Das Geheimnis der grossen Schuhe *

In jedem Leben gibt es Momente, die könnte man eins zu eins in einen Kinofilm einbauen und auf die Leinwand bringen. In einen Sandalenfilm vielleicht.  Monumentalen Soundtrack drunter, sonore Stimme aus dem Off, eine Million Dollar – unterzeichnen Sie bitte hier.

Hier?

Nein. Hier.

Ach so. Da. Klar.

 

1

Freitagabend, frühe 80er. Das Mumms ist voll wie ein Karnickelschlauch, der Laden brummt. Man könnte den Hut rumgehen lassen und Wühlgebühren kassieren, so wie die Leute sich schubsen, knutschen und gegenseitig das Bier wegfressen.

Schwarte, der inoffizielle King of Absturz, steht, wenn man reinkommt, direkt links an der Bar und wirbelt ruckartig herum.

„Eh, du Gesichtshure, was willst du?!“

Ein hochgewachsener rotwangiger Hippie, der im Gedränge was verloren hat, blickt entgeistert auf.

„Meinst du.. mich..?!“

„Meinst du mich, meinst du mich… natürlich mein ich dich! Wen denn sonst!? Du schwulst mich schon den ganzen Abend an, und jetzt fummelst du mir auch noch an den Füßen rum! Die Finger da weg!“

„Aber ich such doch nur meinen….“

„Ach, leck mich! Mir doch egal, was du suchst! MARINAAAH! Noch ein großes Gelbes!“

„Nix da, Schwarte. Du kriegst nix mehr.“

„Wie.. ich krieg nix mehr!?“

„Genau wie ich das gesagt hab, Schwarte – du bist voll genug! Und lass die Leute in Frieden.“

„Voll genug, voll genug… will die denn?“, mault Schwarte und glubscht vom Tresen weg auf den langen Eli zu, der am Eingang an der Marmorsäule lehnt.

„Eli, du musst mich aus der Scheisse rausholen.. Ich krieg nix mehr zu saufen. Ich bin eine Gefahr für den Weltfrieden.“

„Davon hab ich gehört“, meint Eli trocken.

Er jobbt in den Semesterferien als Kranführer. Er ist jeden Auftrag gewöhnt, der sich aus großer Höhe bewältigen lässt. In aller Seelenruhe hievt er auf Schwartes Geheiß zwei Glas Hellbier vom Tablett des geschäftsführenden Kellners, der sich aktuell mit seinen Zehen-Sandalen in einem Jutebeutel verfängt und nichts davon mitkriegt, wie dreist er bestohlen wird.

„Och, da ist ja mein… JUTEBEUTEL!“ kommentiert die Gesichtshure die Fundsache und kommt über die schwarze Noppenmatte angesprungen, wie ein Zehnkämpfer, rosig erregt, und auch der lange Eli und Schwarte freuen sich über ihren gelungenen Hellbier-Coup.

Sie stoßen miteinander an.

„Die Marina ist ein ganz harter Hund!“ grummelt Schwarte. „Dabei bin ich überhaupt nich voll. Kein‘ Hacken! Ich hab nur niedrigen Blutdruck.“

Schwarte, eine Mischung aus englischem Pub-Rock und feinem rötlichen Haar, trägt traditionell eine schwarze Ray Ban auf der Nase („bisschen Plastik, bisschen PVC, bisschen Kundendienst“) und eine froschgrüne Beat-Jacke mit Silberknöpfen. Die hat er auf dem Flohmarkt in Antwerpen gestohlen, als der Standbesitzer, ein Kerl wie ein Baum, einen Moment lang unaufmerksam war. Jeder im Mumms kennt die Story, auch wenn sie wahrscheinlich gelogen ist.

Wie Schwarte auf der Flucht in einer Frittenbude namens De Machinenpistool landet, sich hinter dem großen Pistazienautomat verschanzt und ihn in der Aufregung umstößt. Beim Aufprall bricht die Plastikhaube des Automaten auseinander, der Boden wird von Pistazien überschwemmt.  Der Standbesitzer, Schwarte dicht auf den Fersen, rutscht aus und bricht sich spektakulär die Schulter, es gibt ein Riesengeschrei, doch Schwarte kann fliehen.

In der grünen Beatjacke hebt er ab wie eine Rakete.

