Vater geht’s besser


oder

 DAS DURCHGANGSSYNDROM 

26. Januar 2009

„Ihr Vater randaliert nachts“, sagt die Krankenschwester auf der Intensivstation.

Ich bin baff.

„Mein Vater.. und randalieren!?“

Sie nickt und nimmt mich beiseite.

„Ich mag Ihren Vater, wirklich. Aber wenn er anfängt zu schreien wie am Spieß und mit Flaschen um sich zu schmeißen..“

„Flaschen? Was für Flaschen denn ..?“

„Na, was er gerade zur Hand hat, was er zu packen kriegt. Mineralwasser, Apfelsaft, egal. Besonders schlimm ist es, wenn er mitten in der Nacht aufwacht und keine Orientierung hat, wenn er nicht weiß, wo er ist. Oder wenn er glaubt, er wäre in Kriegsgefangenschaft. Seine Bettnachbarin kann froh sein, dass sie nicht am Kopf getroffen wurde.“

Anfangs war ich überrascht, dass auf der Intensivstation Männer und Frauen Bett an Bett liegen, dass kein Unterschied gemacht wird zwischen Männern und Frauen auf der Intensivstation, doch schon bald gewöhnt man sich daran, dass es nur einen Unterschied gibt auf der Intensivstation, und das ist der Unterschied zwischen Leben und Tod.

Dass Vater ausfallend wird, ist neu. Ein alter Mann, der liebend gern flüchten würde aus dieser Hölle, die ihn notdürftig am Leben hält, doch zur Flucht fehlt es ihm an jeglicher Durchschlagskraft. Er ist so neben der Kappe, so daneben haben wir ihn noch nie erlebt. Um seinen schnaubenden Herzschlag zu verlangsamen, (Pulsschlag 150 bei Einlieferung), bekommt er stark sedierende Medikamente, er ist oft kaum in der Lage zu reden, geschweige denn aus einer Klinik zu fliehen. Ehrlich gesagt frage ich mich, wie ein Mensch in seiner Verfassung mit vollen Flaschen um sich werfen soll. Er ist so geschwächt, er schläft mitten im Sprechen ein, und er tippelt mehr, als dass er geht. Wenn er es denn überhaupt aus dem Bett schafft, ohne lang hinzuschlagen.

Freitag früh, so die Schwester zögernd, habe es eine Situation gegeben, „eine kritische Situation“, wo schon alles vorbereitet war für die künstliche Beatmung.

„Die Herz-Lungen-Maschine stand bereit, Ihr Vater war intubiert.“

Erst in letzter Sekunde hätten die Ärzte die alles rettende „richtige Medikation“ gefunden, um die künstliche Beatmung noch abzuwenden. Klingt beinah, als habe ein halbes Dutzend Spezialisten an seinem Bett gestanden und verzweifelt alle verbliebenen Optionen durchgespielt, bevor einem der Beteiligten das rettende Schäufelchen Nitroglycerin einfiel.

„Ja, so ungefähr..“, antwortet die Schwester ausweichend.

Es ist Vaters zweiter Herzinfarkt, doch so schlimm war die Desorientierung beim ersten Mal nicht, obwohl ihm ein Bypass eingesetzt wurde. Wir stehen zu dritt an seinem Bett. Mein Bruder, meine Mutter, ich.

„Dass du bald wieder auf die Beine kommst“, versuchen wir Vater Mut zu machen, ihn aufzubauen.

„Ja, das sagt man immer“, entgegnet er leise.

 

28. Januar 2009

Vater ist auf die Kardiologie verlegt worden, wo er eigentlich nicht hingehört, wie uns eine Pflegekraft zwischen Tür und Angel erklärt. Schließlich sei unser Vater Privatpatient, und Privatpatienten gehörten auf die Privatstation in Haus G und nicht auf die normale kardiologische Station. Man warte nur auf den Anruf von dort, dass ein Bett frei werde, dann würde Vater ohne Umschweife verlegt werden. Spricht der Pfleger und verschwindet zackig und behende um die Ecke ins Schwesternzimmer.

Nachdem Vater gestern überraschend klar im Kopf war und mit fest zupackender Stimme sprach, (er saß sogar aufrecht im Bett und schäkerte mit der Kopftuch tragenden türkischen Krankenschwester, „ha, da kommt ja wieder einer von den sieben Zwergen“), ist seine Stimme heute wieder bräsig und matt. Sein Herz brodelt ängstlich hinter den Worten, das Gebiss sitzt locker und schwimmt unruhig durch den Oberkiefer. Irgendwann kann ich es nicht mehr mitansehen. Ich nehme die Prothese heraus, spüle sie im Bad unter fließend heißem Wasser ab, trage einen Streifen Haftcreme auf und drücke das Ersatzteil solange unter seinen Gaumen, bis es festen Halt bekommt und nicht mehr wackelt.

Ich bin selbst erstaunt, dass ich die Dinge in die Hand nehme anstatt darauf zu warten, dass ein anderer sich vordrängelt, wie ich es sonst handhabe, aber es ist ja niemand da, der sich vordrängelt. Und ich kann es ja schlecht die Gräfin machen lassen, und Mutter ist mit den Nerven noch mehr am Ende als ich.

Es ist kaum zu ertragen, Vater so malad zu erleben, auch wenn er schon 83 ist. Es ist, als wäre ein Orkan durch ihn hindurchgefegt und hätte nichts zurückgelassen. Ein entkernter Mensch. Und doch kein Fremder. Beim Verabschieden ist dieses Gefühl im Raum, dass es das letzte Mal sein könnte. Andererseits könnte selbst in regulären Zeiten jede Begegnung die letzte sein, da kann man noch so kerngesund aus der Wäsche gucken.

Mutter kommt täglich ins Klinikum, meist gemeinsam mit meiner Schwester, auch wenn sie et arm Dier hat, das arme Tier, wie der Einheimische ein schweres Gemüt nennt. Wenn meine Schwester keine Zeit hat, begleiten die Gräfin und ich meine Mutter, oder mein Bruder nimmt sich einen halben Tag frei. Jeden Tag ist jemand aus der Familie im Krankenhaus. Vater jetzt bloß nicht allein lassen, ist das Gebot der Stunde. Ein frommer Wunsch. Selbst wenn wir es schaffen, drei Stunden am Tag für ihn da zu sein, bleiben immer noch einundzwanzig Stunden, an denen keiner da ist. Nicht von uns. Vom Klinik-Personal ist nicht viel zu erwarten. Nicht etwa, weil es faul wäre, es gibt einfach nicht genug.

Mutter ist bestürzt, dass es Vater wieder so schlecht geht, hatte sein Zustand tags zuvor doch Hoffnungen geweckt.

„Ich schätze, es wird noch eine ganze Weile ein Wellental bleiben“, sage ich später im Auto zu ihr, „bis es ausgestanden ist.“

Ausgestanden..? Woher ich die plötzliche Zuversicht nehme, ist mir selbst ein Rätsel, und dennoch, es klingt nicht wie eine Notlüge. Eher wie der Versuch, jetzt nichts falsches zu sagen. Die vorläufige Diagnose: Allgemeine Herzschwäche. Durch die verminderte Pumpleistung des Herzen hat sich in Vaters Beinen Wasser angesammelt, und nicht nur da. Auch die Lunge war bei Einlieferung so voller Flüssigkeit, dass er darin fast abgesoffen wäre, wie der Stationsarzt meint. Das Ergebnis: eine veritable Lungenentzündung. Mittlerweile sieht die Lage wieder besser aus. Das Wasser ist aus den Beinen herausgeschwemmt, die Lungenentzündung mit Antibiotika niedergekämpft. Und morgen, so die ansonsten weitgehend ahnungslose Stationsschwester, soll Vater wiederholt vom krankenhauseigenen Psychiater begutachtet werden.

Wiederholt? Wieso wiederholt..!? Uns war nichts davon bekannt, dass sich ein Psychiater Vater angesehen hat. Immer wieder passiert es im Klinikum, dass Maßnahmen ergriffen werden, von denen man als Angehöriger nichts erfährt, oder doch nur zufällig, wie nebenbei, und grundsätzlich erst im Nachhinein. Schon die interne Kommunikation zwischen Pflegern und Ärzteschaft klappt oftmals nicht, wie eine Oberschwester ungefragt bestätigt.

„Der da sagt uns ja auch nie was“, murrt sie, als ein Assistenzarzt mit wehendem Kittel und Vollbart über den Flur rauscht, als wäre er in einem russischen Arzt-Roman unterwegs zu seiner Liebsten, hinten in der Datscha (Schwesternzimmer).

Zur Sorge um Vater kommt die Sorge um Mutter hinzu, die mit ihren 81 Jahren allein zurückbleibt. Die Sorge, dass ihr zu Hause etwas zustößt, dass niemand da ist, der ihr helfen kann, sollte sie stürzen. Bei Osteoporose kann schon der kleinste Sturz einen Oberschenkelhalsbruch verursachen. Osteoporose ist ein Killer, der mit altmodischen Mitteln arbeitet, und Mutter hat bereits zwei künstliche Hüften. Hohes Alter ist nichts als Sorge. Hohes Alter ist ein großes ungemachtes Krankenhausbett, voller Krümel und Bluttupfer. Hohes Alter ist ein Bettnachbar, dem es um einiges besser geht als einem selbst. Hohes Alter ist ein Katheter, ein Notarztkoffer und ein zu Boden gestürzter Sputumbecher. Hohes Alter ist eine Patientenverfügung, an die niemand herankommt, weil der Schlüssel für den Safe verlorengegangen ist.

Hohes Alter ist Vater und Mutter.

 

31. Januar 2009

Seit gestern liegt er auf Station G, er liegt jetzt privat. Besser geht es Vater dadurch nicht, aber es geht ihm auch nicht schlechter, das ist ja auch schon mal was. Erfolgsmeldungen relativieren sich mit der Zeit. Was gestern noch schwach und besorgniserregend klang, ist heute schon ein Fortschritt, nur weil es sich nicht verschlechtert hat. Und manche Dinge ändern sich nicht. Es ist ihm nicht begreiflich zu machen, dass er an den Katheter angeschlossen ist, er hat immerzu das Bedürfnis, pinkeln zu müssen, aufs Klo zu gehen.

„Du kannst einfach laufen lassen..“, wiederhole ich. „Du brauchst keine Angst zu haben, dass du in die Hose machst..“

„Ich mach in die Hose?“

„Nein, eben nicht. Du bist an einen Beutel angeschlossen, der hängt da unten, siehst du, hier, da läuft alles rein, von ganz allein..“

„Ja, da sagst du was..“, sagte Vater leise und nickte mir zu, als hätte er endlich begriffen, wie der Hase läuft.

Keine zwei Minuten später hörte ich ihn wimmern und wehklagen.

„Ich muss pinkeln..“

Meine Schwester meint, es wäre bei ihm mittlerweile wie in Und täglich grüßt das Murmeltier.

„Wenn er das Gefühl hat, aufs Klo zu müssen, steht er jedes Mal vor einer neuen Situation, egal, was man ihm zuvor alles erklärt hat. Er ist ständig mit einer neuen Situation konfrontiert, für die er keinen Abgleich im Gehirn findet.“

Die Diagnose ist nicht mehr vorläufig, sie gilt: Allgemeine Herzschwäche, Kammerflimmern. Auch seine zunehmende Verwirrtheit bekommt einen Namen: Durchgangssyndrom. Es betrifft traumatisierte Patienten nach Infarkt, Schlaganfall und ähnlich schweren Störungen.

Durchgangssyndrom also. Die Kranken verlieren die Orientierung, erkennen ihre Angehörigen nicht mehr, verwechseln Namen und Gesichter. Ist der Betroffene nach einer Weile medikamentös eingestellt und normalisiert sich sein Zustand, kann er wie zuvor weiterleben – kann, sicher ist das nicht. Denn je länger das Delirium, der verwirrte Zustand anhält, desto unsicherer ist es, ob die Diagnose Durchgangssyndrom überhaupt zutrifft, oder ob nicht schon Altersdemenz dahintersteckt.

Jedes Mal, wenn daheim das Telefon klingelt, warte ich, bis die Mailbox anspringt, anstatt den Hörer abzunehmen. Jetzt bloß nichts anders machen als sonst auch. Und dennoch, eines Tages wird es so kommen. Das Telefon klingelt, und jemand ist tot, den du liebst. Nein, dann lieber nicht abheben. Dann lieber die Mailbox scharf stellen, den Anruf abhören und hoffen, dass nichts schlimmes passiert ist.

Vaters Bettnachbar auf der Privatstation ist derselbe wie zuletzt auf der Kardiologie, die beiden alten Männer sind gleichzeitig verlegt worden. Der Nachbar berichtet, dass Vater im Schlaf ständig vom zweiten Weltkrieg erzählt, geradezu manisch, wieder und wieder. Immer sei von abgerissenen Beinen die Rede, im Geäst irgendwelcher Bäume. Aus Vaters Erzählungen weiß ich, dass er als 17jähriger Melder unter Granatbeschuss an der Westfront unter Bäumen herlief, in denen abgerissene Soldatenbeine hingen – die Stiefel steckten zum Teil noch am Fuß. Bald darauf geriet er, noch auf französischen Boden, in englische Kriegsgefangenschaft. Man verschiffte ihn nach Bournemouth, Südengland, und es begann der friedliche Teil des großen Abenteuers Weltkrieg.

