Hundehalsband und Zigeunermädchen

Ich will ehrlich sein. Dass Frauen älter werden, okay, davon hatte ich gehört. Dass aber auch Frauen an meiner Seite älter werden, davon war nie die Rede. Damit hatte ich nicht gerechnet. Und dann kehrte sie eines Tages heim, vom Termin bei ihrer neuen Frauenärztin, Ende 2011, mit einer Schachtel Hormonpflaster im Gepäck, und sagte, sie wäre jetzt fünfzig und müsse nach Ansicht der modernen Medizin Hormone zu sich nehmen. Sie war richtig empört, während ich mit der Nase im Beipackzettel steckte. Ich las ein bisschen daraus vor, doch so richtig kapierte ich nicht, was das bedeutete. Was da los war im Körper der alternden Frau. Musste das überhaupt sein? Mir reichte schon mein eigenes Altern. Den Anblick beim Duschen. Dieser Knubbel, der gelegentlich am Sack gedieh und tags drauf wieder verschwunden war, wie ein mittelalterlicher Spuk, oder… ach, all die kleinen Dinge eben, über die man nicht mal unter guten Bekannten quatschte.

„Hormone sind wie Popcorn für die Gebärmutter“, übersetzte die Gräfin aufgekratzt. Besser gesagt: übersetzte sie freundlicherweise für einen Blödmann wie mich, der, sobald das Thema Körper und Heilkunst auf den Tisch kam, sein Gehirn abschaltete oder wenigstens in Sprit und Nebel hüllte. Ich hielt mich so gut es ging von Körpern fern, solange ich nüchtern blieb. Ich zog eine Mauer aus Unwissen um mich, um mich von diesem weiten unappetitlichen Thema zu schützen.

Popcorn für die Gebärmutter… Das klang schon besser.

Okay, auch damit konnte ich nicht viel anfangen, aber es war cooler als irgendwelchen Fachbegriffen hinterher zu stolpern. Es klang nach Kirmes, nach Blue Hawaii und Autoscooter, nach rieselnden Kokosnuss-Brunnen auf dem Tresen des Zuckerlädchens. Nach 50jährigen Jungen und Mädchen, die Dienstagnachmittags Zeit hatten, um über den Rummelplatz zu ziehen und sich gegenseitig zu necken. Und so waren wir zwei Hübschen tatsächlich noch erwachsen geworden. Und wie lange das gedauert hatte. Jahre, Jahrhunderte. Da waren andere Leute schon lange tot und vergessen.

„Das Leben beginnt mit 50…“, meinte sie tapfer.

„Klar“, sagte ich. „Wenn man vorher kein anderes hatte.“

*

„Wo ist eigentlich all das schöne Leben hin..?“ klagte sie später, als wir nach dem Mittagsschläfchen wieder halbwegs bei Besinnung waren. „Ich meine, ich hatte doch immer so viel Zeit. All die Stunden, die langen Tage. Sogar die Langeweile und die Leere fehlt mir… irgendwie.“

„Ja. Die Jahre sind zu klein geworden.“

Das Problem beim Mittagessen zu zweit inklusive gleichzeitigem Gerede: „Mir kommt gleich die Suppe hoch vom vielen Quatschen“, beschwerte sich die Gräfin. „Also ich meine: mein Magensud.“

Sie sucht gern nach adäquaten Worten. Wenn die Suppe in Wahrheit Magensud ist – nur: ist da wirklich ein Unterschied!? Für mich nicht. Ich weiß von alledem nichts. Kürzlich (welch ein Wort!) hörte ich von einem Bekannten, dass er schon seit Wochen mit Lungenembolie in der Klinik lag. Nun ist mir das Wort Embolie nicht unbekannt, aber ich weiß nicht, was das ist, eine Embolie. Ich blicke durch all diese medizinischen Daten und Worte nicht durch und ich will es auch nicht. Es gibt Dinge, die will ich gar nicht wissen. Ich versuche sie so schnell wie möglich zu vergessen.

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Wir haben zwei klassische italienische Espressokännchen zu Hause, ein kleines und ein großes. Wenn das große Espressokännchen auf dem Herd steht und das Kaffeewasser beginnt zu brodeln, klingt es wie ein Motorflugzeug, das hoch über den Wolken seine Kreise zieht. Im Sommer, wenn das Küchenfenster offensteht und ich sitze am Schreibtisch, bin ich mir ab und zu nicht ganz sicher, ist das nun der Espresso, der gleich durch ist, oder will da oben jemand in Ferien.

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Es gibt Tage. Da kann man froh sein. Wenn man nicht. Krepiert. Dass man einfach eine Weile weiter. Existiert.