„VOLLSAUF!“ zetert Marina Jahre später im Mumms. „JETZT REICHTS, SCHWARTE! RAUS MIT DIR!!“

Während das Publikum amüsiert den Gang versperrt, packen Eli und ich Schwarte in unsere Mitte und führen ihn nach draußen an die frische Luft.

Mummstrassenluft.

Dunkelbierwetter.

„Am besten, du haust dich ein Stündchen aufs Ohr“, rät Eli.

Seine Karre, eine blaue Ente, steht auf dem Parkplatz. Als wir das Restaurant Lotus Garden passierenam Ende der Mummstraße, kommt ein chinesischer Kellner vor der Tür und steckt sich eine Kippe an.

„Eh, du China-Kracher!“, grölt Schwarte, „Tu ma‘ Feuer!!“, obwohl er sich kaum noch auf den Beinen halten kann.

Nach einem kleinen Handgemenge schieben Eli und ich Schwarte auf den Rücksitz der Ente und ziehen wieder ab.

 

2

Der Morgen graut, als Schwarte auf dem Rücksitz erwacht, der Wind fegt durch die Ritzen. Er bibbert erbärmlich, und er hat nur eins im Kopf: so schnell wie möglich heim unter die warme Aua-Decke, wie Hacki das zu nennen pflegt, begleitet von einem Handstreich über den Schnauzbart.

Schwarte macht sich auf zur Bushaltestelle.

Kommt eine Frau daher. Viel zu große Schuhe. Ihre Haare flattern.

„Morgen. Hast du mal ne Kippe?“

„Nur Tabak“, meint Schwarte.

Er reicht ihr den Schwarzen Krauser.

„Kannst du mir eine drehen? Ich kann das nicht.“

Es ist Sonntag, kurz nach fünf. Ob überhaupt ein Bus fährt, bleibt ungewiss, weil der Fahrplan zerdeppert ist.

„Wo kommst du her, um diese frühe Zeit?“ fragt sie.

„Ich hab im Auto gepennt, von nem Kumpel, in der blauen Ente dahinten.“

Ihre Schuhe sind so groß, man kann sogar hinten reingucken, denkt Schwarte verblüfft. Da ist jede Menge Platz drin. Er fröstelt. Er kriegt kaum die Kippe gedreht, Tabak krümelt zu Boden.

„Ich penn überhaupt viel. Ich hab niedrigen Blutdruck.“

„Und wenn du mal nicht… pennst…?“ Sie lässt nicht locker. „Was machst du dann?“

Er weiß es nicht.

„Irgendeine Kacke ist doch immer am Dampfen. Schulter ausgekugelt, Läuse am Sack… “

„Aber du musst doch was machen im Leben. Was Richtiges. Was du gut kannst.“

Sein Gesicht hellt sich auf. „Wenn ich eins kann, dann für zwei saufen. Und Bass spielen. Kennst du Phonebone? Da spiel ich Bass..“

„Phonebone, he! Klar kenn ich die. Kennt doch jeder! Wer kennt nicht Phonebone. Ich mach auch Musik. Aber erst seit zwei Wochen. Da vorn kommt mein Bus, die 81. Machs gut!“

Gleich dahinter läuft die 84 ein, Richtung Widdert. Schwarte löst bis Endstation. Verdammt große Schuhe, die Frau, denkt er. Kurzentschlossen steigt er wieder aus und läuft rüber zur 81. Klopft an die Scheibe. Die Frau ist überrascht, ihr Haar flattert. Im Sitzen. Im Obus.

„Was is jetzt? Kommst du mit? Du wolltest doch ne Zigarette haben!“ ruft Schwarte, noch betrunken vom Vorabend. Da erlaubt man sich schon mal Dinge, die man sich sonst nicht erlaubt. Zum Beispiel Frauen in strammen Galoschen ansprechen. Und nach Hause einladen.

Endstation Widdert. Schwarte bewohnt zwei Zimmer unterm Dach, der rote Teppichboden ist wie neu. Und da ist die grüne Beat-Jacke mit den Silberknöpfen, logisch. Die Plattensammlung: alles von Tom Petty und den Heartbreakers.

„Hör mal, ich hab kein Interesse an Fummeln“, erklärt die Frau, die selbst im Bett die Schuhe anbehält, aber das kriegt Schwarte schon nicht mehr mit. Er ist auf der Stelle weggedämmert.

 

3

Sonntagmittag. Der lange Eli pocht an die Dachluke. „He, aufstehen! Ich brauch den Autoschlüssel!“

Der King of Absturz, noch tief im Tran, müht sich verkatert auf die Bettkante. Irgendwo brettert ein Moped durch Widdert. Er öffnet die Tür.