Wir Kinder sind mit dem Krieg unseres Vaters aufgewachsen. Auch Mutter berichtete von Bombennächten in Bunkern und überfüllten Luftschutzkellern,  („wenn man im Keller saß und über einem heulten und pfiffen die Bomber, das war ein Gefühl, als drehe sich die Welt einen Tick zu schnell“), doch da Vater so gern und ausgiebig von früher erzählte, blieb ihre Familiengeschichte weitgehend im Hintergrund.

 

2. Februar 2009

Fahre mit Mutter und der Gräfin ins Krankenhaus. Im Badezimmer helfe ich Vater („unter Männern“) aus einer langen grauen Frotteeunterhose in eine frische lange graue Frotteeunterhose. (Mutter meint, er laufe eigentlich ganzjährig in langen Unterhosen herum, es könnte ja jederzeit ein Temperatursturz einsetzen.)

„Unter Männern“, nickt Vater bedächtig.

Wo wir schon mal dabei sind, wechseln wir auch gleich sein am Rücken offenes Spital-Hemd. Die ungewohnt intime Nähe zwischen uns, das grelle Badezimmerlicht, die überhitzte Krankenhausluft – es ist alles sehr verstörend.

Es ist das dritte Mal, das ich ihn besuche, seit er im Städtischen liegt, und von diesen drei Malen ist sein Zustand heute der beste. Aus der Sicht meiner Mutter hingegen, die seit fast zwei Wochen jeden Tag zu Besuch kommt und alle Aufs und Abs hautnah miterlebt hat, sieht die Sache anders aus. Sie ist erschüttert, welch wirres Zeugs Vater zum Teil redet, wo er doch tags zuvor wieder mal klar im Kopf gewesen sei.

Die Gräfin, die Vater heute zum ersten Mal besucht, glaubt fest an ihn. Er hat einen starken Lebenswillen, sagt sie. Und: „Er hat immer noch Hunger. Er weiß immer noch, was er essen will. Das ist die Hauptsache. Er kommt wieder, verlass dich drauf.“

 

4. Februar 2009

Um elf bringt die Gräfin meine Mutter und mich ins Krankenhaus, dann fährt sie weiter nach Ohligs ins Atelier. Dass heute ein schwerer Tag werden wird, liegt auf der Hand. Vater soll verlegt werden ins zwanzig Kilometer entfernte Landeskrankenhaus Langenfeld. Dazu muss er sein Einverständnis geben, und sollte er dazu nicht in der Lage sein, müssen wir Angehörige für ihn entscheiden.

Man hat uns für 11 Uhr 30 zur Visite bestellt. Es soll eine Besprechung mit dem behandelnden Arzt stattfinden. Da meine Schwester und mein Bruder arbeiten müssen, sind es meine Mutter und ich, die im Krankenzimmer zwei Stunden lang auf die Visite warten.

Vaters Schlafanzug ist besudelt mit getrocknetem Blut. Er ist in der Nacht wieder einmal gestürzt, hat am Kopf eine kleine Platzwunde davongetragen. Er versteht das alles nicht mehr. Als er davon hört, dass er das Krankenhaus heute Mittag verlassen wird, allerdings nicht Richtung Heimat, wie erhofft, sondern in eine andere Klinik, schlägt er die verschorften Hände vorm Gesicht zusammen und beginnt zu schluchzen.

„Das mache ich nicht mehr mit..! Ich werde hier nur verarscht!“

Ich setze mich zu ihm auf die Bettkante. Ich nehme seine Hand in meine und versuche ihn zu beruhigen – umsonst.

„Was hab ich getan, dass ich so bestraft werde..? Ich hab doch nie jemanden etwas zuleide getan..“

Ich versuche ihm klarzumachen, dass Krankheit und Alter keine Strafe für irgendetwas sei. Dass es jeden treffen könne, selbst Mutter Theresa, den besten Mensch der Welt. Das Wort Schicksal geistert in meinem Kopf herum, ohne dass ich es extra erwähne.

„Ja aber.. wer ordnet denn so etwas an?“ haucht Vater kaum hörbar.

Es ist diese kaum hörbare kleine Frage, die mich anrempelt, die mich so mitnimmt. Es ist, als läge dort ein 83jähriger Bub, der verzweifelt die Welt zu verstehen sucht, auf den letzten Drücker.

„Na ja, das weiß ich jetzt auch nicht, wer so etwas anordnet“, antworte ich endlich und tätschle seine Hand. „Der liebe Gott.. wahrscheinlich. Ja sicher. Der liebe Gott… ordnet solche Dinge an.“

Das macht ihn neugierig, und auch ein wenig ängstlich. Er hat ganz große Augen.

„Ist es denn sicher, dass es den lieben Gott gibt?“

„Ja. Das ist sicher. Das steht fest.“

Das beruhigt ihn, und er schläft ein.

Um halb zwei erscheint endlich die Stationsärztin. Dass halb zwölf abgemacht war, geschenkt. Sie entschuldigt sich ein ums andere Mal für die Verspätung, während wir ihr auf den Flur folgen. Sie möchte kurz mit Mutter und mir sprechen, ohne dass Vater mithören kann.

„Haben Sie sich das durch den Kopf gehen lassen, worüber wir gestern am Telefon gesprochen haben?“ schaut sie geheimnisvoll zu Mutter hinüber.

„Ja, wir sind einverstanden.“

Es hatte eine Telefonkonferenz unter uns Kindern und Mutter gegeben. Es ging darum, ob wir mit der Verlegung ins Landeskrankenhaus einverstanden sind.

„Im Städtischen ist man auf solche Fälle nicht eingerichtet“, wiederholt die Ärztin noch einmal.

„Welche Fälle?“ werfe ich ein.

„Beginnende Demenz.“

„Demenz..? Ich denke, wir sprechen vom Durchgangssyndrom..“

„Ja schon.. Aber endgültig müssen das die Spezialisten der Geriatrie klären, und die ist in Langenfeld.“

Der Krankenhaus-Psychologe, der Vater seit über einer Woche täglich besucht, kommt hinzu. Er trägt einen gewaltigen Schnäuzer und redet oft so verschwurbelt, als drohe er jeden Moment zu ersaufen, in seinem eigenen Bartwuchs.  Zu viert kehren wir ins Zimmer zurück und versuchen Vater deutlich zu machen, dass ihm in Langenfeld besser geholfen werden könne. Das Wort Landeskrankenhaus vermeiden wir. Da er schwerhörig ist, muss jeder Satz wiederholt werden, mindestens zweimal, eine Anstrengung für alle Beteiligten. Besonders, wenn gewisse Worte auf der Verbotsliste stehen. Schließlich willigt Vater ein, achselzuckend. Ob er tatsächlich alles verstanden hat? Ich glaube nicht. Dass er aber in seinem haltlosen Zustand unmöglich nach Hause kann, scheint selbst ihm einzuleuchten.

„Und bis nach Langenfeld ist doch nicht weit“, füge ich hinzu, „Langenfeld ist doch gleich um die Ecke.“

Er sitzt im Bademantel am Tisch, vor sich das Tablett mit Mittagessen, das er kaum angerührt hat, sowie ein kleines Döschen voller Pillen.

„Na sicher weiß ich, wo Langenfeld ist!“ entgegnet er trotzig und beschwert sich, dass die Franzosen einen scheiß Kaffee kochen.

Die Stationsärztin, eine harsche kleine Person, hatte uns zuvor auf dem Flur bereits darauf vorbereitet, dass Vater im LKH womöglich eine, so nannte sie es, „Entmündigung light“ erfahren werde.

Der Psychologe, der daneben stand, wiegelte verärgert ab. „Mit Entmündigung hat das nichts zu tun. Das ist ein böses Wort.“ Es ginge lediglich um Rechtssicherheit für die Klinik. Etwa dann, wenn ein Patient zum eigenen Schutz und zum Schutz Anderer in der Nacht ans Bett fixiert werden müsse.

„Meinen Mann fixieren? Warum das?“ erkundigte sich Mutter.

„Nun ja, weil Ihr Mann bekanntermaßen nachts gern über die Gänge streift und andere Zimmertüren öffnet, Patienten angreift..“

Wir blickten uns an.

„Ja, macht er das denn immer noch..?!“

Die Ärztin warf einen Blick ins Patientenblatt.

„Die Schwestern berichten davon, ja..“

„Gegen den Willen eines Patienten darf eine Fixierung nicht angeordnet werden, nicht in Deutschland“, fuhr der Psychologe fort und senkte die Stimme. „Aber dazu muss Ihr Vater, beziehungsweise Ihr Mann, natürlich verstehen, worum es überhaupt geht. Und genau dazu ist er momentan offensichtlich nicht in der Lage. Also wird er für kurze Zeit.. nun ja.. für kurze Zeit entmündigt.“

So benutzte er am Ende das böse Wort selbst. Es bedeutet, dass das LKH für maximal sechs Wochen die gesetzliche Vertretung übernehmen darf.

„Aber ich bleibe doch nicht für immer da.. in Langenfeld..?“ meint Vater undeutlich, er ist kaum zu verstehen.

„Nein, natürlich nicht“, sagt Mutter. „Nur ein, zwei Wochen, bis es dir besser geht.“

Sein skeptischer Blick macht uns verlegen. Als der Krankentransport um halb zwei eintrifft, bin ich restlos im Eimer. Auch Mutter kann nicht mehr. Ihre Reserven sind aufgebraucht.

„Ich begleite Papa nach Langenfeld“, sag ich, „nimm dir ein Taxi und fahr heim.“

Wir stopfen seine Habseligkeiten in eine große Plastiktüte. „Einen Moment noch“, bitte ich die beiden Männer in ihren alarmroten Anzügen um etwas Geduld, sie haben es eilig.

Im Zimmer nimmt Mutter Abschied von ihrem Mann, mit dem sie seit beinah sechzig Jahren verheiratet ist. Sie haben sich schon als Kinder kennengelernt, im Elternhaus meines Vaters. Sie redet ihm gut zu, nimmt seinen Kopf in die Hand, küsst ihn auf die Wange. Ich kann kaum hinsehen, wie rührend die beiden miteinander umgehen, und sehe doch hin. Dann bleibt sie zurück, mit einem Beutel voll schmutziger Wäsche, und weint.

Im Transportwagen sitzen wir uns vis-a-vis gegenüber. Vater fest angeschnallt in einem speziellen Krankenstuhl, ich auf dem heruntergeklappten Notsitz. Kaum fahren wir los, streckt er mir die Hand entgegen, die ich nicht mehr loslasse, bis wir eine knappe halbe Stunde später in der Landesklinik ankommen. Es ist, als würde er sein Leben in meine Hand legen. Ausgerechnet in meine Hand, in die Hand des Sandwichkinds, das nie was auf die Reihe gekriegt hat, schlimmer, das nie was auf die Reihe kriegen wollte, weil einem nichts genommen werden kann, wenn man nichts hat und nichts will. Ein guter Trick. Ein verlässliches Leben. Du Idiot, denke ich.

Und nun habe ich nichts besseres zu tun, als meinen kranken alten Papa aus dem Leben zu nehmen und in die Psychiatrie zu bringen. In die Klapse. In die Irrenanstalt. Aus dem Leben. Wir schweigen fast während der gesamten Strecke. Ich wundere mich, wie lange die Fahrt dauert. Die kleinen Fenster erlauben nur Ausschnitte der vorüberziehenden Landschaft, die mir nicht viel sagen. Wir fahren ein Stück Autobahn. Vater folgt meinem Blick, aber ich habe nicht den Eindruck, dass er wirklich versteht, was los ist. Wir waren uns noch nie so nah wie jetzt, denke ich, aber vielleicht ist das auch bloß meiner Rührseligkeit geschuldet.

Endlich sind wir da. Das LKH Langenfeld ist ein großzügiges, parkähnlich angelegtes Gelände, ein Dörfchen für sich. Inmitten wuchtiger Backsteinbauten, von denen einzelne schon residenzartig anmuten, steht eine baufällige Kirche. Klinikpersonal wuselt eilig umher, Patienten in Bademänteln spazieren, man unterhält sich. Die Gerontologie-Psychatrie ist in Haus 53 untergebracht. Nachdem wir mit dem Krankenwagen die Eingangspforte passiert haben, dauert es einige Minuten bis wir im Schritttempo den nördlichen Zipfel des Geländes erreichen.

Die Aufnahme ist eine langwierige Prozedur. Da Mittwochnachmittag ist und sämtliche Arzt-Praxen der Umgebung geschlossen sind, wird das Landeskrankenhaus mit allen möglichen psychischen Auffälligkeiten strapaziert. Wir sitzen fast zwei Stunden lang im zugigen Vorraum der Anmeldung fest, bis wir endlich abgeholt werden, von Schwester Stefanie. Bis dahin fülle ich diverse Formulare aus, die Vater allesamt unterschreiben muss, wackelig zwar, doch lesbar. Der Vorraum ist schwach beheizt, Vater friert. Er trägt einen braunen Bademantel, darunter immer noch den blutbesudelten Schlafanzug, dazu Kniestümpfe und Schlappen.

„Mir is et kault“, wiederholt er unentwegt in seinem Platt, und will aufstehen. Einige Mal lässt er sich noch davon abhalten, dann setzt er sich durch. Er tigert nervös auf und ab, schimpfend, dass sich niemand um uns kümmert. Ich hake ihn bei mir unter, damit er nur ja nicht hinfällt, sich etwas bricht. So geht das eine ganze Weile. Ich bringe ihn dazu, sich hinzusetzen, er steht auf, wir tippeln hin und her. Hinsetzen, aufstehen, hin und her tippeln. Frieren, schimpfen. Is dat kault hie. Sein Oberkörper ist übersät mit blauen Flecken, so oft ist er im Städtischen Krankenhaus hingefallen.

