mit einem spazieren geht. Und Geschwister, die zu dir halten, egal, was du getan hast.

Schäme dich, Glumm.

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Ich stelle fest: die Leute spucken beim Sprechen. Und diese Leute bin auch ich. Ich hab mich selbst schon beim Spucken beobachtet. Ich rede mit irgendwem auf der Hundewiese und registriere aus den Augenwinkeln, (ohne dass ich mich beim Reden besonders echauffiert hätte), dass helle Rotzschleifchen aus meinem Maul fliegen in Richtung Nebenmann. Oh Scheiße, denke ich. Sollte ich infiziert sein, habe ich gerade die Infektionskette vervollständigt.

Der Mann, der gut anderthalb Meter entfernt steht, regt sich über die Hamsterkäufe seiner Mitmenschen auf, nur um im gleichen Atemzug von seinem eigenen Einkaufswagen bei Edeka zu erzählen, der trotz 150 Euro-Einsatz gerade mal halbvoll geworden sei, weil die billigen Artikel alle schon weggekauft waren und er auf die teuren Bio-Produkte umschwenken musste.

„Ist doch asozial.“

Was die sozialen und praktischen Verwerfungen angeht, stehen wir noch ganz am Anfang, und nein, ich habe kein gutes Gefühl. Wie selbstverständlich es ist, dass unsere Versorgung mit Essen & Trinken stets wie am Schnürchen läuft, fällt erst auf, wenn es wegzubrechen droht.

Von der Müllabfuhr ganz zu schweigen.

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Manchmal muss man die Dinge aussprechen, nur um zu hören, was man alles für einen Mist zusammendenkt den ganzen Tag. Das waren schon immer die Momente, wo Karlos auftauchte und mir seine Ohren lieh. Bevor Karlos nicht davon erfuhr, war es praktisch nicht passiert.

Einsamkeit ist ein hartes Wort für die andere Seite der Welt.

*

Die Blockwarte laufen sich warm, ihre Zeit ist gekommen.  HE, RUNTER VOM SPIELPLATZ UND AB NACH HAUSE! Jawohl, mein Herr. Und vielen Dank auch für den Hinweis. Das Dumme: Zum ersten Mal sind die Penner auch noch im Recht.

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Ob wir wollen oder nicht, die Zukunft ist Verzicht.

Mehr kann jeder, mehr ist kein Problem“, sagt sie. „Aber ins Weniger muss man erst reinwachsen.“

*

Mir fällt auf, dass die Blicke sich ändern. Die wenigen Leute, die sich auf der Strasse noch begegnen, mustern sich neugierig. Eine seltsame Mischung aus Trotz und Furcht spricht aus den Augen. Sogar Liebe ist zu spüren. Und die erste verkokelte Grillparty

DANACH.

*

Man geht mit Corona ins Bett, man träumt von Corona, und wenn man aufwacht und Frühstücksfernsehen schaut, ist das erste Wort, das man hört, CONVID19: über Nacht hat es wieder Hunderte erwischt.

*

Als ich eine späte letzte Runde mit dem Hund drehe, fällt es mir auf: Ich habe seit Jahren nicht mehr so viele Sterne so klar am Himmel gesehen wie heute Nacht. Eine gigantische Szenerie, und jeder Stern ein Gesundeter.

*

Corona übernimmt die Welt. Die USA verhängen Einreisestopp, New York droht Kollaps, Tom Hanks ist infiziert. Sanne kann es nicht mehr hören. Mach die Nachrichten aus. PANDEMIE. Die Regierung fordert die Bürger auf, direkte Sozialkontakte zu vermeiden. Frankreich schliesst Bars und Restaurants.

Zuhause bleiben…

Wer jetzt nicht in sich zuhause ist, ist nirgendwo zuhause.

32 Gedanken zu „Corona – die düsteren und die anderen Gedanken

  1. Danke für den Text. Er ist sehr eindringlich. Ich habe dies alles schon vor 6 Wochen befürchtet, als mich alle für einen Schwarzseher hielten, und ich bin seelisch einigermaßen vorbereitet. Ich würde dir gern etwas raten, aber außer tief durchzuatmen und trotz allem ab und an die Schönheit der Natur zu genießen, vorsichtig zu sein und dein Bestes zu geben, kann ich dir nichts raten. Gehe so früh wie möglich so lang wie möglich in selbstgewählte Quarantäne, mache ich auch seit genau einer Woche. – Und ja: Sei froh, dass du nicht allein bist, einige Leute weiß ich, die werden bei einer Ausgangssperre schier ausrasten. – Viel Glück!