„Alter, komm rein. Was war denn los gestern Abend, hör mal War gut?“

„Nee, war scheisse“, erzählt Eli gutgelaunt und greift nach dem Porzellanbecher, auf dem dick Betthupferl steht und der randvoll gefüllt ist mit Traubenzucker.

„Sag mal, Schwarte, was sind das für Mauken unter deiner Bettdecke?“

„Was für Mauken?“ Schwarte reibt sich die Augen. Damenschuhe in Übergröße lugen unter der Decke hervor. „Die sind von der Frau, die ich heut Morgen an der Haltestelle aufgegabelt hab. Ist die etwa noch hier…?“

Er zieht die Decke ein Stück zurück. Tatsächlich. Die Nacht war kurz, aber er hat sie nicht allein verbracht.

Tja dann.

„Bestimmt ne Orthopädie-Studentin“, vermutet Eli und pfeift anzüglich. „Das wäre geklärt. Was ist, Schwarte. Kommst du mit ins Mumms, ne Runde Schnaps nachlegen?“

Mit der Linie 84 in die Stadtmitte. Ausstieg rechts. Mühlenplatz.

 

4

Im Mumms werden die beiden vom Stammpublikum aufs wärmste empfangen, inmitten von Rauchschwaden und einer ersten illegalen Pokerrunde mittags um zwölf. Benzini präsentiert die Wunden der vergangenen Nacht, Hacki hat sich angeblich heiser gevögelt und kriegt kein Wort heraus, Golo Redemann dagegen quasselt sich warm.

„Bier ist Männersache, Kinder. Es gibt nichts auf der Welt, was mehr an Männer erinnert als Bier. Höchstens noch Schweißfüße.“

Es dauert keine zwei Stunden, schon steckt Schwarte wieder mitten im Alkoholverbot. Auch der lange Elias schlägt diesmal derart zu, dass ihm das gefürchtete Stangenbier-Rheuma den Rücken hochkriecht und er sich grunzend am Tresen reibt, wie ein Bär in den Bergen.

„IHR GOTTVERDAMMTEN PRIMATEN! EUCH GEHTS WOHL ZU GUT!“ faucht Marina, doch da sind die beiden Saufasseln schon auf und davon, Richtung Bushaltestelle.

„Zweimal Endstation, Meister!“

Der Fahrer guckt misstrauisch, sagt aber nichts. Was soll er auch sagen?

„Busfahrer haben Bus zu fahren!“ stänkert Eli und der Fall ist erledigt.

Unterm Dach in Widdert legt er sich mit seinen Eins Fünfundneunzig gleich lang, weit nach hinten auf Schwartes Matratze.

Rummss!

„HE!! Was soll das?!“ beschwert sich eine Frauenstimme.

„Hups..“, murmelt Eli, „die Studentin, ’schulligung.“

Schwarte versteht die Welt nicht mehr.

„Ich hab niedrigen Blutdruck. Deswegen verpenne ich auch alles. Wahrscheinlich verpenne ich noch meinen Tod. Dann sitze ich hier auf meiner Bettkante und frag, wie spät isses, dabei schmore ich längst in der Hölle, mit nem Dreizack im Hintern und singe Hosianna…“

Er hat nicht nur eine sonore Stimme, Schwarte ist auch für seinen langanhaltenden, offenen Blick bekannt. Wenn er einen anguckt, hat man das Gefühl, dass er bis aufs letzte zu erfassen versucht, was in deinem Kopf los ist, was in dir vorgeht. Was du gerade denkst, was du gerade fühlst, was du demnächst singst.

Das kann dauern.

Die Frau gähnt. „Sag mal, der Lange, ist das dein Kumpel?“

Schwarte nickt und schaut ungeniert zu, wie sie sich ankleidet.

„Ich muss jetzt nach Hause“, sagt sie. „Gleich ist Versammlung.“

„Versammlung?!“ ruft Schwarte. „Ich komm mit.“

Sie nehmen die Linie 84 zurück in die Stadt, wo sie umsteigen in die 81 Richtung Merscheid. In Höhe Schwarze Pfähle pennt er ein. Die Frau schultert ihn kurzerhand und nimmt ihn mit zu sich nach Hause. Als Schwarte aufwacht, ist es mitten in der Nacht und stockfinster. Er hat keine Ahnung, wo er sich befindet. Da sind Stimmen. Sie kommen aus dem Nebenzimmer. Er fröstelt. Er öffnet die Tür. Schwarte sieht zwei Frauen, die am Tisch sitzen.