„Wir haben nun einmal nicht das Personal, um uns Tag und Nacht nur um Ihren Vater zu kümmern“, blaffte mich einmal eine Schwester an, wobei sie um Ihren Vater in einer Weise ausstieß, als handelte es sich um eine schadhafte Mischbatterie.

Die Stürze passieren in der Nacht, weil dann die Unruhe am größten ist. Wenn man aufwacht und die fremde Umgebung jagt einem Angst ein. Der Tag-und Nacht-Rhythmus ist durch Haldol, ein schweres Beruhigungsmittel, gestört. Und bei aller Verwirrtheit: Er hat unbändige Angst vorm Sterben und fühlt instinktiv, wie durcheinander er ist. Dass irgendetwas ganz und gar nicht stimmt. Er glaubt, dass ihm jemand nach dem Leben trachtet und versteht nicht, warum. Womit er das verdient hat.

Aufnahmegespräch mit Dr. Pachtani, Ambulanz für Allgemeine Psychiatrie und Psychotherapie. Ein bedächtiger junger Pakistani, der Vater in meinem Beisein Fragen stellt. Ob er wisse, welches Datum heute sei. Nach einigem Zögern beginnt Vater mit „Neunzehnhundert…“, und bricht dann ab. Sucht nach dem richtigen Datum. „Zwanzighundert.. sechs..“

Ob er wisse, wo er sich gerade aufhalte? Der Doktor muss jede Frage zweimal wiederholen, damit Vater ihn überhaupt folgen kann.

„Wo ich bin, fragen Sie? Ich bin.. ich bin.. in Ohligs?“

Unterwegs im Krankentransporter zeigte ich einmal nach draußen und meinte, „wir sind in Ohligs.“

Ob er wisse, wer ihn begleite? Wer ich sei?

„Ja.. äh, das ist mein Bruder“, sagt mein Vater, allerdings auf Solinger Platt, „dat is mingen Broder“, was ich übersetzen muss, weil der Arzt kein Solinger Platt beherrscht. Vater blickt verzweifelt zu mir herüber. Tief im Inneren ist ihm sehr wohl bewusst, dass an dieser Antwort etwas nicht stimmen kann. Dass ich nicht sein Bruder bin.

Aber wer bin ich..?

Ob er wisse, dass er in der Nacht oftmals sehr erregt sei und nicht schlafen könne und stattdessen die Krankenhausflure auf und ablaufe, fragt der Arzt. Da breitet mein Vater die Arme aus, hebt die Stimme wie ein Oberkellner sein Tablett und beginnt deutlich und klar zu sprechen, beinah in alter Manier.

„Aber junger Mann, ich möchte Sie bitten.. das ist doch.. das ist..“

Es bleibt bei diesem kurzen Anflug von Klarheit und Überzeugung. Ebenso rasch sackt er wieder in sich zusammen und verliert fortan kein Wort mehr. Dr. Pachtani, der sich Notizen macht, wird mit jeder Antwort skeptischer und wendet sich schließlich mir zu, mit einem Punkt, der schon im Klinikum angesprochen wurde: die Sache mit der Betreuung.

„Da Ihr Vater momentan geistig nicht in der Lage ist, eine Entscheidung zu treffen, muss ich eine Unterbringung anordnen, für maximal sechs Wochen.“

Erneut erklärt mir jemand die Gesetzeslage, während Vater verzweifelt dem Gespräch zu folgen versucht, die Hand am Ohr zum Trichter geformt.

„Angenommen, ich wäre nicht einverstanden mit der Unterbringung, das würde ja doch nichts ändern, oder?“ sage ich.

„Im jetzigen Zustand wäre Ihr Vater draußen eine hilflose Person und könnte sich oder Andere in Gefahr bringen, das kann ich als Arzt nicht verantworten. Ich müsste ihn dann Zwangseinweisen.“

Das Aufnahmegespräch ist beendet. Dennoch bleiben wir eine Weile im Büro des Arztes sitzen, der unterm Kittel das Trikot des CF Barcelona trägt und eilig davon rauscht. Er ist kaum älter als dreißig und hat anderes zu tun.

„Bleiben Sie ruhig noch etwas sitzen..“

Ja, das mit dem Sitzenbleiben ist so eine Sache. Vater ist dafür viel zu aufgekratzt. Wir warten darauf, dass eine gewisse Schwester Stefanie erscheint, um uns zur Station zu bringen. Je länger wir warten und herumsitzen, desto unruhiger wird Vater. Er will aufstehen, herumlaufen, er muss sich bewegen. Wäre er Raucher, er würde sich eine nach der anderen anstecken. Mehrfach drücke ich ihn sanft in den Sessel zurück.

„Es dauert nicht mehr lange, Papa. Warte einen Moment.“

Ausgerechnet heute wirkt sein Gesicht relativ klar, nicht so von Haldol dominiert und erstarrt wie bei meinen letzten Klinikbesuchen. Schon beim Transport nach Langenfeld hatte ich unterwegs diese Fata Morgana, dass er plötzlich wieder der Alte sei, der Mann, den wir alle kennen, den wir schätzen, und für einen winzigen Moment glaubte ich sogar, ihn scherzen zu hören, wie in alten Zeiten. Aus heiterem Himmel wendet er sich mir zu und fragt, was ich denn jetzt machen würde mit meiner vielen Zeit. Was ich jetzt eigentlich vorhabe.

„Was meinst du..?“

„Na, die.. also.. da, wo du gearbeitet hast.. das ist doch.. vorbei. Was machst du denn jetzt?“

Er meint den Job im Design-Institut. Der Vertrag wurde nach zwei Jahren nicht mehr verlängert. Die Förderung des Landes war abgelaufen, jetzt hätte man mich aus eigener Tasche bezahlen müssen. Ich wundere mich nur, dass Vater sich das merken konnte.

„Na ja, ich tu das, was ich sowieso schon immer tue. Schreiben.“

Er blickt mich aus großen Augen an, entsetzt fast, als habe er so etwas Unerhörtes noch nie gehört. Solch eine Frechheit.

„Schreiben..?“

„Ja“, sag ich. „Schreiben.“

Ich sehe abrupt in meine Kindheit, als ich jeden Tag draußen auf dem Fußballplatz war und an den Wochenenden für den RSV um Punkte kämpfte, was Vater damals kaum mitzubekommen schien. Er interessierte sich nicht für Fußball. Wenn ich nach einem Match nach Hause kam, war es meine Mutter, die sich nach dem Ergebnis erkundigte, ob ich ein Tor geschossen hätte. Fußballspielen und Schreiben, die beiden Motoren meines Lebens, waren für meinen Vater böhmische Dörfer. Ich glaube nicht, dass er mich jemals auf dem Fußballplatz spielen gesehen hat, und am Schreibtisch kämpfen.

Später erhebt er sich aus dem Bürosessel und läuft zielgenau auf die beiden freiliegenden Rohre zu, die entlang der Wand zum Heizkörper führen. Als Klempnermeister hat er lange Jahre einen eigenen Betrieb geführt, unter Mithilfe von Mutter, die den kaufmännischen Teil verantwortete. Heizkörper und Kupferrohr sind sein angestammtes Metier. Es macht ihn neugierig. Nacheinander fasst er beide Leitungen an.

„Ist heiß“, sagt er wie ein kleiner Junge, als er das erste der beiden Rohre vorsichtig umfasst.

„Ja“, sag ich. Ich mache es ihm nach. „Aber das andere nicht“, sag ich. „Das ist kalt.“

Vater nickt und schmiegt sich an das kalte Kupferrohr, obwohl er doch friert.

Während wir darauf warten, abgeholt zu werden, veranstaltet das Personal im Zimmer nebenan ein Schaulaufen mit Kaffeetrinken, laut und fröhlich. Wir stehen im Türrahmen und lassen uns unterhalten, Vater bei mir untergehakt. Als man uns bemerkt, ist abrupt Ende. Stille. Zwei Frauen in Schwesterntracht glotzen betreten zu Boden. Ich verstehe nicht: Wieso glotzen die zu Boden, wenn sie in der Alten-Psychiatrie arbeiten? Ist ihnen ihre eigene Arbeit derart zuwider? Schämen sie sich ihrer Klientel? Was für Arschlöcher. Ich lächle. Das ist mein Vater. Ich bin stolz auf meinen Vater. Mein Vater hat immer noch mehr Mumm als ihr in euren mickrigen Leben je zusammengekratzt kriegt.

Natürlich hat auch Krankenhauspersonal ein Recht auf zehn Minuten Abstand zum Job und eine Tasse Kaffee, ohne gestört zu werden. Aber darum geht’s nicht. Es geht um diese Blicke, diese widerwärtigen deutschen Blicke, wenn etwas Ungeplantes, etwas Unvorhergesehenes den gewohnten Ablauf stört und niemand damit umgehen kann, schon gar nicht menschlich. Dabei hätte schon ein kleines Wort gereicht. Ein kleines Hallo, und wir hätten uns umgedreht und wären lustig davongetippelt.

Die Würde des Menschen ist unantastbar? Wo darf ich denn mal hinkotzen – hier vielleicht? Oder da? Die Würde des Menschen wird abgeschabt im Sekundentakt.

Vater tut mir leid. Sein Blick ist so anders, so hart geworden von den schweren Medikamenten. Hart und zugleich müde, geschafft. Die Augen haben dünne rote Ränder, wie mit dem Blutstift gezogen. Immer wieder fallen ihm die Augen zu, und er schläft kurz ein. Sobald er aufwacht, friert er.

„Mir ist kalt“, jammert er.

Ich nehme ihn in die Arme, reibe seinen Rücken.

„So ist besser“, sagt er.

Aber er traut mir nicht. Er erkundigt sich mehrfach, ob ich etwa gegen seinen Willen die Heizung runtergedreht hätte. „Das würde ich mir nicht erlauben“, entgegne ich erstaunt. Er erzählt nicht zum ersten Mal, dass er schon als kleiner Junge ständig gefroren habe.

„Mir war immer kalt.“

„Ja, weiß ich doch.“

Um seinen Kindern diese Erfahrung zu ersparen, bekam jeder von uns seinen eigenen Heizkörper direkt ans Bett installiert. Wahrscheinlich hatten meine Geschwister und ich die muckeligsten Träume, weil Vater in seiner eigenen Kindheit so sehr gebittert und geschnattert hatte.

„Aber wie hast du das später im Berufsleben gemacht?“ frage ich, um ein Gespräch in Gang zu bringen.

„Wie meinst du?“

„Na ja, als Klempner musstest du doch dauernd in kalten Kellern arbeiten.. oder nicht. Schlitze stemmen und so.“

(Schlitze stemmen fasziniert mich seit dem Tag, als ich den Begriff das erste Mal aufschnappte. Sobald ich Schlitze stemmen im Beisein meines Vaters anbringen kann, bringe ich es an.)

Er strahlt.

„Aber deswegen hab ich mich doch selbständig gemacht.“

„Damit du nicht in kalten Kellern buckeln musst?“

„Genau das war meine Überlegung. Solche Arbeiten mussten die Gesellen machen, nicht ich als Chef. Ich musste nicht frieren.“

Dass er zwischendurch zu solch klarer Ansage fähig ist, überrascht mich nicht mehr wirklich. Alles, was mit den alten Zeiten zu tun hat, ist präsenter in seinem Kopf als die Gegenwart.

Endlich werden wir abgeholt. Schwester Stefanie schiebt einen Rollstuhl ins Büro von Dr. Pachtani, der mit einem Mal auch wieder zur Stelle ist.

„Guten Tag, die Herren.“ Die Schwester reicht uns nacheinander die Hand, und bittet Vater in den Stuhl. „Nehmen Sie Platz, junger Mann.“

Während Schwester Stefanie, blondes langes Haar, schwarzer Spitzen-BH unterm weißen Shirt und von resolutem, aber freundlichen Wesen, Vater im Rollstuhl durch die Katakomben von Haus 54 schleust, folgen Aufnahme-Arzt und ich in einigem Abstand.

„Sie können davon ausgehen, dass sich der Zustand Ihres Vaters bessert. In der Regel sind die Patienten nach zwei bis drei Wochen medikamentös so eingestellt, dass sie wieder nach Hause können. Aber es ist eine Gratwanderung. Ein ständiges Ausprobieren, welches Medikament in welcher Dosierung verabreicht werden muss. Das ist individuell höchst verschieden, und keine leichte Sache. Aber wir machen das schon. Dafür sind wir da.“

Ich frage mich, ob er mir bloß Mut machen will, schließlich war er eben noch vom Zustand meines Vaters, vom Grad seiner Verwirrung bestürzt, es war ihm deutlich anzumerken. Während wir durch die Katakomben streichen und Aufzüge benutzen, erkundige ich mich, ob meinem Vater künftig andere Medikamente verabreicht werden.

„Sagen wir so: Das Mittel meiner Wahl bekommt er bereits, Haldol. Doch ich hätte es gleich mit einer höheren Dosis versucht.“

Wir erreichen Haus 53, Station 17. Schwester Stefanie schließt die Eingangstür aus. Sie ist aus bruchsicherem Glas. Hier kommt niemand ohne Schlüssel rein oder raus. Erst jetzt wird mir bewusst, wo wir uns befinden: in der geschlossenen Demenz-Abteilung einer Landesklinik. Es ist 17 Uhr. Im Aufenthaltsraum wird das Abendessen ausgegeben, ein großer TV-Apparat plärrt. Ein Dutzend alter Menschen sitzt um einem langen Tisch herum. Eine Schwerbehinderte im Rollstuhl schreit, sie möchte offenkundig nicht gefüttert werden. Oder sie möchte schneller gefüttert werden. Meine Nerven liegen blank. Die Gerüche machen mir zu schaffen. Ein ganzes Bündel Gerüche, vom  Deckenventilator aufgeschäumt: süßlich-warm das Abendbrot, dazu das Flur-Bouquet, eine Mischung aus Urin, Kot und billigen Pflegemitteln.

