Teufelsinsel

Der Vatter (Ill. Sanne Eggert)

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Keine Ahnung, ob Gott existiert. Ich glaube nicht. Aber ich hätte es gern. Ich fände es gut, wenn es Gott gibt. Gäbe. Jemand mit quietschegelber Fliege, 100.000 Dollar teurem Zobel und einem ungeduldigen Fingerschnippen, wenn es ihm unten auf Erden zu langsam vonstatten geht, zu wenig präsidiabel.

Ist Gott aber eine Frau, was ich insgeheim vermute, dann ist Gott Österreicherin. Eine schlanke Wiener Lagerarbeiterin, 47 Jahre alt, die gern beim Heurigen sitzt, nuschelt und ein gewaltiges Drogenproblem am Hals hat. Eine Herumtreiberin, ein Flitscherl, a fesche Katz. Keine große Sache. Gott eben.

Na, i woaß net.

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Im Jahre 1989 bezog die Gräfin eine 2-Raum-Wohnung an der Teufelsinsel. Ein Gelände unweit des alten Hauptbahnhofs und nur über eine bestimmte Eisenbahnbrücke erreichbar, was den Inselcharakter ausmachte. Warum es aber Teufelsinsel hieß, (und nicht etwa Engelsinsel), ließ sich nur mit der düsteren Abgeschiedenheit des Quartiers erklären. Man verglich es mit Cayenne, der berühmten Insel der Verdammten in Französisch-Guayana.

Für die Gräfin, die zuvor mit ihrer Busenfreundin Pia im einem schicken Altbau gewohnt hatte, war es der neunte Umzug innerhalb weniger Jahre. Eine Zeit, in der wir uns kennenlernten, aber zunächst nur schwer zueinander fanden. Ich trank zu viel und wurde zunehmend unausstehlicher.

„Hast du dich in den letzten Monaten mal betrunken erlebt?“ spöttelte der dicke Hansen. „Ein Lacherfolg.“

Und die Gräfin, im gleichen Atemzug: „Am besten, du kaufst dir einen Kasten Bier, setzt dich allein zu Hause hin und hörst einfach deinem eigenen Gelaber zu… dann bist du kuriert vom Trinken – für immer.“

Trinken konnte man das nicht mehr nennen, das Trinken hatte ich drangegeben, ich war zum Saufen übergegangen. Ich war nicht jeden Tag voll, aber wenn, dann richtig. Schon in den frühen Achtzigern, als ich am Wochenende im Daddy abhing, einem Club an der Stadtgrenze zu Wuppertal, ließ ich mir um Mitternacht vom dicken Hansen den Autoschlüssel aushändigen und haute mich in seiner Karre aufs Ohr, weil ich mich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Wenn der Tanzschuppen im Morgengrauen dicht machte, trudelten meine Leute, darunter Lana, allmählich ein und weckten mich. Meist ging es dann privat weiter, bei irgendwem auf der Bude, und ich war wieder obenauf – eine halbe Stunde, bis ich endgültig hinüber war.

Ende der Achtziger war die Sache nicht besser geworden. Zwar legte ich cleane Phasen ein, doch auf Dauer setzten sich die Drogen immer wieder durch, der Alkohol allemal. Dass es dennoch keine unglückliche Zeit war, jedenfalls nicht unglücklicher als sonst auch, lag an dem Umstand, dass ich nur am Wochenende und nur in Gesellschaft trank, ich war ein striktes Tresentier. Die Flaschen Bier, die ich alleine trank, konnte man an einer Hand abzählen, und es schadete nicht, wenn Finger fehlten. Sobald ich aber mit Freunden am Tresen stand und den ersten 103er orderte, schoss ich mich so konsequent ab, dass ich am nächsten Mogen ausgenockt am Bettrand saß und verzweifelt in den Schwerlastverkehr reinhörte, der unaufhörlich in meinem Schädel rangierte.

Die neue Wohnung der Gräfin an der Teufelsinsel hatte zwei Zimmer und einen unmittelbaren Nachbarn, den alle nur den Vatter nannten. Der Vatter war irgendwas um die sechzig, er hatte ein Kreuz wie ein Kirmesboxer. Wir hörten ihn nachts nach Hause kommen, laut zeternd vor die eigene verschlossene Wohnungstür bollern und treten. Dann musste einer der Nachbarn raus in den Flur und ihm helfen, den Schlüssel ins Türschloss zu bugsieren. Auch das ging nicht ohne Beschimpfung vonstatten.