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Als kleines Kind verstand sie nie so richtig, warum ein guter Mensch das Herz auf dem rechten Fleck haben sollte, wie man gerne sagte.

„Ich mein, ich hab dann sofort gefühlt, wo mein Herz schlägt… also bloß nicht zu weit links. Sonst wäre ich womöglich kein guter Mensch geworden.“

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„Man sollte sich kein Urteil erlauben über andere Menschen. Was sie denken, was sie tun, was sie wollen. Wir alle sind nur Teil der Evolution, und Evolution bedeutet Ausprobieren. Da geht andauernd was in die Hose.“

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„Deutsche sind ja immer persönlich beleidigt, wenn ihnen im Leben etwas zustößt. Als hätten sie etwas ausgefressen, wofür ihnen nun die Schuld abgeknöpft wird. Dabei schert sich die Evolution einen Scheißdreck darum, ob das Leben je nett ist zu den Leuten.“

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Es gibt Dinge, die sie nerven. Die sie einfach nicht in Ruhe lassen.

„Ohne nicht wenigstens 110 Jahre alt zu werden, hab ich keine Chance, all die Dinge zu tun, die ich noch tun möchte in meinem kurzen Leben. Und da ich es wohl kaum schaffe, so alt zu werden, 110, könnte das alles noch sehr unangenehm enden, für alle Beteiligten, die mein verfrühtes Ableben ertragen müssen.“

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Schon mal aufgefallen? Du kannst machen, was du willst, ein Hund streichelt einen niemals zurück. Vielleicht will ein Hund ja gar nicht gestreichelt werden. Vielleicht wollen Hunde einfach in Ruhe gelassen werden, mal abgesehen von Rassen, die gewerbsmäßig Richtung Kuscheln und Liebkostwerden gezüchtet werden, wie etwa der

  • Cavalier King Charles Spaniel
  • oder
  • der Chihuahua.

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Sobald ich das Haus verlasse, sorge ich dafür, dass ein Notizbuch in meiner Tasche steckt. Ich geh niemals ohne Notizbuch aus dem Haus, nicht mal die paar Schritte zur Mülltonne. Ich bin zerfressen von der panischen Angst, dass urplötzlich jemand meinen inneren Lebenskreis betritt und mir die Welt erklärt, mit einfachen Worten, spannend illustriert mit Händen und Füßen – und dann ist womöglich niemand da, der sein Notizbuch in der Tasche hat und alles mitschreibt. Oder der wenigstens die Diktiergerätfunktion seines Mobiltelefons aktiviert.

Große Horrorvision Nummer eins.

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„Wer seine Träume kennenlernen will, wer mal richtig runtersteigen will in sein Unterbewusstsein, der muss schon mal ordentlich ausschlafen.“

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„Weißt du was? Du bist ein Springer“, sagte sie und nahm einen Schluck von dem heißen französischen Espresso.

Es hatte über Nacht geregnet, Wasser tropfte von der Zeltwand, aber es machte uns nichts aus. Wir lagen schön gemütlich im Schlafsack, mit krümelnden Croissants vom Vortag und frisch gekochten Kaffee.

„Ein Springer..? Hm? Wieso? Was meinst du?“

„Na ja. Jahrelang machst du gar nichts, du liegst Amok im Bett, du verknöcherst, du kriegst Atemnot vor lauter Nichtstun, und dann, urplötzlich – innerhalb von zehn Tagen – krempelst du dein ganzes Leben um.“ Sie klopfte drei Mal gegen die Zeltstange am Kopfende. „Sa-gen-haft.“

„Mh.. ist wahr?“

„Nö. Ist nicht wahr. Aber du könntest so sein. Du könntest ein Springer sein.“

*

„Weißt du was? Du hast es im Kopf, aber nicht in der Hand“, sagt sie.

Ich hab keine Ahnung, wovon sie spricht.

„Na, was wohl.. Du hast mal wieder vergessen, dem Hund das Halsband abzunehmen, wenn ihr reinkommt.“

Ah. Und? Ist das wichtig? Das soll wichtig sein? Ich vergesse dauernd solche für mich unwichtigen Sachen. Es kann sein, dass mir erst nach vier Stunden Kopfarbeit am Schreibtisch auffällt, dass der Hund noch sein dreckiges Halsband trägt. Dreckig vom intensiven Buddeln, um in Mäusebauten vorzustoßen. Terrier-Denken.

Dabei ist es keine große Sache, dem Hund das Halsband NICHT abzunehmen, wenn man vom Spaziergang heimkommt. Aber es stört die Frau nun mal. Sie möchte, dass der Hund in der Wohnung kein Halsband trägt. Der Hund soll frei sein im Haus. Nicht geknebelt. Wie gesagt. Keine große Sache. Aber es sind nie die großen Sachen, an denen sich Streit entzündet. Dafür geschehen große Sachen viel zu selten. Das wäre ein beschauliches Dasein, entzündete sich Streit nur an krachenden großen Plänen. Nein, es sind Kleinigkeiten, die einem das Miteinander versauen. Viele kleine Nickeligkeiten. Wenn es den Menschen zu beschaulich wird in seiner Umgebung.