Vater bekommt sein Zimmer zugewiesen am Ende des Flurs. Es findet eine Erstuntersuchung statt, mit Dr. Pachtani und Schwester Stefanie. Sie trägt rosa Fingerhandschuhe, ich bleibe im Hintergrund, als plötzlich ein Patient im Zimmer steht. Er ist erstaunt, hier jemand anzutreffen.

„Oh, ist ja gar nicht mein Zimmer..“

„Doch Herbert, du bist richtig“, meint Schwester Stefanie und nickt in Richtung Vater, der halbnackt auf der Bettkante sitzt und alles über sich ergehen lässt. „Aber du hast einen neuen Zimmergenossen.“

Das scheint Herbert, das rechte Hosenbein des Trainingsanzugs bis zum Knie hochgeschoben, nicht weiter zu interessieren.

„Schwester, muss ich was einnehmen?“

„Nein, Herbert. Gleich gibt’s erstmal Abendbrot.“

„Abendbrot, ja.“

Dann macht er kehrt, zurück auf den Gang.

Vater hockt auf dem Bettrand wie ein großer abwesender Junge. In der folgenden Viertelstunde habe ich zum ersten Mal, seit er in Behandlung ist, das Gefühl, dass man sich um ihn kümmert. Schwester Stefanie hilft ihm, mit meiner Unterstützung, in einen frischgewaschenen Schlafanzug, er wird gewaschen und gekämmt, bekommt sogar einen Zopf gebunden.

„Sie sehen aus wie ein.. wie ein echter Professor, Herr Glumm!“

Ich glaube, sie wollte wie ein irrer Professor sagen, spürte aber im letzten Moment, dass das jetzt unpassend wäre. Dabei hat sie ja Recht. Das weiße Haar steht wirr ab, dazu der Zopf.. Junge, Junge. Ein durchgeknallter Kupferrohrdozent. Die Untersuchung endet mit einer ganzen Reihe Polaroid-Fotos, um die vielen blauen Flecken, die von zahllosen Stürzen herrühren und seinen geschundenen Körper überdecken, zu dokumentieren.

Je länger der Tag dauert, der in meine Annalen eingehen wird als der Tag, an dem ich nichts besseres zu tun hatte, als meinen kranken alten Vater in die Psychiatrie zu bringen, je länger dieser Tag andauert, desto demütiger werde ich. Jeder verdammte Morgen, an dem man aufwacht und die Beine sind gesund und der Kopf ist intakt und man hat Lust auf eine Tasse Kaffee und pinkelt kein Blut ins Klo, jeder verdammte Tag, der auf diese Weise startet, ist der Höhepunkt deines Lebens. Höher geht nicht.

Wenig später rolle ich Vater in den Aufenthaltsraum, wo er umgehend versorgt wird. Er bekommt einen großen Becher Hagebutten-Tee sowie einen Teller mit geschmierten Broten vorgesetzt. Er begrüßt seine unmittelbare Tischnachbarin mit Handschlag, ohne ein Wort zu verlieren. Als er in aller Ruhe beginnt, zu Abend zu essen, nutze ich die Gelegenheit und verabschiede mich schnell.

„Bis morgen.“

Er blickt zu mir herauf, als wundere er sich, mich hier zu sehen.

„Ja.. Bis morgen..“

An der Stationstür muss ich warten, bis mir jemand aufschließt. Ich bin heilfroh, an der frischen Luft zu sein. Es ist längst dunkel, der Vollmond eine gelblich-weiße Gaslaterne. Ein kreischendes Distriktlicht. Ich frage mich bis zum Ausgang durch. Die Busfahrt nach Hause dauert geschlagene anderthalb Stunden, inklusive Umstieg in die Bahn. Ich starre wie betäubt aus dem Fenster in die vorüberrauschende Dunkelheit. Immerzu spult sich dieser Film ab, dieses Bild, wo Vater und ich im Rettungswagen hocken, er im Krankensessel, ich auf dem Notsitz, und wie vertrauensvoll er seine Hand in meine legt, mit müden Augen.

Daheim angekommen, erledige ich nacheinander drei Telefonate: erst Mutter, dann Bruder, zuletzt die große Schwester. Eigentlich sind es sogar vier Anrufe, da auch mein Schwager aus erster Hand Auskunft haben möchte. Ich klinge schon wie ein Tonband, weil ich es nicht mehr schaffe, die Worte zu variieren. Die Gräfin ist davon so genervt, dass sie die Türe schließt, um in Ruhe etwas fernsehen zu können.

 

5. Februar 2009

„Das ist die Sorge, die ich an dir rieche“, schnuppert sie morgens an mir. Ich rieche komisch, sagt sie, seit die Sache mit Vater passiert ist. Wie saure Milch.

„Sorgen sind saure Milch“, sagt sie.

Und das man jeden Ort verlassen kann, an dem es unruhig und gefährlich ist, auf der ganzen weiten Welt, aber nicht deinen eigenen Körper.

„Den musst du aushalten“, sagt sie.

Am Nachmittag fahren wir nach Langenfeld, auch wenn Vater vermutlich kaum etwas von unserem Besuch mitkriegen wird, schließlich hatte der Aufnahmearzt angekündigt, die Haldol-Dosis spürbar steigern zu wollen. Dennoch möchte ich Vater den ersten Tag im LKH nicht ohne Besuch zumuten. Dass er sich in einem klaren Moment womöglich abgeschoben vorkommt. Als wir die hell erleuchtete, süßlich-warm miefende Station betreten und ich die erstbeste Schwester nach Vater frage, weist sie uns den Gang hinunter.

„Der sitzt schon den ganzen Tag im Gang und ist von dort auch nicht weg zu bewegen.“

Zur Begrüßung beugt sich die Gräfin zu ihm hinunter, doch er scheint zunächst nicht realisieren zu können, wer das sein soll, der ihm da plötzlich so nahe ist. Er erschrickt regelrecht und zuckt zusammen, bevor er endlich die Gräfin erkennt. Das Sprechen fällt ihm schwer, er ist blass und so unrasiert, als habe er sein Kinn in Druckerschwärze gewälzt. Wie wir erfahren, trägt er eine Windel unterm Schlafanzug, darüber einen roten Bademantel, den ich noch nie gesehen habe.

„Schwester..!!“ quengelt eine Frauenstimme über den Flur. „Schwester..!! Es läuft schon! Ich kann doch nichts dafür!“

Die Stimme kommt irgendwo aus einem der vielen Zimmer, deren Türen offen stehen, die Frau wiederholt die Worte unermüdlich und stets im selben anklagenden Tonfall. Endlich lässt sich eine resolute junge Pflegerin blicken. Die Station sei heute mit drei Leuten völlig unterbesetzt, erklärt sie ungefragt, außerdem habe sie anderes zu tun, als alle paar Minuten nach Frau Pagel zu sehen, die sowieso eine Windel trage.

„Schwester..! Es läuft schon, Schwester!! Ich kann doch nichts dafür!“

„Ihren Vater habe ich heute eigentlich nur schlafend erlebt“, sagt die dritte Pflegerin und schlenkert lässig eine vollgeschiffte Windel hin und her, die ich nicht aus den Augen lasse.

Auch Zimmergenosse Herbert ist wieder unterwegs, das rechte Hosenbein bis zum Knie hochgekrempelt. Er marschiert den Gang hoch und runter, ohne Pause. Die Gräfin, sonst für jeden Spaß zu haben, verzieht angeekelt das Gesicht, als diese grauenvolle Stimme wieder über die Stationsflure schwappt.

„Schwester..! Ich kann doch nichts dafür! Es läuft wieder!“

Vaters Rollstuhl steht unmittelbar vorm sogenannten „Krisenzimmer“, das ein jüngerer Patient betreten will, einen gefüllten Urinbeutel in der Hand. Mit der Schiebermütze und dem Rollkragenpullover, die Hände tief in den Hosentaschen, scheint er dem Berlin der 20er Jahre entsprungen.

„Ich möchte so gerne in mein Bett“, flüstert er.

Ich rolle Vater ein Stück zur Seite, damit der Mann ins Krisenzimmer treten kann, in dem anscheinend sein Bett steht, doch er überlegt es sich anders und kehrt um. Statt ins Krisenzimmer begleitet er Herbert ein Stück auf der unendlichen Flurwanderung.

Vater ist davon überzeugt, Angehörige auf Station auszumachen, hauptsächlich seine Geschwister. Eine große alte Frau, das lange Haar zum strengen Dutt gebändigt, hält er für seine kürzlich verstorbene älteste Schwester. Da er den ganzen Tag noch nichts gegessen hat, („Wir lassen ihn erst einmal ankommen“, so die Schwester), schmiert ihm die Gräfin ein Brot und holt ein Glas Apfelsaft aus der Stations-Küche.

Wir bleiben anderthalb Stunden, dann sind wir mit den Kräften am Ende. Wir bringen Vater zu Bett, weil er schrecklich müde ist, dabei ist es nicht einmal acht Uhr. Wie er so daliegt, unter dicken Daunendecken begraben und dennoch zitternd vor innerer Kälte, stehe ich kurz davor, die Nerven zu verlieren.

 

9. Februar 2009

In Solingen gibt es Ortschaften, die heißen RüdenWerwolf  TeufelsinselSchwarze Pfähle oder  Papageiensiedlung. Der Menschenschlag ist verschroben und misstrauisch. Und ein bisschen zurückgeblieben und schlecht angezogen.

Hundegebell von fernen Höfen verschreckt von jeher die Fremden, die sich der Stadt nähern, und das aus gutem Grund: es konnte ja jederzeit die Gendarmerie sein, die sich näherte. In den weit verstreuten Tälern und Hofschaften des hügeligen Bergischen Landes hatte sich im späten Mittelalter steckbrieflich gesuchtes Gesindel breitgemacht, geflohen aus den großen Städten am Rhein. Es ist dieses dunkle Erbe, welches das Bergische Land bis zum heutigen Tag zum großen Unbekannten, zum schwarzen Raucher auf der Landkarte West-Deutschlands macht.

Wer die Region bereist, ist bald verhext vom welligen Zungenschlag der Einheimischen. Nicht umsonst gilt das Bergische als Knautschzone des deutschen Dialekts. Nirgendwo sonst wird auf engstem Raum so viel verschiedenes Platt gesprochen. Die Landschaft ist verheißungsvoll und brombeerprall, ein kleines England, aber auch dunkel und einsam, die Erde ist sauer. Bushaltestellen der Linie 686 tragen Namen wie Jammertal und Geilenberg, und gleich die nächste Ausstiegsmöglichkeit heißt:

Hoffnung.

„Hast du schon gehört?“ fragt Mutter, als sie Freitagabend anruft.

„Nee, was?“

„Papa kommt nicht mehr nach Hause.“

„Wieso..? Wer sagt das?“

„Die Ärztin.“

„Welche Ärztin?“

„Die neue, in Langenfeld.“

Mutters Stimme ist gebrochen von den vielen Tränen. Einzelne Worte fallen in kleine Löcher, rappeln sich auf, stehen in der Luft. Ein Hindernislauf.

„Sie sagt, durch die Herzschwäche wäre sein Gehirn zu lange unterversorgt gewesen mit Blut, daher die schnelle Demenz.. Er kommt nicht wieder nach Hause. Er kommt ins Pflegeheim.“

Auch wenn wir diese Möglichkeit schon ins Auge gefasst haben, die eindeutige Prognose einer Ärztin, die sich mit dieser Krankheit und ihren Auswirkungen auskennt, macht sprachlos.

„Dann bleibst du ja.. allein zurück“, sage ich traurig.

„Ja, was soll man machen.“ Mutter versucht, besonnen zu bleiben. „In der Nachbarschaft sind viele Frauen, die allein sind, da muss ich durch. Das schaff ich schon.“

Keine Minute später beginnt sie zu schluchzen. Es kommt mit solcher Wucht und Vehemenz, dass auch ich nicht mehr an mich halten kann. All die Anspannung der letzten Wochen, all die ungeheuerlichen Vorgänge suchen ein Ventil.

„Moment..“, kriege ich nur noch raus und lege den Telefonhörer auf den Küchentisch, während es mich schüttelt. In diesem Moment betritt die Gräfin die Küche. Sie ist mit dem Hund draußen gewesen.

„Was ist denn hier los?“

Ich zeige nur auf den Hörer, aus dem die Trauer meiner Mutter strömt. Die Gräfin weiß sofort Bescheid.

„Er weint“, sage sie zu meiner Mutter.

 

10. Februar 2009

Immerzu ist dieses Bild in meinem Kopf. Ich sehe Vater im Krankentransporter, wie er nach meiner Hand greift und sie voller Vertrauen nicht mehr loslässt, bis wir am Ziel sind. Beim Nachfassen, ob es nicht vielleicht doch Anzeichen gab, die auf eine beginnende Demenz hindeuteten, ohne dass man es ernst nahm, fällt Mutter eine Situation ein, vor einem halben Jahr ungefähr. Da trat Vater spät am Abend an ihr Bett und fragte ohne Umschweife, „wir dürfen doch keine Tiere halten, oder?“

„Was..? Nein, wieso?“

„Na, was macht denn der große Hund in der Küche?!!“

Einmal beschwerte er sich über die Käfer, die angeblich über den Teppich wimmelten und seine Beine hochkrabbelten „wie bei Wilhelm Busch!“ Auch das erzählt Mutter erst im Nachhinein.