„SCHMIERLAPPEN, DIE PFOTEN DA WEG..! WILLST DU MICH ANBAGGERN, HÖRMAL?! WO IST MEIN SCHLÜSSEL!?“ (Wobei er oft ins Solinger Platt verfiel: „WO IS MINGEN SCHLÖTEL!?“)

Samstags war er früh wach, es war Hausputz angesagt. Jeden verfluchten Samstag wurde der Hoover aus der Ecke gezerrt, ein original britischer Klopfsauger, dessen Sound-Ingenieure sich 1974 an CUM ON FEEL THE NOIZE von Slade orientiert haben mussten, anders konnte man sich die frappierende Sound-Überlappung nicht erklären. (Insbesondere die im Nebel stochernde Stimme von Noddy Holder und der Klang des Staubsaugers bei hoher Drehzahl waren nahezu identisch.) Und als wäre das noch nicht genug, schob der Vatter während des Klopfsaugens eine Cassette mit Volksmusik ins Abspielgerät, das mit Volume 12 durchs Haus hämmerte. Wir lebten quasi in einer kombinierten Karl-Moik-Slade-Einflugsschneise. Es blieb nur die vorübergehende Flucht.

Wenn wir gegen Mittag zurückkehrten, hatte der Vatter „gegen den kleinen Durst“, wie er sich ausdrückte, eine halbe Pulle Korn leer gemacht – quasi im Vorbeisaugen. Dann ging es im Hausflur weiter mit Großreinemachen, unter Zuhilfenahme des Großen Grauen, wie er ihn nannte: ein altgedienter fusseliger Putzlappen. Man hörte ihn dreckig lachen und fluchen.

„VORS ARBEITSGERICHT SCHLEPP ICH DIE WICHSER! WAS GLAUBEN DIE, WEN DIE VOR SICH HABEN? NICHT EINEN PFENNIG KRIEGEN DIE VON MIR! WER BIN ICH DENN, HÖRMAL!? ROCKEFELLER??!“

Einmal riss er brim Putzen im Flur das halbe Holzgeländer ab. Der Handlauf lag auf dem Boden wie eine ausgekugelte Schulter. „Ich bin beim Bohnern ausgerutscht“, verteidigte er sich später beim Hauswirt.

Die meiste Zeit war der Vatter arbeitslos, („ich geh stempeln, Jung. Tut nich weh“), bis man ihm eine Arbeits-Beschaffungsmaßnahme als Gärtner aufs Auge drückte. Das ging nicht ohne Probleme. Er war es nicht mehr gewohnt zu arbeiten, und er hatte dauernd Ärger mit den Vorgesetzten.

„ABM-Kraft?? Was für ne ABM-Kraft!?“ brüllte er seinen Chef an, der ihn früh am Morgen persönlich abholte. „Ich war früher Geschäftsführer, du Müllkutscher, keine ABM-Kraft!“

Er hatte null Respekt vor Autoritäten, er nahm nichts und niemanden wirklich ernst. Das war es auch, was ihn sympathisch machte. Einmal versuchte er der Gräfin den Hof zu machen, obwohl ich direkt daneben stand.

„Mädchen, hör mal zu. Dein Männe hier sieht schlecht aus. So blass. Raucht der zuviel? Komm ein Stündchen rüber zu mir, ich mach uns ein schönes Kassler mit Sauerkraut. Na, was meinst du? Ein lecker Stück Fleisch, mit Kartoffeln. Die sind unten im Keller, die sind eingekellert, die muss ich erst hochholen. Kannst ruhig mitkommen. Was meinst du? Sollen wir eben runter in den Keller..?“

Eine Etage überm Vatter wohnte der Mormone. Wahrscheinlich war er kein Mormone, aber er sah aus wie jemand, der aus Utah kam. Ein merkwürdig linkischer Vogel, der sich tagsüber kaum blicken ließ. Man hörte ihn in der Nacht, wenn er die Möbel verrückte und nervös vor sich hinhüstelte. Sein Babyface war stets glatt ausrasiert. Er roch wie ein großes Stück Seife. Ich wusste nicht, was ich von ihm halten sollte.

Alle zwei Monate ging der Mormone reihum durchs Haus, um das fällige Wassergeld einzusammeln. Der Vatter machte die Tür auf und eröffnete sofort das Gefecht.

„DU BÜCKLING! WAT WILLST DU, WASSERGELD?? GAR NIX KRIEGST DU VON MIR! MACH DICH VOM ACKER, BÜCKLING!“

Erst später brachte ich in Erfahrung, dass der Mormone über ein Jahr lang heimlich das Wassergeld für den Vatter auslegte, nur um ihm nicht mehr unter die Augen treten zu müssen, bevor er entnervt das Handtuch warf und das Wassergeld fortan mit der Miete eingezogen wurde.

