Postcard from SG, Germany


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Bei schlechtem Wetter und zum 60. Geburtstag muss man keinem Individuum mehr etwas beweisen. Man kann getrost der Gesellschaft aus dem Weg gehen und den ganzen Tag im Bett herumlümmeln, ein langweiliges Buch in der Hand. Sollten einem an diesem Tag ZUFÄLLIG Fotografien aus der Jugendzeit in die Hände fallen, auf denen zum Beispiel noch alle Haare zu sehen sind, kann man das getrost als Affront hinnehmen. Es verhält sich ein wenig so, als habe man sich im Busch verlaufen. Im Hinterkopf eine Ahnung, dass hier das letzte Wort noch nicht gesprochen ist.

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Nein. Man muss nicht unbedingt gegen den Strom schwimmen. Es reicht vollkommen aus, eine Weile mitten im Strom stehen zu bleiben und nicht mitzuschwimmen. Das ist gar nicht so schwer. Man muss nur ein bisschen robust sein. Zur Not zieht man eine Bleiweste über und winkt schön, wenn der Mainstream vorüberzieht. Immer schön winken, wenn der Mainstream vorüberzieht mit seinen Mainstreamansichten und den Tickets für den nächsten Mainstreamkinofilm, immer schön winken…. schüss, ihr Scheisserchen. Machts gut.

Es sind schließlich nicht die Mittelmäßigen, die in unserer Gesellschaft den Ton angeben, es sind all diejenigen, die sich nichts sehnlicher wünschen, als dazuzugehören, zum Mittelmaß.

Ich bin immer wieder überrascht, mit welcher Begeisterung die Deutschen nichts Besonderes sein möchten.
Als wäre es der Sinn des Lebens, nichts darzustellen. Es abzuheften, mit einem Häkchen:
Erledigt.

Aber lasst euch nichts erzählen. Auch Verweigerung ist Selbstbestimmung.

Es reicht, in der Mitte des Flusses stehen zu bleiben und die seltsam-marode Parade von Handysüchtigen vorüberziehen zu lassen. Ein Bild, das schon in 25 Jahren mildes Gelächter hervorrufen wird: Mama, habt ihr damals auch immer so doof ins Telefon geglotzt!!?

(„Nee, wir waren einkaufen.“)

Tückisch wird es, wenn man vor lauter Standhaftigkeit im Schlamm versinkt. Stück für Stück, Schluck für Schluck. Das ist schlecht. Wenn man absäuft und weit und breit ist niemand da, der einem zu Hilfe eilt, weil man früher auch keinem zu Hilfe geeilt ist. Dann hilft nur noch beten, bitte, nehmt mich mit, Herr Kapitän, ich habe mich vertan damals.

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Deutschland, strukturell verzärtelt. Im Einzelfall verhärtet.

13 Gedanken zu „Postcard from SG, Germany

  1. Susanne, vor ein paar Tagen haben wir meinen Schwiegereltern noch von Benno und seinem Hundeleinenmakramee erzählt, und jetzt Dein fantastisches Portrait. Vielen Dank dafür und liebe Grüße vom Burek.

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    • Als ich das im Raddatz-Interview lese: „Das eigentlich Dramatische (am Alter) ist der rapide auf Null gehende Neugierpegel…“, da hab ich sofort einen Satz von mir im Kopf, den ich kürzlich wiederentdeckt habe: „Neugier ist mein erster Wohnsitz.“ So ein Blödsinn, denke ich. Das war einmal. Ich spüre, dass der Satz nicht mehr stimmt.

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      • Willkommen im Club der tauben Nüsse:

        Einst hätschelte ich meine Neugier
        und witterte überall Beute
        Heute bin ich ein lahmer Arsch
        und spiele nur noch auf Zeit

        Uwe

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  2. „Es sind schließlich nicht die Mittelmäßigen, die in unserer Gesellschaft den Ton angeben, es sind all diejenigen, die sich nichts sehnlicher wünschen, als dazuzugehören, zum Mittelmaß.“

    Mein Satz des Tages : ? — was schreibe ich?
    Mein Satz der Woche.

    Vielen Dank dafür
    Gruss, Robert

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  3. Well, wir sehen das cooler: der Mainstream drückt den Zeitgeist aus. Statt sich diesem zu verweigern, finden wir es spannender ihn zu verstehen. Vielleicht ist dies so etwas wie Altersweisheit.
    Alles Gute
    The Fab Four of Cley
    🙂 🙂 🙂 🙂

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