Das war 1980

Zwölf meiner achtzehn Monate Zivildienst leistete ich 1980 im Marienkrankenhaus in Kaiserswerth, einem historischen Stadtteil von Düsseldorf mit hübschen kleinen Gässchen, einer berühmten Burgruine und einem Haufen Kopfsteinpflaster, direkt am Rhein gelegen und am Wochenende zugestellt mit dicken Touristen und ihren dicken Hunden.

Wie die anderen Zivis bewohnte ich ein schmales Zimmer im Schwesternwohnheim auf der Friedrich-von Spee-Strasse, wo ich es in den folgenden zwölf Monaten tatsächlich fertig brachte, keine einzige Schwester zu bumsen – na schön, war ja auch kein Schwesternbumsheim.

Obwohl.

Da wohnten ja nicht nur Krankenschwestern. Da war zum Beispiel Jelena. Forsche rote Bäckchen, Mitte Zwanzig und ein Hintern, der unter der Schürze knackte und knurpselte wie ein Butterkeks. Sie arbeitete als Köchin in der Spitalküche, in die man mich für einige Wochen strafversetzt hatte.

Auf einem Konzert der Who in der Essener Grugahalle waren Pepe, der dicke Hansen und ich beim Kiffen erwischt worden, worauf das Düsseldorfer Rauschgiftdezernat in meiner Abwesenheit das Zimmer im Wohnheim gefilzt hatte. Auch wenn kein Krümel gefunden wurde, die Krankenhausleitung, ein verschwitztes kleines Kerlchen, hielt es für angeraten, mich vorerst von der Pflegestation fernzuhalten, wo ich jeder Zeit Zugang zum Giftschrank hatte. Tatsächlich genehmigte ich mir hin und wieder eine kleine Valium, aber nur hin und wieder, und längst nicht immer nur scheiß Valium.

In der Spitalküche hatte ich es hauptsächlich mit der Kartoffelschälmaschine zu tun, einem prähistorischen, laut rumpelnden Monstrum, das die Kartoffeln so schlecht geschält ausspuckte, dass ich jeder einzelnen nachträglich mit dem Kratzmesser auf die Pelle rücken musste. Stunde um Stunde saß ich in dem kleinen Kabuff, den man eigens um die Höllenmaschine herum aufgebaut hatte, und schälte tonnenweise Kartoffeln. Es ging soweit, dass ich im Schlaf Püree ejakulierte, oder mir das zumindest einbildete.

Am schlimmsten aber war es, wenn besonders viele Kartoffeln auf dem Speiseplan standen und die Maschine bis zum Platzen ausgelastet war. Dann machte sie sich selbstständig,  watschelte im Krebsgang von einer Ecke des Kabuffs in die andere Ecke, dampfte und rappelte und pfiff vor sich hin, ein verrückt gewordenes Kindergartenkernkraftwerk, nur eben mit Kartoffeln drin. In solchen Momenten flüchtete ich nach nebenan in die Küche, wo die frech grinsende Jelena es jedes Mal aufs Neue schaffte, ihren wippenden Hintern in mein Blickfeld zu rücken. Was so schwer nicht war. Was Hüften und Hintern betraf, hatte ich diesen Tunnelblick, wie jeder Mann Anfang Zwanzig.

Und Jelena gab zusätzlich ihr bestes. Sobald ich in ihrer Nähe war, gab es stets eine Pfanne aus dem Schrank zu ziehen, aus dem aller untersten Fach, fast aus dem Keller, wozu sie sich ganz doll bücken musste. Auch die blütenweiße Küchenschürze zurrte sie erst fest, wenn sich unsere Blicke trafen. Sie war ein einziges Versprechen. Fast eine Drohung.

Mittags versammelten sich alle Küchenkräfte um eine lange Tafel und es wurde gemeinsam gegessen. Jelena schaufelte enorme Portionen Rindfleisch, Kartoffeln und Gemüse auf meinen Teller, („Keine Kartoffeln!“ schlug ich die Hände überm Kopf zusammen), als wollte sie mich mästen. Mästen für eine Nacht in ihrem Zimmer im Schwesternwohnheim, zu der es niemals kommen sollte.

Nicht, dass sie mir nicht gefallen hätte, sie war sexy, sie kam aus Polen, doch je mehr Hokuspokus sie veranstaltete, desto weniger Lust hatte ich auf sie. Ich wurde den Verdacht nicht los, dass nichts übrig bliebe von mir, würde sie mich erst mal in der Mache haben.

„Du nix lieben Frauen?“ fragte sie mich irgendwann mal, als ich nicht mehr in der Küche arbeitete und wir uns auf dem Flur des Wohnheims über den Weg liefen.

„Na doch“, sagte ich, und wurde rot.

Nachdem das Verfahren wegen Haschisch rauchen auf einem Rockkonzert gegen uns eingestellt worden war, rief mich das verschwitzte kleine Kerlchen ins Personalbüro und stellte mir frei, den Rest meiner Zivildienstzeit mit Kartoffeln schälen in der Küche oder Urinbeutel anlegen auf Station zu verbringen. Und da gäbe es ja noch die Alternative als Springer im OP-Saal. In der Orthopädie. Da hatte man jedes Wochenende frei und bekam sogar eine kleine Zulage gezahlt, weil kein Zivildienstleistender Lust hatte, den Chirurgen Blut von der Brille zu wischen, während sie gebrochene Hüftknochen aus alten Leuten meißelten und sich untereinander dämliche Krankenhauswitze erzählten.