Gestern war sie mit meiner Schwester und meinem Schwager in Langenfeld. Vater muss sich sehr gefreut haben, die drei zu sehen, ist ihnen regelrecht um den Hals gefallen. Aus irgendwelchen Gründen war er der Auffassung, sie seien gekommen, um ihn nach Hause zu holen.  „Endlich..“, stammelte er. Als ihm bewusst wurde, dass sie „nur“ zu Besuch gekommen waren, muss er schrecklich geweint haben. Seine ganze Emotionalität ist schwer zu fassen. Nicht, dass Vater ein kühler Mensch wäre, das bestimmt nicht, doch vom Naturell her ist er eher zurückhaltend.

„Was mach ich denn hier bei den Bekloppten..? Ich bin doch nicht bekloppt. Oder..!?“

Zunehmend scheint er sich in Kriegsgefangenschaft zu befinden, in den 40er Jahren im englischen Seebad Bournemouth. Die Krankenpfleger auf der Station sind für ihn Offiziere, die Franzosen machen einen scheiß Kaffee. Eine ältere erfahrene Krankenpflegerin meint daraufhin zu meiner Schwester, dass auch ihrer Meinung nach alles auf Demenz hindeute. Noch aber gilt Durchgangssyndrom offiziell als Diagnose.

Aus unerfindlichen Gründen fällt mir eine kleine Anekdote ein, die Vater erzählt hat. Eine Anekdote aus der schlechten Zeit. Die schlechte Zeit, das ist so eine Redewendung, die er oft benutzt. Es hat etwas gedauert, bis ich dahinter kam, was mit schlechter Zeit denn nun gemeint ist. Zum einen die Zeitspanne in den 20er Jahren, als Vater noch gar nicht geboren war und das Geld keinen Wert mehr hatte, als die Superinflation ein Brot eine Milliarde Mark kosten liess, und zum anderen die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg, als Deutschland in Schutt und Asche lag.

„Wenn wir 1946 Sonntagnachmittag mit der Straßenbahn fuhren, konnte man am Brikett erkennen, wer zum Tanztee wollte. Ein Brikett, in einer Seite Zeitungspapier eingeschlagen, war nämlich der Eintritt, den jeder Besucher beim Meis in Widdert entrichten musste, damit der Veranstalter den Tanzsaal heizen konnte.“

 

11. Februar 2009

Nachmittags bin ich auf einen Kaffee bei meiner Mutter.

„Die ersten Tage dachte ich immer, er muss gleich um die Ecke kommen“, erzählt sie von der Schwierigkeit, plötzlich ohne Ehemann zu leben. „Vielleicht wird er nie wieder normal werden, an den Gedanken muss ich mich erst gewöhnen.“

Schwer zu ertragen, dass der Mann, den sie 1952 geheiratet hat, von einem Tag auf den anderen vor sich hin vegetiert. Dass er andauernd stürzt und sich verletzt. Dass er in den Klamotten anderer Patienten herumläuft, so wie andere Patienten in seinen Klamotten herumlaufen. Ständig wird Kleidung verwechselt. So hat mein Bruder einen Mitpatienten beobachtet, der Vaters gute Manchester-Hose trug, so nannte er sie immer, meine gute Manchester-Hose, und ein anderer Mann lief in seinen Schuhen herum.

„Das war der komische Vogel, der immer ein Hosenbein hoch hat“, sagt mein Bruder.

„Herbert“, sag ich. „Der ist in Ordnung.“

Meine Mutter ist erkältet und hat schlimme Rückenschmerzen. Ich fülle Banküberweisungen aus, ziehe die alte Wanduhr in der Küche auf, drehe eine neue Glühbirne ein. Wir trinken Kaffee und reden. Frau Moll liegt still und unglücklich zu meinen Füßen, weil der Herr des Hauses nicht da ist, der sie sonst im Hausflur mit den Worten „Na, wo warst du denn so lange?“ zu begrüßen pflegt und in der Küche unermüdlich mit Zwieback verwöhnt. Zwar bekommt der Hund auch von mir Zwieback, doch das ist nicht das gleiche. Der Hund ist betrübt, er gibt keinen Mucks von sich.

Ich bleibe zwei Stunden.

 

13. Februar 2009

„In diesem Stadium seiner Demenz lasse ich ihren Vater nicht nach Hause“, so die Stationsärztin gestern zu meiner Schwester. Die Ärztin nimmt sich alle Zeit der Welt, um Angehörigen von Demenzkranken die Krankheit nahe zu bringen. Damit scheint das eingetreten, was wir alle befürchtet haben. In Zusammenarbeit mit der Sozialstation des LKH sollten wir uns, so ihr Ratschlag, vorsichtshalber schon mal nach einem Pflegeheim umsehen, das auf Demenzkranke spezialisiert ist. Da gehen schnell alle Geldmittel drauf, die meine Eltern über die Jahre mühsam angespart haben. Und Vater ist bislang nicht mal in einer Pflegestufe.

Nachmittags drehe ich mit dem Hund eine Runde durchs kleine Industriegebiet am Gleisdreieck. Zwischen den Betrieben sind Wiesen und grüne Brachflächen, die Frau Moll so gerne durchstöbert. Während der Hund zu tun hat, stehe ich die Arme ausgebreitet im Gras und spreche zu Gott, laut wie ein Kraftsportler, ich schäme mich nicht: KOMM ZURÜCK, PAPA! rufe ich zum Gebet. KOMM ZURÜCK.. ZU UNS. Als ich die Augen öffne, taucht die Turmspitze der Martin Luther-Kirche im Nebel ab.

 

14. Februar 2009

In diesen Tagen habe ich zweimal lange meinen Schwager am Telefon, weil meine Schwester nicht zuhause ist. Sie ist geflüchtet, in die Muckibude. Sie kann nicht mehr. Auch wenn wir Brüder uns einbringen, als Tochter ist sie diejenige, die von den Eltern am meisten in Anspruch genommen wird, und zwar ganz selbstverständlich.

Was ich ihr besonders hoch anrechne, und meinem Schwager ebenfalls, ist dieses kleine Ritual, das die beiden geschaffen haben. Damit Vater nicht das Gefühl hat, er würde bei den Bekloppten in Langenfeld vergessen werden, und weil der Kaffee, den die Stations-Franzosen kochen, scheußlich schmeckt, bringen sie Kaffee und Kuchen von daheim mit. Sie verziehen sich im Aufenthaltsraum in eine Ecke, wo sie unter sich sind, ein Bollwerk bilden. Es gibt guten Kaffee aus der Thermoskanne und nicht diese dünne Stationsplirre, dazu selbstgebackenen Kuchen. Wenn meinen Vater je etwas auf die Beine bringt, dann leckerer Kaffee und ein Stück Kuchen. Was für eine geniale und einfache Idee.

 

15. Februar 2009

„Ich hab den Eindruck, Mutti baut stark ab seit der Nachricht von letzter Woche, dass Papa wohl nicht mehr nach Hause kommt“, spricht meine Schwester auf unseren Anrufbeantworter. „Wir müssen uns absprechen.“

Ich rufe zurück. Sie erzählt, dass Vater regelrecht gesabbert habe beim gestrigen Besuch. Als sie die Stationsärztin darauf ansprach, meinte sie, das läge an den starken Tabletten gegen Realitätsverlust. Die hätten zwar gut angeschlagen, doch die Nebenwirkungen seien nun mal nicht ohne, der Patient könne oftmals den Speichel nicht halten.

Die Diagnose wurde erweitert und lautet nun Fortgeschrittene vaskuläre Demenz bei vorgeschädigtem Herz-Kreislauf-System. Als ich später am Rechner in Wikipedia nachschlage, glotzt mich ein Wort an, so hart, so bösartig, dass mir schummrig wird im Bauch. Ich lese, was vaskuläre Demenz in veraltetem Deutsch bedeutet: Verblödung.

„Wie das Ende eines Lebens aussieht, das sagt einem kein Mensch“, meint die Gräfin. „Es will auch niemand wissen. Dabei kommt genau das auf uns alle unweigerlich zu. Das Älterwerden, das Ende.“

 

17. Februar 2009

Vater wuchs unter sechs Geschwistern in einem dreistöckigen Schieferhaus auf, das mein Urgroßvater selbst gebaut hatte. Wo viele Kinder waren, kamen noch mehr hinzu, die halbe Nachbarschaft ging bei Glumms ein und aus. Eine Etage wurde vermietet, um Mieteinnahmen zu erzielen. Vater musste sich mit einem jüngeren Bruder eine winzige Dachkammer teilen, eben groß genug für zwei Betten und den Kleiderschrank. Am Abend kam seine Mutter die Treppe hoch und stellte einen unbekannten Jungen vor.

„Das ist euer Vetter Hansi aus Brilon. Der schläft jetzt hier.“

„Bei uns? Aber er hat doch gar kein Bett.“

„Das müsst ihr schon unter euch ausmachen.“

Bis Hansi aus Brilon Soldat wurde und in den Weltkrieg zog, verfügte das Trio über zwei schmale Betten, was bedeutete, dass sich zwei Jungs stets ein Bett teilen mussten und die glückliche Nummer 3 das andere Bett für sich allein hatte. Jede dritte Nacht war Königsnacht – jeder war mal dran. Seither wusste Vater, wie wichtig ein Bett ist. Das Bett ist die innigste Beziehung im Leben eines  Menschen.

Wenn Onkel Carl zu Besuch kam, strömten Kinder aus der ganzen Nachbarschaft herbei und setzten sich mit großen Augen um ihn herum. Onkel Carl nahm das Leben nicht so ernst und konnte die wunderlichsten Geschichten erzählen, auch wenn meist unklar blieb, was Wahrheit war und was Märchenzutat. Selbst Geschichten aus dem Krieg endeten bei Onkel Carl mit einer Pointe.

Er erzählte aus dem 1. Weltkrieg, Stellungskrieg an der Somme. Onkel Carl hatte in diesem Privatquartier Schutz gesucht. Immer, wenn eine Granate einschlug, erzitterte die Erde, und alle Zivilisten und Soldaten, die im Keller flach auf dem Boden lagen, hopsten ein Stück in die Höhe, dann landeten sie wieder auf dem Bauch. Darunter war auch eine beleibte Französin, die jedes Mal, wenn ihr massiger Hausfrauenkörper nach der Erschütterung wieder zu Boden plumpste, einen fahren ließ. „Und was für ne Kanone das war!“ rief Onkel Carl, und die Kinder machten sich vor Lachen noch in die Hose, wenn Onkel Carl längst bei den Erwachsenen hinten in der Küche saß, und weiter erzählte.

 

20. Februar 2009

Kaum haben wir die Station betreten, flattert Vater wie ein verrückter Komponist auf uns zu.

„Ich hab eure Stimmen gehört!“

An manchen Tagen blitzt Besserung auf. Dann spricht er laut und verständlich und keineswegs so leise und resigniert wie ein Mensch, dem die Zeit wegläuft. Menschen, die spüren, dass der Tod die ersten Knochen einsammelt und schon zu mahlen beginnt, werden leise. So gesehen steht es um Vater nicht mal so schlecht, an manchen Tagen. Leider hält es nicht lange an. Es ist, als reiche seine Konzentration nur für eine kurze Zeitspanne, dann fällt er wieder in sich zusammen.

Auf seine Bitte hin hat ihm mein Bruder eine Tüte Lakritze mitgebracht. Er scheint nicht so recht zu wissen, was er damit anstellen soll. Verschämt schiebt Vater die Tüte von einer Hand in die andere, packt sie in die die Tasche seines Bademantels, holt sie wieder heraus, legt sie dann weg.

 

21. Februar 2009

Gegen Ende des Krieges waren meine Mutter und ihre Schwester auf Kinderlandverschickung in Brandenburg. Meine Mutter war 16, Sonja 14. Im ganzen Dorf waren die beiden blonden Mädels aus dem Rheinland die Attraktion. Im Frühjahr 1945 standen die Amerikaner schon in der Nähe und rückten weiter vor. Zu weit für den Geschmack der mit den Amis verbündeten Russen, die dieses Gebiet in Brandenburg für sich in Anspruch nahmen, also zogen die GI’s sich wieder zurück. Selbst deutschem Militär wurde der Rückzug gestattet, doch Zivilisten nicht, sie kamen nicht mehr raus dem Gebiet.

Den russischen Soldaten eilte der Ruf voraus, nicht viel Federlesen mit Gefangenen zu machen, was das für junge deutsche Mädchen bedeutete, konnte man sich denken. Als es hieß, die Russen kommen, versteckten sich die Schwestern in der Scheune eines Bauernhofs. Sie hörten die Stimmen von russischen Soldaten, die sich in gebrochenem Deutsch nach den zwei blonden deutschen Frauen erkundigten. Wo blonde Frau? hörten sie, und die Frage kam immer näher.

Wo blonde Frau??!

Sie hörten das Schmatzen der nassen schweren Kampfstiefel, ihr Umherirren auf Kies. In Panik flüchteten die Beiden in der Dunkelheit über die Felder ins nächste Dorf. Dort waren noch einige Deutsche stationiert, die meine Mutter in den Wochen zuvor kennengelernt hatte.

Die Schwestern vertrauten sich den Wehrmachtssoldaten an und kamen im letzten Augenblick aus Brandenburg heraus, bevor es von den Russen eingenommen wurde. Man tarnte sie als deutsche Soldaten. Das Haar hochgesteckt und im Kragen der Uniform verborgen flüchteten sie per Eisenbahn nach Hannover. Dort versteckte (und verpflegte) sie ein hoher Offizier, höchstpersönlich, wie Mutter erzählte. Er versorgte sie mit Lebensmittelmarken bis sie schließlich zwei Tage später auf einem offenem Zug, wie die Tramps, bis in die Heimat nach Solingen reisen konnten.

