Komische Story mit Indianer in Bibliothek

Im Design-Institut am alten Hauptbahnhof war ich das Kellerkind. Ich war da, wo die Bücher waren, während in den oberen Etagen geschuftet wurde, geforscht, Steine geklopft. Es waren mehr als 10.000 Bücher und sonstige Medien rund um das Thema Design, die ein emeritierter Wuppertaler Professor dem Institut überlassen hatte. Darunter rare Erstausgaben und ein seltener roter Koffer von Luigi Colani, in dem Plakate und persönliche Skizzen des Star-Designers verwahrt wurden. Soweit also der Stand der Dinge. Das Design-Institut hatte eine Schenkung am Hals und ich einen auf ein Jahr befristeten Job, der zweimal verlängert wurde.

Klare Sache, der Job zählte zu den besseren in meinem Leben. Obwohl die Schenkung mit der Auflage verbunden war, die Bibliothek der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, blieb die Öffentlichkeit überschaubar und ich hatte meine Ruhe unten im Kellergeschoss. Wenn ich aus dem Fenster blickte, sah ich die verlassenen Bahnsteige und von Kraut überwucherten Holztreppen des alten Hauptbahnhofs, dessen Gleise nur noch von einem letzten rumpelnden Regionalzug befahren wurden, im 20 Minuten-Takt.

Übrigens.

Ringo wohnte im selben weit verzweigten, restaurierten Gebäude. So nah, ich konnte Steinchen an sein Küchenfenster werfen, das nach hinten raus zeigte. Manchmal hörte ich lautstarke Streitereien, wenn er mit seinem aktuellen Morphin-Flittchen wieder im Clinch lag und es beschuldigte, heimlich von seinem Pulver genascht zu haben, du linke Tante! Hör auf, mich zu beklauen! Ringo war ein höflicher Junkie. Noch im gröbsten Dilemma behielt er sein Mitgefühl für die Welt, wie sie war.

Dann, im Sommer 2007, kam ein junger Indianer zu Besuch in die Bibliothek. Er trug sein langes, pechschwarz glänzendes Haar zum Zopf gebunden, und er sprach Spanisch. Er war nicht allein gekommen, er war in Begleitung einer Frau, die schmal und irgendwie verloren in ihrer Haut wirkte, wie in einer fremden Kindheit abgegeben, und nun fand sie nicht mehr zurück. Na, was weiss ich denn, irgendwie so. Eine blasse magere Deutsche eben. Und ich war der Mann, der in der Bibliothek zu tun hatte und seinen auf ein Jahr befristeten Job um ein weiteres Jahr verlängert haben wollte.

Wie immer bei schönem Wetter hatte ich die Tür des Lesesaals aufgesperrt. Die zum Hof hin offenstehende Tür war meine Einladungskarte für Leute, die sonst keine Bibliothek betraten. Für Zufallspublikum, das im Biergarten ein Gläschen Wein getrunken und nun noch zwanzig Minuten auf der Uhr hatte.

Der Job ließ genug Raum für meine Angelegenheiten. Ich pflegte täglich den 500beine-Blog und beobachtete den alten Mann, der jeden Morgen Punkt zehn im noch geschlossenen Biergarten vor der Bibliothek Platz nahm, sich in Positur brachte, während die Paulaner Bier-Flagge gegen den Mast peitschte. Statuenhaft saß der Alte da, regungslos, und so verbrachte er Stunde um Stunde mit Blickrichtung Eisenbahngleise. Leichte Sommerhose, Strandschuhe, kurzärmliges Hemd, sonnengeröteter kahler Schädel.

Der Wind zerrte an seinem langen weißen Schnauzbart, ein gestrandeter stummer Seehund. Nur gelegentlich wippten seine Füße, leicht, als lauschte er einer kleinen Melodie aus alter Zeit.

Jeder schleppt seine ureigene Musikbox durchs Leben, seine private kleine Wurlitzer. Erinnerungen, durchnumeriert von der ersten zarten Liebe über die Fahrt in den Jugendarrest (The Specials) bis zum Kiffer-Urlaub in St. Tropez – jedes Erlebnis ist unterlegt von einer bestimmten unveränderlichen Klangspur.