So sind es die Hundehalsbänder, die man nicht abnimmt, wenn man vom verregneten Spaziergang reinkommt und die Dinger aussehen, als wären es Bondage-Knebel mit Kegelnieten und Edelstahlstiften. Oder die Abdrücke der Hundepfoten, die man vergisst mit dem Handtuch abzurubbeln und zu reinigen, wenn man vom verregneten Spaziergang reinkommt und den ganzen Dreck in die Bude trägt – solche Sachen sind es, die eine Frau in den Wahnsinn treiben. Genauer gesagt, in den Hyper-Wahnsinn, denn es ist ja nicht so, als wären Frauen nicht schon per se wahnsinnig, von Haus aus. Wahnhaft. Frauenzimmer.

*

Es kann passieren, dass der Hund den halben Tag unterm Schreibtisch liegt und mir im Winter die Füße wärmt, bevor mir irgendwann auffällt, dass er das Halsband noch um hat. Nämlich dann, wenn ich mich fürs nächste Rausgehen parat mache und dem Hund im Hausflur das schicke neue rote Halsband anlegen will, was dann ja nicht mehr nötig ist. IST JA NOCH DRAN, DAS DING, HÄ HÄ. Eine bequeme kleine Sache ist die Vergesslichkeit. Eine Sache für Glumm. Mach ich doch gern. Sind doch keine Umstände.

Ach was.

*

Es liegt in der Natur der Sache, dass große Sachen selten geschehen, weil sie echte Ausnahmen sind, während kleine Sachen dauernd passieren und gern durch den Rost fallen, nicht einmal bemerkt werden. Da kann man im Rückblick schon froh sein, wenn überhaupt etwas übrig bleibt, was sich im Anhang auserzählen lässt, wenn man mit Freunden zusammensitzt und ein bisschen übertreibt, nur weil man glaubt, etwas zu erlebt zu haben.

*

Noch kurz bevor ich nach Hause kam, hatte ich mir fest vorgenommen, dem Hund das Halsband abzunehmen. Diesmal denke ich daran, dachte ich mit einem bösen Funkeln in den Augen, diesmal machst du deine Frau stolz und glücklich. Diesmal schaffst du es. Du nimmst dem Hund das nasse eingesiffte Halsband ab, bevor du aus dem Hausflur in die Wohnung trittst! Das muss doch drin sein! Doch kaum stehe ich im Hausflur, hab ich was anderes im Kopf und der Gedanke von zuvor ist futsch, der große Stolzmacher. Ist weg, weg, weg. Ab durch die Mitte. Futschikato, als hätte es ihn niemals irgendwo auf der Welt gegeben. Und die Frau ist wieder nicht glücklich und nicht stolz.

Ich weiß auch nicht.

Ehrlich gesagt: Ich kann tun und lassen und mir vornehmen, was ich will, ich vergesse einfach jedes Mal, dem Hund das scheiß Halsband abzunehmen, bevor ich die heiligen Hallen betrete, die schon lange keine heiligen Hallen mehr sind, weil ich jedes Mal vergesse bla bla bla…

*

Als wir in den 60erjahren aufwuchsen, fuhren noch Zigeuner in Wohnwagenkolonnen durchs Land, es war ein Bild, das die Menschen kannten. Ich schreibe Zigeuner, weil früher jeder Zigeuner sagte, warum sollte ich heute, wo ich aus dieser Zeit erzähle, ein anderes Wort dafür wählen. Aus Scham? Ich lache mich tot. Es gibt Dinge, über die man sich wirklich schämen sollte, auch heute noch, aber keiner tut es. Eines aber ist seltsam, und zwar etwas ganz anderes. Die Gräfin und ich wuchsen unabhängig voneinander am Stadtrand auf, (von zwei verschiedenen, nicht weit voneinander existierenden Städten), wo es damals noch genug freien Platz unterm Himmel gab und einen Wald in der Nähe, um es sich abends am Lagerfeuer gemütlich zu machen.

Ich erinnere mich daran, dass es bei uns an der Hasseldelle, die wenig später einer Trabantenstadt weichen musste, oft an der Haustür schellte. Die Zigeuner parkten in dicken Mercedes-Autos am Bürgersteig und öffneten den Kofferraum. Es gab Pelze für die Frauen, aber hauptsächlich große und kleine Läufer und Teppiche, die verkauft werden sollten, doch meine Eltern winkten ab – sie wollten nichts von Zigeunern kaufen. Sie hatten ihr provisorisches Lager keinen Kilometer entfernt aufgeschlagen, doch sie blieben unter sich, sie waren nicht laut, es waren exotische Menschen und so richtig kapierten wir Kinder von der Hasseldelle nicht, warum man uns den Kontakt mit den Kindern der Zigeuner verbot.