 

22. Februar 2009

„Ich bin beim Doktor Hering und ich komm gleich mit dem großen roten Krankenwagen nach Hause!“ ruft Vater aufgeregt zuhause an und knallt den Hörer auf.

Mutter weiß überhaupt nicht, was Sache ist. Doktor Hering war der frühere Hausarzt meiner Eltern, doch das ist lange her, der gute Mann ist längst tot. Es stellt sich heraus, dass Vater eine Pflegerin gebeten hatte, für ihn die Nummer seiner Frau zu wählen. Daraufhin reichte die Pflegerin ihm den Hörer und ließ ihn allein. Als Mutter dranging, rief Vater schwer erregt diesen einen Satz und legte sofort wieder auf.

Mutter weiß nicht, wie sie mit der Situation umgehen soll. Sie ist noch nie so lange allein gewesen, das ist sie nicht gewohnt. Ihr fehlt das Hintergrundrauschen einer fünfzig Jahre währenden Ehe.

“Ich denk immer, der muss doch gleich um die Ecke kommen.”

Dass Vater nicht richtig bei Verstand ist, setzt Mutter besonders zu. Dass er dement bleiben könnte. Es rührt an ihrer gemeinsamen Würde.

Wenn ich sie besuche, sitzt sie verloren im Esszimmer und blickt auf die kaum befahrene Schillerstraße. Eine alte Frau mit dünnem grauen Haar, die mit verweinten Augen ins Nichts starrt und jeden Tag mehr abmagert. Sie wiegt bald keine hundert Pfund mehr. Wir alle machen uns Sorgen, wie es weitergehen soll, niemand hat eine Antwort. Vater kommt nicht um die Ecke, Mutter baut in rasender Geschwindigkeit ab.

Sie hat gesundheitliche Probleme. Eine Erkältung mit Reizhusten will trotz Antibiotika nicht weichen, dazu plagen sie hartnäckige Schmerzen in Rücken und Unterbauch, wo ihrer Auffassung nach der Sitz der Seele liegt. Sie hat unablässig Harndrang. Nachts muss sie bis zu zehnmal raus. An Tiefschlaf ist nicht zu denken. Weil sie so schwach geworden ist, spendiert ihr die Krankenkasse einen Toilettenstuhl und einen Rollator, den sie stur als Teewägelchen verwendet.

Auf Anraten der Ärzte schauen wir uns für Vater vorsorglich nach einem Pflegeheim um. Noch aber besteht Hoffnung, dass die Psychose sich zurückbildet. Noch duftet die große Dachwohnung an der Schillerstraße nach ihm, noch sitzt Mutter zwischen den gemeinsam angeschafften Möbeln der Interlübke-Linie und hält Wache, ratlos.

„Ich weiß nicht mehr, wo ich es suchen soll“, seufzt sie.

Ich mag ihre Sprache. Sie benutzt gern solch wunderbare Worte wie huschhascheln, was so viel wie hin- und her räumen, kramen bedeutet, oder ummeln. Wer im Bett liegt und gemütlich vor sich hindämmert, aber noch nicht eingeschlafen ist, der ummelt ein bisschen.

– Bist du schon am Schlafen? –

– Nein, ich bin am Ummeln. –

Finnig ist eine Suppe, der man auf Anhieb nicht ansieht, wie brühend heiß sie ist. Eine finnige Suppe versteckt ihre Hitze unter einer unauffälligen Oberfläche und man verbrennt sich schnell das Maul, wenn man nicht Acht gibt.

Um Mutter zu besuchen, nehme ich den Weg durch die Hofschaft Klauberg, vorbei am staubigen Fußballplatz, auf dem ich in früher Jugend die schönsten Kämpfe ausgetragen habe, Elfer-Raus und Fünf-Minuten-Schießen. Mit jedem Schritt steige ich tiefer in meine Kindheit, einem Kokon aus Füllerpatronen, Asterix-Heften und nicht geputzten Fußballschuhen, die fünfzig Pfennig Strafe nach sich zogen, wenn Sonntagvormittag ein Spiel anstand.

Sobald ich die Schillerstraße erreiche und Mutter per Summer die Haustür öffnet, lasse ich den Hund von der Leine und springe wie früher die Treppe hoch, nehme dabei ein halbes Dutzend Stufen auf einmal und zähle die grünen Kacheln im Wandmosaik, bis ich oben angekommen bin.

„Wo wart ihr denn so lange..? Kommt rein..“

Mutter schlurft voraus ins Esszimmer, in zu groß gewordenen Pantoffeln, und setzt sich ans Fenster. Es ist jedes Mal das gleiche Bild. Sie hockt im Esszimmer, das einmal unser altes Kinderzimmer gewesen ist, und schaut betrübt runter auf die Straße, während Vater zur selben Zeit dreißig Kilometer Luftlinie entfernt zum Parkplatz der Landesklinik Langendfeld hinunterblickt, in der Hoffnung, Mutter würde vielleicht zu Besuch kommen. Einer hält Ausschau nach dem anderen. Der Blick ins Leere, ihr letztes Band.

Damit Mutter wenigstens eine Kleinigkeit isst und nicht bei lebendigem Leib skelettiert, koche ich nach ihrer Vorgabe unkomplizierte Speisen wie Spinat mit Spiegelei, oder wir machen uns eine Pizza warm und teilen sie. Ich bin jedes Mal froh, wenn ihre Stimme etwas Farbe gewinnt und nicht gleich ins Schlingern gerät, wenn ihr Mund ein Lächeln aufbaut und sie zu schnattern beginnt, wie in besseren Tagen. Tagen, die noch gar nicht weit zurückliegen.

Es sind ja immer die kleinen Momente, die einen anrühren, die das Herz absaufen lassen. Da ist der Moment, als ihr Hals übergroß in mein Blickfeld rückt, die Falten wie Jahresringe, da ist der Moment, als sie sich fürs Mittagsschläfchen hinlegt. Ich ziehe ihr die Strümpfe aus und decke sie zu, wie ein kleines Schulmädchen liegt sie da, ein kleines Mädchen mit spitzem Näschen und jahrtausendealter Seele.

Zuvor, als ich das Bett herrichte, muss jede der diversen Über- und Unterdecken exakt an ihrem Platz sein, und wehe, das Bettlaken ist nicht glattgezogen und wirft Falten und ungemütliche Kniffe. Das kann ihr das ganze Mittagsschläfchen verhageln.

„Davon kriegt man lächerliche Beine.“

„Lächerlich..?“ Ich verstehe nicht.

„Kennst du das nicht? Wenn es juckt, als würde man auf Zwiebackkrümeln liegen… lächerliche Beine eben.“

Ich mache ihr eine Wärmflasche und reibe ihr den gepeinigten Rücken mit Pinimentol ein. Dabei meine ich es zu gut. Statt wie empfohlen einen wenige Zentimeter langen schmalen Strang aufzutragen, creme ich sie großzügig ein. Am frühen Abend geht das Telefon. Schon das Läuten verrät, dass etwas nicht stimmt.

„Ich konnte nicht einschlafen heut Mittag, so kalt war mein Rücken. Ich war ja richtig eingekleistert mit Pinimentol!“ Ihre Stimme hat kurzfristig den alten Drive. „Mir war so kalt, als hätte ich im Eisfach gelegen. Oder wolltest du mich schon einfrieren?“

„Oh.. äh, nein. Natürlich nicht. Aber die Wärmflasche war in Ordnung, oder?“

„Die Wärmflasche? Die war so heiß, es hat mir fast den Bauchspeck verschröggelt.“

„Der Bauchspeck? Was für ein Bauchspeck?“ sage ich, doch sie lässt den Einwand nicht gelten.

„Erst hat mich die Wärmflasche fast verbrannt, dann kühlte sie so schnell ab, dass ich gefroren hab wie ein Schneider. Ich war voll am bibbern!“

Es dauert eine Weile, bis sie mein Lachen hört und ebenfalls zu lachen beginnt. Erst nur halbwegs besänftigt, zum Schluss lauter als ich.

Mutter hat innerhalb einer Woche vier Kilogramm abgenommen, aber sie ist tapfer. Da ist der Mann, mit dem sie so lange verheiratet ist und der höchstwahrscheinlich nicht mehr heimkommt, da ist die Wohnung, in der alles nach ihm riecht, nach seiner Anwesenheit, überall sind seine Sachen. Sie sitzt allein in den gemeinsam angeschafften Möbeln, und so wird es vermutlich bleiben, auf die alten Tage. Welch eine Aussicht mit 81 Lebensjahren.

„Die Zeit nach den beiden Hüftoperationen war schon schwierig“, sagt sie unter Tränen, „da ging es mir richtig dreckig, doch das war gar nichts gegen die seelischen Schmerzen, die ich jetzt habe..“

23. Februar 2009

Ich steh schon eine ganze Weile beim Bäcker an und betrachte die hagere alte Dame links von mir. Sie muss an die neunzig sein. Ihr Anblick erinnert mich daran, wie ich Mutter neulich in den Mantel half. Ich bemühte mich, die widerspenstige Beule glatt zu streichen, die sich auf dem Schulterstück ihres Mantels gebildet hatte und die sich fast so hart anfühlte wie der Knauf eines Treppengeländers, bis mir endlich aufging, was da los war: dass es sich nämlich um ihren gottverdammten Buckel handelte.

Die alte Dame lächelt mich an. Sie ist klein und dünn, die Kleidung ärmlich. Die Schühchen sind ausgetreten, wirken eine Nummer zu groß, die ausgeleierten braunen Nylonstrümpfe werfen Falten. Sie stützt sich umständlich auf den Rollator und sucht in ihrem Portmonee nach Kleingeld, obwohl sie noch gar nicht an der Reihe ist. Je länger ich ihr wohlmeinendes Gesicht betrachte, von einer längst verflachten Dauerwelle abgerundet, desto wärmer wird mir. Einer dieser raren Momente, wo einem eine Person so nah wird, dass man sie am liebsten an seiner Zuneigung teilhaben lassen möchte. Wissen Sie was, junge Frau, Sie sind wunderbar. Aber das sagt man nicht. Man denkt es nicht mal. Man fühlt es nur. Wenn man Glück hat. Ist ja rar.

„Die Dame.. Sie wünschen?“

Die pummelige Verkäuferin hinterm Tresen hat Mühe, die Alte in der Schlange auszumachen, so klein ist sie.

„Drei Kümmelbrötchen“, piepst es links von mir. Dabei lächelt die Alte so unschuldig, dass aus meiner Sympathie eine Flut wächst, ein generationsübergreifender Nylonstrümpfen-Tsunami.

 

25. Februar 2009

Heute mit meiner Schwester, ihrer Tochter Bea und Beas Freund nach Langenfeld. Als wir aus dem kleinen gelben Renault meiner Schwester klettern, sehen wir Vater oben am Fenster sitzen und so schwungvoll winken, als versuche er ein Flugzeug einzuweisen, das gerade gelandet ist. Eins, das gekommen ist, um ihn abzuholen. Nach Hause zu bringen.

Während Bea und ihr Freund, einem ebenso langhaarigen wie ehrgeizigen Chemie-Studenten, Vater Gesellschaft leisten, haben meine Schwester und ich einen Termin beim Sozialdienst im Kellergeschoss. Der Termin entpuppt sich als totale Nullnummer. Die korpulente Sozialarbeiterin verströmt ein Parfüm wie in einem Bonbonladen und hätte es vielleicht im frühen Mittelalter als angesehene Sirupmacherin zu Ruhm und Ehre gebracht, als Sozialarbeiterin ist sie lustlos bis inkompetent. Die wenigen Ratschläge und Adressen, die sie für uns herausfischt, haben wir uns bereits selbst aus dem Internet gezogen, vielen Dank auch, und was anderes hat sie nicht drauf.

„Warum sind wir überhaupt hier? Warum haben Sie uns überhaupt herbestellt?“ fragt meine Schwester zum Abschluss des Gesprächs, und da wird die Dame rot. Aber nur ein ganz kleines bisschen.

Nach der Nullnummer schnell in den Aufenthaltsraum von Station 17, in der hintersten Ecke. Die Idee, mit der Kaffeetafel so etwas wie einen geschützten Raum zu schaffen, schlägt voll an. Vater wartet schon regelrecht auf dieses nachmittägliche Ritual. Heute gibt es leckeren Streuselkuchen.

Dennoch ist die ganze Situation manchmal unerträglich. Besonders, wenn wir zu viert oder fünft zu Besuch sind und uns wie der Medizinische Dienst um Vater herum gruppieren. Alle Augen auf ihn gerichtet, warten wir nur darauf, was er wohl als nächstes tun wird. Redet er wirr? Redet er klar? Kann man ihm folgen? Kann er uns folgen? Oder beginnt er zu weinen, weil er schon dreiundachtzig ist und nicht verstehen kann, warum man ihn in nachts ans Bett fesselt? (Weil er über den Flur läuft und gegen die Türen ballert.) Findet er die Packung Tempo-Taschentücher in seiner Hemdtasche, um seine Tränen zu trocknen? Oder findet er zwar ein Taschentuch in der Hemdtasche, vergisst aber unterwegs, was er damit vorhatte und reißt es, quasi als Übersprunghandlung, in lauter kleine Streifen?

„Warum sperrt man mich mit 83 noch ins Gefängnis? Ich hab doch schon einen Weltkrieg und drei Jahre Kriegsgefangenschaft hinter mir!“

(Woraus schnell mal zwei Weltkriege werden, je nach Verfassung.)