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  2. Zu Hause, bei sich und seinen Lieben bleiben, genau, denn:
    Das ganze Unglück der Menschen rührt daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer bleiben können. (Blaise Pascal)

    Nun soll uns die Ruhe, das Nichtstun vorm Schlimmsten bewahren. Vergnügt zu Hause bleiben, doch wie lange, ohne vor Langeweile zu vergehen? „Was sollen wir heute Nachmittag mit uns anfangen? Und morgen und Dir nächsten dreißig Jahre?“ (F. Scott Fitzgerald, Der große Gatsby)

    Zum Glück haben wir das Netz -, und Glumm, der uns in dürftiger Zeit den geistigen Unterhalt mit seinen Prosamen sichert😊

    Gruß Uwe

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  3. Etwas vom Besten, was ich dieser Tage gelesen habe. So viel Selbst-Wiedererkennen. Danke. Es ist ein Lied, ein Blues, der da von dir geschrieben wurde.

    (Und ein Zeitdokument.)

    (Vielleicht kommt jetzt wieder eine hohe Zeit der Blogs?)

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  4. ich hab immer diie Szene im Kopp (jenseits von Afrika) wo das Feld brennt
    Der Oberdiener meinte noch“ Gott kommt „, mit Handschuhen , also der hatte immer weisse Handschuh an
    und traurige , ehrliche braune Augen obwohl er nur Schauspieler war in der Szene.

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  5. Jetzt habe ich wirklich Tränen in den Augen: du schreibst exakt meine Panik auf. Gestern noch dachte ich, den Glumm kann auch nichts beeindrucken, er schreibt seine alten Geschichten.
    Danke für den Beitrag, Du bist mir so nahe mit Deinen Gedanken. Es ist Krieg! Sei froh, dass Du nicht in Berlin lebst. Das Gedränge ist groß und rücksichtslos, ich mag nicht mehr vor die Tür gehen und muss doch.
    Bleib gesund.

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  6. nee jetzt weiss ich wieder
    ihm fiel alles durch die blöden weissen Handschuhs und die Farmbesitzerin gespielt von M..S.
    sagte dann , die brauchst du nicht mehr, das ja albern.

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  7. „Und über allem hängt ein alter Lappen – Der Himmel… heidenhaft und ohne Sinn. “ — „Unglaublich friedlich naht das große Grauenhafte.“

    Zeilen aus Alfred Lichtensteins „ Die Fahrt nach der Irrenanstalt“ 1 und 2 von 1912.

    Was die einsamkeit und das in-sich-zuhause-sein angeht, ein kurzer abschnitt aus Irène Némirovsky, Die süße Einsamkeit, 1935: „ Sie legte sich aufs Wasser, betrachtete frohlockend den Himmel über ihrem Kopf und dachte dankbar: >Man kann nicht unglücklich sein, wenn man das hat: den Geruch des Meeres, den Sand unter den Händen … die Luft, den Wind …<

    Deine texte berühren oder erwischen einen, oft genug und: ein sehr, sehr schöner letzter satz.

    Lachen muss sein, sonst ist's nicht auszuhalten.

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  8. „Sieht denn niemand den engen Zusammenhang zwischen koronar und Corona? Es ist eigentl. ein Herz-Virus. Es dockt im Sozialraum der Herzen an und verwüstet die gesamte Infrastruktur: Nähe. Vertrauen.
    Und sämtliche Ausgänge.“
    So ist es. Der Mensch muss unter Menschen, er muss sehen, wie es den andern geht, was sie meinen, er braucht auch Zuwendung und Ansprache, sonst verwüstet sein Herz. Und er wird wild, blöd oder stirbt. Dieser Frühling ist hin, und der nächste und übernächste auch…. bis in alle Ewigkeit. Denn Viren gibts immer. Und sterben werden wir Menschen auch, jeder. Wir sterben, aber vorher hat man uns das bisschen Leben geklaut.

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