„Ahh, da ist ja unsere Penntüte… Ausgeschlafen?“

„Geht so“, meint Schwarte und knibbelt an seiner Beat-Jacke. Ein Silberknopf fehlt. „Tja, ich fahr dann mal nach Hause.“

„Moment…“ Die beiden Frauen stecken die Köpfe zusammen.

„Sag mal, bei dir ist doch noch der Lange?“

„Der Eli? Kann sein. Gestern Abend war er noch da.“

Mit dem Bus in die City, wo sie umsteigen und so weiter.

 

5

Unterm Dach in Widdert.

„Macht’s euch gemütlich, Kinder!“ ruft Schwarte ausgelassen. Er hat sich während der Busfahrt gefangen und mixt eine Lage Kölschbier mit Traubenzucker. Das ist so richtig nach seinem Geschmack, das bringt ihn auf Trab. Bis ihm plötzlich auffällt, dass etwas fehlt, und zwar auf der Nase.

„Meine schöne Ray Ban!!“

Schwarte geht in die Knie und krabbelt über den weinroten Teppichboden, auf der Suche nach dem guten Stück PVC, aber das liegt unter Garantie im Mumms, irgendwo hinterm Flipper. Die Mädels schütten sich aus vor Lachen, wovon der lange Elias erwacht und sich krachend erhebt.

„Was ist hier los..?“ blökt er knochentrocken, wie ein Ziegenbock auf Kreta.

Schwarte weiß auch nicht.

„Was soll schon los sein, Eli..? Nix is los.“

Dabei stimmt das gar nicht. So gesehen.

-*

Für Schwarte (1964 – 2022)

Der Mann mit der schwarzen Gitarre stand bei den Beerdigungen und Trauerfeiern von Benzini und dem dicken Hansen am Grab und spielte mit schwerer Stimme Johnny Cash, Hurt – wer spielt jetzt Hurt für Schwarte?

Große Abschiedsfeier am 17.9. in Widdert.

LINK: Schwarte singt Tom Waits, sein letztes Video (mit von einer Kreissäge lädiertem Finger)

*

Foto: Linda & Paul 

9 Gedanken zu „Das Geheimnis der grossen Schuhe *

    • Hurt hat er beide Male staubtrocken gespielt. Selbst für Karlos‘ Begräbnis im Dezember war Hurt vorgesehen, doch da war Karlos‘ Vater vor: er neigte zur engen Familienveranstaltung. Und Kirchenorgel.

      Die Ray Ban fand sich tatsächlich wieder, ziemlich ramponiert. Aber wo – keinen Schimmer.

      Gefällt 2 Personen

  1. … wir hatten die Phonebonetruppe 1988 (?) im Fotostudio auf der Kottendorfer Str. und seitdem hatten wir uns immer mal wieder im Meiers oder im Mumms getroffen. Sehr netter Zeitgenosse! Immer gut für ein angenehmes Gespräch. Sehr uneitel, sehr „down to earth“ — jemand der mir sehr fehlen wird.

    Peter (Amann) — und jetzt noch Schwarte … was für eine Schxxx-Zeit für die „Alles-Tester“ aus den späten Fünfziger und „Mitte-Sechziger“-Jahren.

    Wir sind mit dem „Anything goes“ erwachaen geworden, mit „du solltest mit der Scheiße aufhören“ erwachsen gewesen und mit dem „ich habe den Kram überwunden“ alt geworden. Und — egal — der Körper sagt dann anscheinend:“ Moment, da war doch was …“ Es ist wirkilch nicht lustig. Frage mich ob das Zitat von Mae West “ gettng old is not for sissies“ nur für sie selbst, oder das, was gerade abläuft, gemeint war — ist aber irgendwie auch egal — da fehlt in Zukunft jemand und jetzt fällts einem erst auf.

    Gruß
    Jens

    Gefällt 1 Person

  2. Lieber Andreas
    Sehr schön geschrieben, so kennen wir ihn
    Für mich war Schwarte einer der Menschen mit dem aufrichtigsten und besten Lachen, den ich kannte…wir hatten immer nur Spass mit ihm, wenn er nicht eingeschlafen ist…😘

    Gefällt 1 Person

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