Er beschwert sich bitterlich über die Mitgefangenen, „die klauen wie die Raben.“ Sogar seine Brille habe man letzte Woche in Windeseile in ein Dutzend Kleinteile zerlegt und unter der Hand so rasch weiter verhökert, dass er den Diebstahl nicht mehr zur Anzeige bringen konnte. Tatsächlich trägt er eine fremde Brille, seine ist das jedenfalls nicht, die er auf der Nase hat. Als ich eine Pflegerin darauf anspreche, winkt sie ab.

„Die Patienten teilen alles brüderlich miteinander, da gibt es kein meins und deins. Erst kurz vor der Entlassung geht die große Sucherei los. Doch bislang hat noch jeder seine Sachen zurückbekommen. Es kommt ja nicht raus aus der Station hier. Ist ja eine geschlossene.“

Herbert, ausnahmsweise das linke Hosenbein bis zum Knie hochgekrempelt und nicht das rechte, hat heute Besuch. Eine junge Frau mit einem klaren lauten Gangbild, das alle Entgegenkommenden anschreit: Kommt uns ja nicht in die Quere! Sie begleitet ihn auf seiner Flurwanderung. Wir halten uns an ihre Drohung. Die ganze Station hält sich daran. Herbert hat freie Bahn. Er krempelt sogar beide Hosenbeine hoch. Merke: Jeder Demenzkranke hat seine Eigenheiten, die ihn glücklich machen.

 

26. Februar 2009

Im Elternhaus meines Vaters liefen sich die beiden erstmals über den Weg, da waren sie noch Kinder.

„Wir haben uns von Anfang an gut verstanden“, erzählt Mutter.

Da Geld knapp war, vermieteten meine Großeltern einige Zimmer, darunter an Beppo Lesizza, einem italienischstämmigen Onkel meiner Mutter. Den Onkel Beppo besuchte sie öfters, und nachdem sie Vater im Haus kennengelernt hatte, noch öfters. Als die beiden älter wurden, gingen sie miteinander, bis Vater 1944 noch eingezogen wurde, im Alter von 17 Jahren. Meine Mutter versprach, auf ihn zu warten, was auch kommen möge. Tatsächlich lachte sie sich zwar einen Tanzpartner an, den schönen Fredi, doch sie machte ihm von Anfang an klar, dass mehr als Tanzen nicht drin war. Als mein Vater 1947 aus englischer Kriegsgefangenschaft heimkehrte, war der schöne Fredi von einem Tag auf den anderen Geschichte.

„So muss es sein“, sag ich.

 

27. Februar 2009

Vormittags bei strahlendem Sonnenschein und Westwind zur Schillerstraße, zu Mutter. Ich mache einen kleinen Umweg über Potts Wiese, obwohl ich ohne  Hund unterwegs bin. In der Ferne glitzert Cronenberg, der einzige Stadtteil Wuppertals, der auf einer Anhöhe liegt und Sonne abkriegt. Während im restlichen Wuppertal käsige Gesellen das Straßenbild beherrschen, glänzt Cronenberg geradezu. Ich beobachte Pferde, die auf den Feldern des Stadtteils stehen in ihren Mänteln und fühle mich in die Kindheit versetzt. Aus irgendwelchen Gründen glaubte ich lange, in Cronenberg gäbe es eine Mine, in der Silber geerntet wurde. Von strammen kleinen Silberpferdchen, deren Fell glitzerte, die Nüstern im Wind. Ich schätze, Onkel Fitting hatte mir die Silbermine in den Kopf gesetzt.

Abgemacht war halb zehn, ich schließe Punkt 9.30 Uhr die Wohnung auf. Mutter hat einen Termin beim Arzt und möchte nicht allein dorthin. Zur Abwechslung sitzt sie mal nicht im Esszimmer am Fenster und starrt verheult auf die Straße, sie sitzt im Wohnzimmer vorm Telefonapparat und ruft ein Taxi.

„Ich bin so fertig“, stöhnt sie.

Wie schon tags zuvor, als Bea und ich Mutter zur Bank begleiteten, wo sie Geldgeschäfte erledigte, trägt sie eine graue Stoffhose, feste Schuhe und einen gemütlichen Winterpullover. Als ich ihr in die Daunenjacke helfe, ist da wieder diese hartnäckige Beule am Rücken, doch diesmal falle ich nur ganz kurz darauf rein.

„Der Buckel wird auch immer schlimmer“, sagt sie.

Nach zwei Hüftoperationen bewegt sie sich nur unter größter Kraftanstrengung voran, Schühchen für Schühchen. Als es im Ärztehaus einige Stufen zu bewältigen gibt, bevor wir den Lift erreichen, zieht sie sich beidhändig am Handlauf des Treppengeländers hinauf. Meine Hilfe lehnt sie ab, sie will es alleine schaffen. Als wir aber vorm Aufzug stehen und auf die Ankunft warten, wendet sie sich plötzlich mir zu und umarmt mich in einer geradezu kindlichen Intimität, so tief versinkt ihr Köpfchen in meiner Brust. Es macht mich sprachlos und verlegen. Und stolz.

„Nun bist du dran“, so interpretiere ich es, „ich kann nicht mehr.“

Ihr Hausarzt schickt uns um die Ecke zum Radiologen, die Lunge muss abgescheckt werden, doch die ist soweit okay, bis auf die Bronchitis, die ihr seit 10 Tagen zusetzt, und ihrer latenten Herzschwäche.

In der Apotheke stellt sie sich auf die elektronische Waage. Zuerst denke ich, die Waage arbeitet nicht richtig.

„Doch“, meint Mutter, „es stimmt.“

Mit Kleidern 51 Kilogramm.

 

1. März 2009

Die Gräfin und ich benötigen für eine kleine Runde mit dem Hund geschlagene drei Stunden. Wir bleiben dauernd stehen und gucken uns was an, wie früher, als wir uns kennenlernten und Schlendern das größte war. Es ist beinah so etwas wie Muße zu spüren. Ich wusste schon gar nicht mehr, wie sich das anfühlt. Ob es das noch gibt.

„Das war kein Gehen“, schwärmt sie, „das war relativ flottes Stehen.“

Selbst der Hund ist langsamer als sonst. Der hat auch et arm Dier, sag ich. Und Tiere können traurig sein, Frau Moll insbesondere. Wenn sie unterm Küchentisch liegt und ihr Blick voll abgeklärter und dennoch tiefer Verzweiflung zur Decke steigt, weil sie nicht mal Krumen vom Abendbrottisch abkriegt. Da könnte man fast auf die Idee kommen, unsere Zivilisation hätte geradezu die Pflicht in Traurigkeit unterzugehen, damit die Erde sich regenerieren kann.

Ansonsten bin ich viel mit meinem Bruder unterwegs, der sich eine Woche Urlaub genommen hat. Wir sehen uns zwei Heime an. Eins ist ganz in der Nähe und hat brandneu eröffnet, wir sind begeistert, das andere mieft nach Scheiße und Harninkontinenz und Geflügelpest. Sicherheitshalber haben wir Vater für beide Heime vormerken lassen.

Außerdem: Noch mehr Heime anschauen und sich mit Begriffen wie Kurzzeitpflege, Tagespflege, Busch-Stiftung, erhöhter Tagesbedarf, Betreuungsantrag, Bethanien mobil vertraut machen.

Mittags bin ich bei Mutter, wir kochen eine Kleinigkeit. Die Gräfin hat mir einige Bio-Tomaten mitgegeben, auch wenn es nicht die besten sind. Im Gegenteil. Sie ist davon überzeugt, dass es sich um die ersten Kriegstomaten handelt, die seit Ende des 2. Weltkriegs auf dem Markt sind.

„Die sind so faul und zerdötscht, die Hälfte kann man direkt in die Tonne kloppen. Bio hin, Bio her, das sind Tomaten für den Kriegsfall. Wenn man alles kaufen muss, was man in die Finger kriegt.“

Die Dinger schmecken gar nicht schlecht, finden Mutter und ich.

 

4. März 2009

Das restliche Leben geht weiter. Die Mutter der Gräfin feiert ihren 68. Geburtstag nach. Sie lädt die Familie ein zum Griechen. Es gibt Zicklein, so steht es auf der Schiefertafel. Hätte ich es nicht gewusst, ich hätte auf gebackenen Ziegelstein getippt, mit Chips getarnt als Bratkartoffeln. Schwere Knoblauchkost, halbe Kartoffeln reingeschmissen in den Erdofen. Immerhin: Es gibt weichen finnischen Wodka, hergestellt aus Gerste und Wasser aus ureigener Quelle, eiskalt runtergestürzt, hepp.

Heut Morgen wird die Gräfin mit einem Gestank im Mund wach, „als wäre ich ein Stück gestorben diese Nacht“, schüttelt es sie.

„Stirbt man nicht jede Nacht ein bisschen?“ wende ich ein.

„Ja, aber man muss nicht so riechen.“

 

5.März 2009

Ich war sechs, als ich zum ersten Mal mit den Großen Fußball spielte. Weil ich der Kleinste auf dem Feld war, stellte man mich ins Tor. Niemand wollte ins Tor, dessen Pfosten aus Hügeln zusammengeknüllter Jacken bestanden. Im Tor war man auf sich allein gestellt. Man war von der Rasanz auf dem Spielfeld abgeschnitten, man war mit dem Fußballgott auf du und du. Wenn es nichts zu tun gab, erzählte er einem was. Es war perfekt.

Es war wie für mich gemacht.

Wenn der Ball angeflogen kam, hechtete ich über den Grasboden und fuhr die Glieder aus wie eine Wasserpumpenzange, ich machte mich lang, ich streckte mich zur Sonne, und wenn sie ganz tief stand, noch darüber hinaus. Auch wenn ich manchen Treffer nicht verhindern konnte, ich hörte zum ersten Mal Lob auf dem Fußballplatz, und eine neue Welt tat sich auf.

„Der Kurze hat ja richtig was drauf“, staunten die Großen, meine zwölf, dreizehn Jahre alte Straßenidole, unerreichbar eigentlich, und einer applaudierte. „Der springt der Pille hinterher wie ein Flummi!“

Ab sofort war ich jeden Tag auf einer der zahlreichen Wiesen der Hasseldelle zu finden, bis die Dunkelheit hereinbrach und Mutter fünf Mal hintereinander zum Abendbrot rief. Dass ich auf Dauer dennoch nicht im Kasten blieb, sondern Stürmer wurde, lag einzig daran, dass Tore schießen noch mehr Laune machte als dem Ball hinterherzuhechten und einzufangen. Einer der Großen sprach bei meinen Eltern vor. „Der Kleine gehört in den Fußballverein.“ Er spielte selbst beim RSV und übernahm die Anmeldung zur E-Jugend.

Den Sportplatz in Kohlfurth kannte ich vom Blick aus unserem Küchenfenster, der bis weit hinunter ins Tal reichte, wo die schwarze Wupper floss und der RSV beheimatet war, Luftlinie zwei Kilometer.

Der seltsame Platz bestand zur Hälfte aus Asche (etwa in der Mitte, von Tor zu Tor) und dichtem Rasen an den Rändern. Warum das so war, dafür hatte niemand eine Erklärung. Auch woanders habe ich das nie wiedergesehen, diese Melange aus schwarzer Asche und Rasenplatz. Als wäre den Altvorderen beim Anlegen des Spielfeldes das Geld fürs Saatgut ausgegangen. Na gut.

Auch egal.

(Die Erklärung lieferte Jahre später der kleine dicke Mann aus der Nachbarschaft, der in seiner Jugend selbst für den RSV aktiv war. Nach seinen Informationen säte sich das Gras selbst aus, und wurde nie entfernt. Es wuchs einfach, fertig, aus. Leider reiche es nicht fürs ganze Feld.)

Gleich in der ersten Saison 1966/67 wurde ich Torschützenkönig. Als ich auch in der zweiten Saison einen Treffer nach dem anderen erzielte und aus dem Lob längst Warngeschrei geworden war, „he! Hab ich euch nicht gesagt, ihr sollt den Krauskopf decken!?“, sprachen andere Vereine beim RSV vor. Auch die Union, größter Club der Stadt, schickte einen Kundschafter, um mich abzuwerben, doch meine Eltern, die mit Fußball nichts am Hut hatten, waren strikt gegen einen Wechsel. Der Platz des RSV war zwar ein Unikum, lag aber in der Nähe der Hasseldelle, und nur das zählte.

Besonders für meinen Vater. Ein vorsichtiger Mensch. Schon einige Jahre zuvor hatte er eine Offerte der Firma Brandt Hagen abgelehnt, die für ihre Zwieback-Verpackung ein neues Kindergesicht suchte. Wer Brandt Hagen damals das Schwarz-Weiss-Foto zuspielte, auf dem ich (nee wat lecker) im Kinderwagen sitze und lächle, (eine Locke kringelt sich keck auf der Stirn), lässt sich heute nicht mehr nachvollziehen. Meine Eltern lehnten das Angebot ab. Sie wollten nicht jedes Mal in mein Grübchen blicken, wenn sie Zwieback kauften.

Für kein Geld der Welt hätte Papa dein Lächeln verkauft, erzählte mir Mutter viele Jahre später.

(So einen Vater hätte Timm Thaler haben müssen, dachte ich.)

So wurde ich also nicht Timm Thaler, und ich blieb auch beim RSV. Ich entwickelte mich mehr und mehr zum eigensinnigen Fummelkopp. Ein Fummelkopp sucht den Sololauf, er treibt den Ball voran, um ihn behalten zu können, so lange es geht. Ein Fummelkopp ist ein konservativer Mensch mit Hang zur Anarchie.