Gleich neben dem Mormonen im ersten Stock hauste Benno, der Frührentner. Nach einem Unfall hatte er insgesamt nur noch ein Bein und humpelte auf Krücken durchs Haus. Seine Stimme hatte diesen seltsam nasalen Klang, als wäre sie zwischen zwei Türen geraten und eingequetscht worden, und jetzt hing ihm die Stimme oben unterm Jochbein. Frührentner Benno und der Mormone hatten sich gesucht und gefunden. Die beiden Nachbarn standen wie die Waschweiber auf dem Treppenabsatz und tratschten. Meist ging es um den Vatter und was der im Suff wieder angerichtet hatte.

„Der bringt uns noch alle ins Grab mit seiner Qualmerei. Der fackelt noch die ganze Teufelsinsel ab! Gestern ist er wieder stockbesoffen im Sessel eingeschlafen, mit der Kippe im Hals, laut am schreien! Der olle Schreihals!“

„Ja, wenn der olle Gockel mich noch ein einziges Mal beleidigt..“, flüsterte der Mormone, als im Erdgeschoss die Tür aufgerissen wurde.

„WAS IST LOS DA OBEN, IHR FISCHWEIBER??!“

Ein weiteres ständiges Gesprächsthema war die Gräfin.

„Die Kleine da unten, ob die wirklich eine Gräfin ist?“ sorgte sich Benno. „Aber wieso wohnt die dann hier am Bahndamm?“

„Verarmter Adel. Liest man doch dauernd.“

„Und was ist das für ein Kerl, der da bei ihr schläft? Ein ganz schräger Fürst.“

„Zahlt der überhaupt Wassergeld?“

„Ach was. Der zahlt kein Wassergeld. Der wäscht sich nicht mal.“

Vom Garten aus konnte man bequem in die Wohnung des Vatters blicken. Zu sehen gab es Volkstheater. In seiner Küche befand sich eine mächtige Gefriertruhe aus alten Armeebeständen, vollgepackt mit Schweineschnitzeln, Rouladen und panierten Nackenkoteletts, deren Haltbarkeitsdatum überschritten war.

„Ach was, ist doch eiskalt, ist doch unter null Grad hier drin“, verteidigte der Vatter die Tiefkühltruhe, als die Gräfin ihn darauf ansprach. „Die werden so schnell nicht schlecht, das sind dicke schockgefrorene Koteletts. Die kann man noch essen. Oder möchtest du lieber ein Eis, Mädchen? Alle Mädchen mögen Eiscreme.“

Er wühlte tief im Bauch der alten Truhe und zog etwas hervor, das er als Waldmeister-Eis bezeichnete. Die Gräfin schüttelte sich.

„Bist du wahnsinnig? Schmeiss das weg! Das kann doch keiner mehr essen! Da wird man doch krank von!“

„Näh, hat die Angst vor Eis!“ mokierte sich der Vatter und löffelte wie zum Beweis gleich die halbe Packung weg. Danach lag er zwei Tage im Bett.

Jeden Mittag Punkt zwölf kochte er immense Portionen paniertes Schweinefleisch und Kartoffeln, oder Backhendl mit Kartoffelbrei, aber niemals Gemüse. Nach dem Essen setzte der Vatter seinen grünen Filzhut auf und ruhte im Ohrensessel, den Fernseher bis zum Anschlag aufgedreht und am Ausrasten wie ein frühes Rock’n Roll-Konzert.

„HOLT MICH ENDLICH HIER AB! WIE, WO ICH WOHNE?! AM BAHNDAMM NATÜRLICH, SIE OBERSCHNAUZE!! AUF DER TEUFELSINSEL!!“

Eine Weile war ich fest davon überzeugt, dass der Vatter Besuch haben musste, während die Gräfin meinte, ach wo, der kriegt keinen Besuch! Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ein Mensch für sich allein so dreckig lachen und fluchen und mit sich selbst sprechen konnte, aber der Vatter lachte und fluchte dreckig für sich allein, er brauchte niemanden dafür. Er war eine autarke Person, und er hasste jegliche Autorität.

Vom Wochenendputz und der Fresserei abgesehen hatte der Vatter ein weiteres Hobby: das Bohren irgendwelcher Löcher. Er benutzte eine von Schnürsenkeln notdürftig zusammengehaltene Vorkriegsbohrmaschine. Welche Löcher er wo bohrte, blieb unklar. Vielleicht machte er auch einfach nur Bohrgeräusche, keine Ahnung. Bis der schlimmste Lärm vorüber war, flüchteten die Gräfin und ich nach draussen und beobachteten das Schauspiel vom Hinterhof aus, durchs Fenster: Nach getaner Arbeit versank der Vatter im Sessel, den Filzhut auf dem Kopf, einen stinkigen Zigarrenstumpen im Hals, Pulle Exportbier in der Hand.