„Weil sie anders sind“, sagte meine Mutter. „Die wollen lieber unter sich bleiben.“

Wir waren natürlich neugierig und schlichen uns in der einbrechenden Dunkelheit so nah an das Lager heran, bis man uns fast entdeckte. Ein Zigeunermädchen, vielleicht so alt wie meine 15jährige Schwester, fiel mir auf, ich konnte die Augen nicht von ihr lassen. Ihr mopsiger Mund war es, der es mir angetan hatte, ein Mund, der aussah, als habe er heute schon geschluchzt.

*

Zur gleichen Zeit, vielleicht 30, 40 Kilometer entfernt, erlebte die Gräfin ähnliches. Auch am Stadtrand von Düsseldorf bildeten die Wohnwagen eine eigene kleine Stadt, sobald sie ihr Lager herrichteten. Und die kleine Gräfin war begeistert von den Dingen, die sie dort sah. Die fremdartigen Stoffe, die die Frauen am Körper trugen. Und dass sie irgendwie frei und ungewaschen waren. Jedenfalls so aussahen.

„Hab ich mir extra Dreck ins Gesicht geschmiert, damit ich schön wild aussah. Einen weiten, viel zu weiten Rock meiner Mutter zog ich an, den ich auf dem Speicher gefunden hatte. Und barfuß musste ich sein. Es war ein heißer Sommer, und ich lief barfuß über die Felder, bis die Sohlen bluteten. Als die Zigeuner weiterfuhren, spielte ich erstmal drei Wochen lang nur Zigeunermädchen. Meine sonstigen Freundinnen ließen sich erst wieder blicken, als das Lager aufgelöst wurde.“

„Ich fand sie so spannend, die Zigeuner, und ich weiß, dass einmal jemand von den Roma sprach, aber ich wusste gar nicht, wen er damit meinte. Sie zogen in großen Mercedes- und Opel Diplomat-Karawanen übers Land, hielten mal an jenem, mal an einem anderen Ort. Und die Wohnwagen waren fahrende Häuschen. Meine Mutter warnte uns vor Zigeunern. Ich war aber so fasziniert, mit meinen acht Jahren wollte ich nichts lieber, als mit ihnen durch die weite Welt zu ziehen. Ich seh noch die alte Chefin vor mir, die älteste Zigeunerin. Sie ertappte mich, wie ich ihr zuguckte, aber sie winkte mir nur freundlich zu, als ich oben auf dem Berg stand und runterguckte. Die Alte hätte mich bestimmt mitgenommen, die mochte mich.“

„Stattdessen lag ich abends im Bett und hörte die lautstarken Streitereien im Haus. Überall stritten sich die deutschen Eltern. Ich betete, dass meine Eltern sich nicht scheiden ließen und fragte mich, zu wem ich gehen würde, wenn Vater und Mutter sich trennen würden. Ich wusste es nicht. Ich fand keine Lösung. Ich wollte ein Zigeunermädchen sein.“

7 Gedanken zu „Hundehalsband und Zigeunermädchen

  1. Schön, nach längerer Zeit mal wieder was von dir zu lesen auch über meine eigene Kindheit. Danke für deine entspannte Haltung zum Begriff Zigeuner (immer noch meine Lieblingssauce) Ende Juni sind wir als „Goldabiturienten“ ganz ohne-innen weil reiner Jungensjahrgang zur alten Penne Schwertstrasse eingeladen. 50 Jahre her und ich werd 70 dieses Jahr, noch so wenig und doch so viel Zeit…

    Liebe Grüße aus Bayern

    Jürgen

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  2. danke für diesen text, ich bin so froh hier etwas neues zu lesen. und es berührt mich, besonders auch das altwerden. neulich las ich auch, das bleibt jetzt, wird nicht einfacher. ich will keinen druck mach, aber warte noch auf ein neues buch, herzlichen gruß, roswitha

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  3. Es sind nicht die großen Dinge, die einen ins Irrenhaus bringen. Auf den Tod ist man gefaßt, auf Mord, Inzest, Raubüberfall, Feuer, Überschwemmung … Nein, was einen ins Irrenhaus bringt, ist die nie abreißende Serie von kleinen Tragödien … Nicht der Tod eines geliebten Menschen, sondern ein Schnürsenkel der reißt, wenn man eh schon zu spät dran ist …

    (Charles Bukowski)

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