Ich machte es. Die 100 Mark Zuschlag und die geregelte Fünf-Tage-Woche gaben den Ausschlag. Doch schon nach einem halben Jahr spielten meine Nerven nicht mehr mit. Ich hatte genug Blut sprudeln gesehen und genug Gerüche ertragen, die einem beim Aufsägen von Hüften in die Nase steigen, und ich hatte ein amputiertes Bein, noch warm, ins Krematorium getragen. Ich hatte die Nase voll. Ich ließ mich nach Solingen versetzen und wurde die letzten Monate meiner Zivildienstzeit in den städtischen Krankenanstalten eingesetzt, Pflegegruppe 46, Haus 6, Pflegehelfer.

Am ersten Tag lernte ich Herrn Sommer kennen. Herr Sommer war Anfang dreißig, sportlich und querschnittsgelähmt. Seine Gattin, die in ihrem blauen Kostüm an eine Stewardess auf einem 60er Jahre-Flughafen erinnerte, kam täglich vorbei, um bei der Körperwäsche zu helfen. Während ich mich dem oberen Bereich widmete, machte sie sich untenherum zu schaffen, wobei ihrem Mann nicht selten eine Erektion wuchs, die er nicht sehen konnte und nicht spürte, also sagten wir ihm nichts davon.

War uns diese Situation anfangs noch unangenehm, so gewöhnten wir uns bald daran, ein Schwätzchen zu halten oder still der Arbeit nachzugehen, während ihr Ehegatte mit einem mittelschweren Rohr zum Fenster raus starrte.

„Nun lass mal das Herr weg..“, bot mir Herr Sommer das Du an. „Sag Kawa zu mir, wie alle meine Freunde.“

Ich wusste nicht, von welchen Freunden er sprach, diese Freunde, von denen ich niemals einen sah, waren unsichtbare Freunde. Vielleicht mit einem schlechten Gewissen, weil sie es gewesen waren, die ihn befeuert hatten, die verlorene Wette einzulösen.

Welch ein dämlicher Wetteinsatz:  im volltrunkenen Zustand sollte der Verlierer in die Wupper springen. Kopfüber. Nun ist die Wupper dafür bekannt, nicht besonders tief zu sein, und sie hat tückische Stellen. Aber Kawa Sonntag hatte die Wette verloren, und er stand zu seinem Wort. Es war Samstagnacht. Im Dunkeln nahm er kurz Anlauf und machte einen Köpper ins Wasser, begleitet vom Gejohle der Freunde. Er prallte mit dem Schädel auf einen Felsen, der gleich unter der Wasseroberfläche nur auf einen Dummkopf zu warten schien. Er verlor sofort das Bewusstsein.

Als er erwachte, auf der Intensivstation, konnte er nur noch den Kopf bewegen: ein kleines Stückchen nach rechts, ein kleines Stückchen nach links. Ein klitzekleines Stückchen. Kaum Spielraum. Das war nun schon drei Jahre her, und nichts hatte sich seither geändert.

„Du kannst es doch gut mit dem Sommer“, meinte die Oberschwester zu mir, „kümmere dich ein bisschen um ihn.“

So kam es, dass ich in den letzten Monaten meines Zivildiensts Herrn Sommer („Mensch, nun sag doch Kawa“) den Strohhalm hielt, aus dem er so gerne Apfelschorle schlürfte, seine wundgelegenen Stellen versorgte und ihm den Hintern wischte, wenn seine Ehefrau mal keine Zeit hatte. Doch ich brachte es nicht fertig, ihn zu duzen. Ich blieb bei Herr Sommer. War ja auch ein schöner Name.

In meiner letzten Woche begann er aus seinem Leben zu erzählen. Er erzählte von den Bergen, die er als junger Mann bestiegen hatte, von dem Drachen, den er geflogen war, vom Skifahren. Ein Tausendsassa, immer in Bewegung, ein Sportler durch und durch. Und nun: kaum noch Spielraum.

„Kawa konnte keine zehn Minuten die Füße stillhalten, schon quietschten seine Schuhe“, scherzte seine Frau.
„Im nächsten Leben werde ich Zugvogel“, sagte er. „In diesem schaff ich das nicht mehr.“

Niemals klagte er, niemals sah ich eine Träne in seinen Augen, doch eines ließ er mich wissen, am letzten Abend, bevor wir uns voneinander verabschiedeten.
„Das Leben, wie du es kennst, kann in einer einzigen falschen Sekunde vorüber sein. Also nutze deine Beine, renne und springe, mach einen Knicks vor der Königin, sei Kind. Und scheiß in die Wupper, aber spring niemals rein.“

*

Jahre später, Frau Moll war noch Welpe, gingen wir in Hästen durch den Wald spazieren. Es war Winter, und an einer steilen Stelle, wo das Laub unter dem frisch gefallenen Schnee einen unsichtbaren seifigen Untergrund bildete, rutschte ich ohne Ankündigung weg. Eigentlich habe ich gute Reflexe, wie ein Handballtorwart, doch in diesem Moment nutzte das gar nichts: Ich fiel um wie ein Besen in der Besenkammer – da war nichts mit Abfangen. Ich stürzte mit dem Schädel auf einen vereisten Wurzelstrang, hart wie Beton, der um Haaresbreite meine Schläfe verfehlte. Ich rappelte mich auf, die Gräfin kam angelaufen, der Hund kläffte, und vor meinem inneren Auge tauchte Kawa Sommer auf.

Ich sah ihn vor mir, hoffnungslos in seinem Spezialbett, die Decke bis unters Kinn hochgezogen und den Schritten auf dem Krankenhausflur lauschend – vorm Fenster tippelte ein Vogel auf der Balkonbrüstung hin und her.

6 Gedanken zu „Das war 1980

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