Ich bin ein Freund von kleinen einfachen Melodien. Von Scharlatanen, die einem den Bauchraum mit bloßer Hand öffnen und innerhalb drei Minuten wieder verschliessen, ohne ein Tröpfchen Blut zu vergiessen. Von Songs, die man ein paar Mal hören muss, bis die Kette in Gang gesetzt wird, an dessen Ende sie dich am Wickel kriegen.

Es beginnt mit einer achtlos weggeschnippten Zigarettenkippe, die eine Weile vor sich hin glimmt bis sie endlich einen Zipfel deines Gemüts zu fassen kriegt und einen Flächenbrand auslöst und alles niederfackelt in deinem Inneren Musikzimmer – zurück bleibt ein Klumpen Erinnerung, Livin‘ for the City, Stevie Wonder, eingeschmolzen auf alle Ewigkeit. Ach, halt doch die Klappe, Glumm.

*

Um halb sechs hörte ich Schritte im Lesesaal, Geräusper. Jemand zog ein Buch aus dem Regal und liess es zu Boden fallen.

„Mhh“, hörte ich, und ging nachsehen.

Da stand ein junger Mann mit einem Zopf, er hob ein Buch auf, mit dem Rücken zu mir, daneben eine Frau. Sie kicherte. Ein Mädchen fast noch.

„Hallo“, hauchte sie.

Ein großes Mädchen, schmal und verbaut.

„Hallo“, sagte ich irritiert.

(Ist die dünn.)

Sie lächelte. Er nicht. Er war versunken in das Buch in seiner Hand. Ich versuchte zu erkennen, um welches es sich handelte, doch das Cover kam mir nicht bekannt vor. Ich kehrte zum Schreibtisch zurück, zu meiner Arbeit an den Rechner, gab das nächste Buch in die elektronische Maske des Archivierungsprogramms ein. Ab und zu hörte ich Schritte in der Bibliothek, ein leises Gespräch. Ein Hinschleichen, ein Vagabundieren auf engstem Raum. Die beiden schlichen durch die Gänge und Räume, als wären Bücher ihr Hab und Gut.

Viertel vor sechs. In einer Viertelstunde schloss die Bibliothek. Ich ging nach nebenan in den Lesesaal, wo ein modernes Ensemble zum Verweilen und Lesen einlud: Designer-Stühle, deren Rücken aus strammen silbrigen Seilen geflochten waren und aus denen Silbermusik tönte, wenn man sich anlehnte. Harfen. Da saß aber niemand. Da lehnte sich niemand an. Sie waren weitergezogen in Raum 3, zu den Kunstbüchern. Großen überdimensionierten Schwarten, in aufwendigen Druckverfahren gefertigt.

Da waren die Diebe.

„In zehn Minuten ist Feierabend“, sagte ich.

Erschrocken vom eigenen schnarrenden Tonfall. Als wäre ein Warnlicht angegegangen auf der Autobahn, ein kleines Warnlicht. Aber Warnlicht ist Warnlicht. Ein KZ ist ein KZ, ein Aufseher ein Aufseher. Die beiden Besucher, die vor einem Stahlregal hockten und in großen unhandlichen Werkausgaben schmökerten, blickten verstört auf. Als hätten sie ganz vergessen, wo sie sich befanden. Dass es hier Öffnungszeiten gab, Modalitäten für die Ausleihe und einen Aufseher, der die Bibliothek nach und nach mit zehntausend Büchern bestückte und archivierte, hauptsächlich Design- und Kunst-Literatur.

Wen interessierte das überhaupt in unserer kleinen Stadt. Was eine bescheuerte Idee.

„Sechs Uhr Feierabend. Klar“, wiederholte die junge Frau knapp. „Wir sind gleich weg.“

Der Junge neben ihr, der aussah wie ein Indianer, schaute mich nicht an. Ein scheuer Mensch. Er gefiel mir. Sie fand ich auch nicht schlecht. Mich fand ich blöd. Den Ton an meinem Leib.