„Der ist eingenickert“, flüsterte die Gräfin.

Keine Viertelstunde später wurde er wie aus dem Stegreif wach, und es ging unvermittelt weiter mit dem Geschrei, noch halb im Traum.

„LASSEN SIE MEINE FREUNDIN IN RUHE! SIE OBERSCHNAUZE!“ (Schluck Bier aus der Pulle.) „WIE, SIE KOMMT ZU SPÄT NACH HAUSE!? JA, WOFÜR HAB ICH SIE DENN!?“ (Stöhnen.) „LEBT HIER AUF DEM BAHNDAMM!!“ (Lautes Gelächter. Poltern.) „ZIEHT DIE SICH HIMBEEREIS REIN! SCHMECKT DOCH NICH, HÖR MAL!!“

Einmal im Monat bekam der Vatter Damenbesuch. Eine stille und große Frau, das Haar zum strengen Dutt gebunden, mit milden nachsichtigen Augen. Sie machte ihm die Wäsche. Sobald sie da war, wurde der Vatter fromm wie ein Lamm und gab Pfötchen. Ganz lieb sah man ihn mit der Einkaufstasche in die Stadt watscheln, Waschpulver kaufen. Richtig selig sah er aus. Große Wäsche war angesagt, eine Maschine nach der anderen.

Es war ein Bild für die Götter der Teufelsinsel, wie der Vatter mit seiner Plauze im Garten stand und stocknüchtern seine riesigen weißen Unterhosen an die Wäscheleine zum Trocknen aufhängte. Das ganze Wochenende über drang kein einziges lautes Wort zu uns herüber. Das Paradies war ausgebrochen an der Teufelsinsel. Bis Montagmorgen. Dann ging alles von vorn los.

Einmal kamen wir spät in der Nacht nach Hause und mussten den Hund noch raus lassen. Dabei hatten wir vergessen, die Etagentür zu schließen. Im Morgengrauen werde ich plötzlich wach und erkenne schemenhaft den Vatter, wie er neugierig unser Bett durchsucht. Ich denke nur: Moment! was zum Teufel macht der Kerl hier, mitten in der Nacht?! Wie ist der überhaupt hier rein gekommen?! Wieso hat der Hund nicht angeschlagen?!

„Die Tür stand auf.. ich wollte nur nach dem Rechten sehen“, schnaufte der Vatter, als er sich bückte, um besser sehen zu können, was bei uns im Bett los war.

„Raus hier „, sagte ich.

Schwerfällig trat er den Rückzug an, nicht ohne noch einen schnellen ungenierten Blick auf die Gräfin zu werfen, die sich im Schlaf wälzte und etwas nackte Schulter zeigte. Ich lag noch eine Weile wach und hörte nebenan das Scheppern von Pfannen und Töpfen, früh um fünf. Kurz darauf zogen Cordon Bleu-Wölkchen durchs Treppenhaus, begleitet von Seufzern und ruppigem Gestöhne.

10 Gedanken zu „Teufelsinsel

  1. „Ja, was für Menschen der Autor kennt. Aber jedes Wort, das er für sie in seinen Prosaporträts findet, zeugt von Respekt, Anteilnahme und bisweilen sogar von Liebe. Es sind eben keine Freaks, sondern Menschen durch und durch. Und seine Texte stellen sie nicht wie in einem Panoptikum des Abartigen aus, sondern zeigen sie mit all ihren Ecken und Kanten als Wesen, die ihr Leben, mit den (Kampf- und Flucht-)Mitteln ihrer Wahl, auf die Reihe kriegen müssen. Und bei all der beinharten Not, in die sie dabei geraten, begleitet sie der Glummsche Humor.“
    (Ende des Klappentextes😉)
    Gruß Uwe

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  2. Dass du insgesamt nur noch einen einzigen Kopf hast, naa, i woaß net, du Wortflitscherl, aber sei`s drum, ein Glück hast du ihn durch den ganzen Scheißdreck hindurch gerettet. Es war mit Sicherheit oft auf der Rasierklinge und hätte leicht dort enden können, wo solche Nichtglaubende wie der Magister Glumm seit jeher ihr Zeugs her beziehen: im nichtlokalen Bewusstsein halt. Dein heutiger Text, Andreas, ist jedenfalls so, dass man sich – falls man überhaupt wieder aufhören kann, in sich hinein zu grinsen – fragen muss: wem soll man denn dafür dankbar sein? No ja gut: Danke, Glummi!
    Wir treffen uns dann wieder im Nichtlokal, wie immer, kurz nach halb nichts.

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