Zurück am Schreibtisch gab ich das letzte Buch des Tages in die Maske ein, ein Buch über Konrad Felixmüller, den Maler, der gern bei krawalligem Vollmond Dichter aus dem Fenster springen liess, während in Raum 3 eine betriebsame Aufräumaktion startete. Bücher wurden zurückgestellt, in so großer Zahl, dass ich aufblickte. So viel hatten die beiden doch gar nicht gelesen.

Ich rüber in Raum 3.

„So war das nicht gemeint“, sagte ich entschuldigend. „Ich mein, ihr könnt euch ruhig Zeit lassen. Ich meinte nur, dass um sechs geschlossen wird. Äh ja. Interessiert ihr euch für Design?“

Tolle Frage. Ganz tolle Frage. In einer auf Design und Kunst spezialisierten kleinen Buchbude. Während die Frau nickte, blickte der Indianer wie gebannt auf den schwarzen Granitboden zu seinen Füßen. Es war die gleiche Stelle, von der ich noch eine Stunde zuvor ein Fitzel Papier aufheben wollte, doch als ich die Hand ausstreckte, flatterte eine Motte empört zur Decke hinauf.

„Ja, er schon“, antwortete die Frau. „Er studiert Design. Aber er spricht nur spanisch. Habt ihr auch spanischsprachige Bücher?“

„Hm, ja.“

Da war dieser Schrank in der Ecke, in dem große Ordner verstaubten, Ordner mit aufgeklebten Etiketten, USA, Ungarn, UDSSR.

„Vielleicht bei den internationalen Büchern. Muss ich mal nachschauen. Kann sein.“

Tatsächlich fanden sich zwei Ordner mit dem Etikett Spanien.

„Und was ist hier mit dem Ordner hier, Nicaragua?“ fragte die Frau.

„Nicaragua? Wo?“

„Na, da“, antwortete sie, mit dem Zeigefinger.

„Ach da.“ Ich holte den Ordner hervor. „Dein Freund kommt aus Nicaragua?“

Der Indianer lächelte mich an. Wahrscheinlich, weil das Wort Nicaragua gefallen war. Es war ein dünner roter Ordner. Ich zog ihn hervor. Nicaragua. Ich hielt seine Heimat in den Händen. Er blickte stolz auf meine Hände.

„Hier“, sagte ich, doch er wehrte ab.

„Er kommt aus dem Hochland“, sagte die Frau.

So verloren wirkte sie gar nicht. Keinen Hacken verloren, ehrlich gesagt. Verstörend jung, verstörend dünn, das schon. Als hätte sie zu lange auf einem Bleistift geschlafen. Aber sonst.

Kaum fünf Minuten später, bei ihrem Aufbruch, reichte der Indianer mir die Hand. Wir waren jetzt Freunde. Ich hatte Nicaragua gesagt, ich hatte Nicaragua sogar mehrfach erwähnt, ich hatte einen Ordner über Nicaragua gefunden, in einer kleinen Design-Bibliothek im Bergischen Land. Wir hatten nicht mal reingeschaut in den Ordner, wir wussten gar nicht, was drin war. Hauptsache, es gab ihn. Er war da, und ich hatte Nicaragua gesagt.

Unsere Hände glühten.

Punkt sechs sagte die Frau wiedersehen. In der plötzlichen Eile liess sie einen DIN-A-4-Umschlag liegen. Sie waren schon fort, als ich es bemerkte. Der Umschlag war nicht zugeklebt. Ich sah Pass-Fotos, Bewerbungsunterlagen. Ich lief in den Hof und rief ihnen hinterher, doch sie waren zu weit weg.

Ich räumte den schmalen roten Ordner zurück in den Schrank für Internationale Angelegenheiten. Den Umschlag legte ich auf den Schreibtisch. Sie wird ihn irgendwann schon abholen, dachte ich. Tags drauf, wann auch immer. Ich hatte einen Indianer zum Freund. Hombre, dachte ich. Als ich die Bibliothek abschließen wollte, kam die junge Frau angespurtet, außer Atem.

„Ich hab..“

„..den Umschlag vergessen“, sagte ich.

Sie lachte befreit. Draußen im Hof sah ich den Indianer. Er stand in der Abendsonne und winkte zu mir rüber.

Ich winkte zurück.