Interessant wird es dabei ab zwei, drei Gegenspielern, die man hintereinander ausknipst. Die man umkurvt, nass macht, dumme Beine sein lässt, umfummmelt, zu Standvieh degradiert.

Zwar ruhen die Augen des Fummlers beim Solo ständig auf dem Lederball, darüber hinaus nimmt er aber jede gegnerische Regung wahr, jede noch so unmögliche wie mögliche Blockade muss vorausgesehen und einkalkuliert werden. Immerzu heisst es beim Dribbling den Ball zu feiern und zu kosen, zu huben, zu hadern, aufzubocken, zu frikassieren, zu tunneln, zurückzuerbeuten.

Bei jedem Dribbling durch die gegnerische Abwehr gibt es diesen Moment, wo du zu scheitern drohst. Wo du dich beinahe vertändelst, wo ein Spieler deinen Trick durchschaut und es dir erst in allerletzten Augenblick gelingt, den Ball mit der Fußspitze oder der Hacke mitzunehmen. Und du weiterfummeln darfst.

Jetzt bist du der King.

Ganz zuletzt ist nur noch den Keeper vor dir. Ein wilder Hund ist der Torwart. Er ist der Mann, der mit langen Armen wild wild sein Haus bewacht, und er darf eine Menge mehr als du darfst als Stürmer: Der wilde Hund darf dir die Pille vom Fuß beissen, wenn er sich anders nicht zu helfen weiss, er darf sich aufs Leder werfen und unter sich begraben, als wäre es totes unnützes Material.

Der Keeper ist der wahre Todfeind des Stürmers, er ist der Drecksack, dem es zuletzt die Kirsche eiskalt durch die krummen untalentierten Beine zu schieben gilt. 1: 0 für Deutschland durch Weeeeeberr!!

Abdrehen, Küsschen, Jubel.

„Hab ich euch nicht gewarnt, ihr sollt den verdammten Lockenkopf decken??“

1969 stieß Tornato zu uns, der größte und leidenschaftlichste Fummelkopp aller Zeiten, eine mitleidlose kleine Dribbelmaschine, und plötzlich war ich nur noch die laufende Nummer 2 – was das Fummeln betraf. Tornato war der Garrincha des RSV, bloß doppelt so verspielt und absolut unfähig, einen Treffer zu erzielen. Wenn Tornato den Ball abgab, dann aus Versehen.

Sein anarchischer Umgang mit dem Ball war geprägt von einem tiefen Verständnis für Physik. Er wusste instinktiv, in welche Richtung sich dieser runde, mit Luft aufgepumpte Behälter bewegt, wenn man ihn tritt, und wie man ihn treten muss, wenn man ihn woandershin haben will. Er war ein Genie, er fiedelte jeden Gegner um den Verstand. Er tanzte sie aus, er belästigte sie, er ließ sie hinter sich wie eine Schar gründelnder Enten.

Tornato war klein und wendig, er kam aus Süditalien und sprach nicht nur kaum ein Wort Deutsch, er sprach auch wenig Italienisch. Ein wortkarger kleiner Außenseiter, der niemals lachte oder sonstwie die Miene verzog. Das fanden wir komisch. Wie konnte ein Junge, der auf dem Fußballfeld vor Phantasie und Einfällen nur so strotzte, im richtigen Leben so eine graue Maus sein. Auf dem Fußballplatz lernt man eine Menge übers richtige Leben.

Neben den Platzverhältnissen war Tornato das zweite große Kuriosum des RSV. Er stieß in der D-Jugend zu uns, im Alter von neun Jahren, mit Gummibeinen und diesem undurchschaubaren, gleichmütigen Gesichtsausdruck. Er steckte mich in die Tasche, gegen ihn war ich bloß ein Mittelstürmer, ein Gerd Müller, der zwar immer noch viele Tore erzielte, doch als Künstler reichte ich nicht an ihn heran.

Aber ich war ihm nicht böse. Im Gegenteil. Weil ich seine Lust am Dribbling, seine Leidenschaft so gut nachvollziehen konnte, bekam ich nicht genug davon ihm zuzuschauen. Auch wenn Fußball eine Menge brillanter Dinge zu bieten hat, etwa ein Dropkicktor aus 30 Metern Entfernung oder einen direkt verwandelten Einwurf in der Nachspielzeit, nichts geht über diesen Moment, wenn man beim Dribbeln einen Lauf hat und die Gegner reihenweise aussteigen lässt.

Es ist der totale Rausch.

Ohne, dass du selbst genau weisst, was du als nächstes tun wirst, überrascht du die gegnerische Verteidigung mit der nächsten Trickexplosion, der nächsten Finte, und, nicht zu vergessen: Jeder Verteidiger muss mit einer eigenen Finte ausgespielt werden. Es ist kaum möglich, die gleiche Finte noch einmal zu verwenden in derselben Spielsituation. Du musst jedes Mal eine neue Finte mehr drauf haben als der Gegner.

Aber Tornato fummelte nicht nur jede Abwehr um den Verstand, auch sich selbst verschonte er nicht. Immer wieder passierte es, dass er eine gesamte Hintermannschaft schwindlig spielte, doch sobald er allein auf den Torwart zulief, war sie plötzlich da, die Angst vorm Torwart.

Es war wie ein Fluch.

Als erwachte er aus einem rassigen Traum und nun baute sich die Wirklichkeit vor ihm auf, groß und unüberwindbar und universell fischte sie ihm mühelos den Ball vom Fuß, fast wie nebenbei. Ich kann mich an keinen einzigen Treffer erinnern, den Tornato je für den RSV erzielt hätte.

Niemand von uns Jungs lernte Tornato wirklich kennen. Nicht mal der Duce, der zweite kleine Italiener in unseren Reihen, verbrachte ausserhalb des Platzes Zeit mit ihm, und so blieb er bis zum Schluss ein Rätsel. (Unser dritter Italiener, der lange Tonino, der Vorstopper, war keine Hilfe, er war genauso mundfaul wie Tornato.)

Dass wir trotz seines Supertalents und zwei, drei weiteren guten Spielern bis auf ein Jahr in der Bestengruppe stets in den unteren Jugend-Ligen kickten, lag an der unglückseligen Zusammensetzung unseres Teams. Im Einzugsgebiet des RSV gab es einfach zu viele Schussel und hüftsteife Krücken, die einen Stammplatz sicher hatten, aus dem einen oder anderen Grund.

Mal war der Vater solch einer Krücke unser Trainer, mal bekamen wir ohne das Schussel kein vollständiges Team zusammen. Man musste Minimum acht Mann aufbieten, sonst wurde das Spiel gar nicht erst angepfiffen und automatisch mit 0:2 gewertet.

Eines Tages erschien Tornato nicht zum Training, am folgenden Samstag fehlte er beim Spiel. Seine Familie, von der wir nicht mehr wussten, als dass es eine unüberschaubare Anzahl von Geschwistern gab, die ihn gelegentlich vom Platzrand anfeuerte, war zurück in die Heimat gegangen, eine lang geplante Geschichte, doch Tornato hatte kein Wort gesagt. Aber welches Wort hätte er auch nehmen sollen, ein deutsches?

Drei Jahre später, in der A-Jugend, kehrte er zurück – genauso, wie er gegangen war, ohne Ankündigung, Knall auf Fall. Diesmal war er nur mit dem Vater gekommen, der wieder seine Arbeit bei Rasspe aufnahm, dem Hersteller von Landwirtschaftsgeräten sowie Hauptsponsor und Namensgeber des RSV, Rasspe Sport Verein.

Tornato war kaum gewachsen, hatte sich aber in der Heimat einen bösartigen kleinen Nudelbauch angefuttert. Seine Ballbehandlung war weiterhin großartig, er fummelte auf engstem Raum, als wolle er das Völkerrecht aushebeln, er war immer noch der Reiter, der jede feindliche Linie durchstiess, übertölpelte, Haken schlagend. Wäre es nur irgendwie möglich gewesen, jeder Gegner hätte ihn zur unerwünschten Person erklärt und an der nächstbesten Grenze festsetzen lassen, bis zum Saisonende.

Und darüber hinaus,

Doch etwas war anders geworden. Er war nicht mehr der Alte. Kaum 16 Jahre alt, machte er einen erschöpften, ja niedergeschlagenen Eindruck. Der Bauch, für den seine Mama viele Portionen Nudelteig geknetet haben musste, war nur das äusserliche Anzeichen für seine Schwermut. Schon nach zwei, drei Spielen geschah es, dass er plötzlich den Ball abgab, in einer völlig unbedrängten Situation. Hätten wir uns in der D-Jugend vielleicht noch darüber gefreut, dass er sich mannschaftsdienlich zeigte und das Spiel flüssig machte, so wussten wir nun nicht, was wir davon halten sollten.

Einmal, nach dem Training, wir gingen gemeinsam in Richtung Vereinslokal, wo auch die Umkleidekabinen und Duschräume untergebracht waren, wurde ich das Gefühl nicht los, dass er uns etwas sagen wollte. Tatsächlich holte er Luft, sah uns mit großen Augen an – und schwieg.

Der Bursche habe es mit dem Herzen gehabt, sagte unser damaliger Trainer, als Tornato kurz darauf in die süditalienische Heimat zurückkehrte, ohne den Vater, und sich erhängte.

 

8. März 2009

Der kleine dicke Mann, der seit 1962 mit seiner Ehefrau um die Ecke lebt, zieht fort. Die Wohnung ist dem Ehepaar zu teuer geworden. Außerdem hat er es in den Beinen, er kann nicht mehr gut gehen, er und seine Frau haben eine Erdgeschoßwohnung gefunden, in einer anderen Siedlung. Wo man keine Treppen steigen muss, um den Einkauf und sich selbst reinzubringen.

Wie oft habe ich mit dem kleinen dicken Mann vorm Haus zusammengestanden und seinen Geschichten gelauscht, in diesem warmen Solinger Singsang, der mich immer an meine Eltern erinnert. An meine Onkel und Tanten, an Opa, meine Oma, an die ganze Sippe, die Solinger Platt sprach, den Slang meiner Kindheit.

Manchmal ertappte ich mich dabei, dass ich einfach die Augen schloss und mich in den Worten des kleinen dicken Mannes hin- und herwog, ohne groß auf den Sinn zu achten. Es war, als badete ich, und der kleine dicke Mann war mein wohltemperierter kleiner dicker Badesee.

Wer Solinger Platt nicht kennt, wer als Auswärtiger hinzukommt, für den klingt es wie ein Nuscheln, aber ein freundliches Nuscheln. Der Begriff Neuschier etwa ist so viel freundlicher als das hochdeutsche Original. En Neuschier ist ein neugieriger Mensch. Doch wenn man das Wort Neuschier hört, sieht man sofort die Nase, die sich vorwitzig um die Ecke schiebt, um etwas mitzukriegen, was einen eigentlich nichts angeht. Es ist diese sehr eigenwillige Beziehung zum Leben, die sich im Solinger Platt ausdrückt. Oft nicht so gemütlich wie im Kölsch, eher derbe-direkt.

Weil er nicht mehr gut zu Fuß war und kaum noch lange stehen konnte, hatte er sich hinterm Haus einen alten Holzschemel hingestellt, der dicke kleine Mann. Da er wusste, zu welcher Tageszeit ich ungefähr mit dem Hund durch den Hinterhof spazierte, um Richtung Wald zu kommen, nahm er Platz auf dem Schemel und wartete auf mich. Um mich zu füttern. Mit Mundart. In die er stets Klassiker einfließen ließ, Klassiker des Solinger Sprachschatzes wie das rätselhafte mauschebeet (erledigt, völlig erschossen) oder huschhascheln, eines dieser wunderbare Worte, die meine Mutter zu sagen pflegte. Huschhascheln, was so viel bedeutet wie hin- und her räumen, kramen.

Jau ist ein Mensch, der geizig ist, aber da ist eine Spur mehr drin als Geiz, ein jauer Mensch ist gleichzeitig auch gefühlsarm, eine Karteileiche. Einer meiner Lieblingsbegriffe ist der schleihte Hungk. Wenn ich es ausspreche, höre ich sofort meinen Vater, der sein Urteil fällt über jemanden: En schleihten Hungk beschreibt wörtlich übersetzt einen schlechten Hund und meint einen Menschen mit zweifelhaftem Charakter, aber mit einem Augenzwinkern. Dat is en schleihten Hungk, damit meinte Vater gelegentlich auch mich.

Hm. Ja.

Der kleine dicke Mann erzählte gern von Fußball. Sein Enkel spielt bei der Fortuna, er ist aktuell sein ganzer Stolz, doch mir war lieber, er erzählte aus alten Zeiten. So erfuhr ich, dass hybridartige Fußballplätze wie der in Kohlfurth (in Kolfert), wo ich beim RSV alle Jugendmannschaften durchgespielt habe von der E- bis zur A-Jugend, gang und gäbe waren im Stadtgebiet, diese verfluchten Zwitterwesen aus Asche und Rasen. Das Gras säte sich mit der Zeit sozusagen von selbst aus und bildete erste Flächen, dann wuchs es von den Rändern des Feldes zur Mitte hin, es geschah von ganz allein, ohne Zutun der Vereine. Was auch daran lag, dass man die Plätze sich selbst überließ. So etwas wie einen Platzwart gab es nur insofern, dass jemand die Eckfahnen aufstellte am Spieltag und mit dem Kreidewagen die Linien abfuhr.

Nachdem der Ascheplatz in Kohlfurth mehr und mehr von Rasen dominiert wurde, (ohne ihn je ganz in Beschlag zu nehmen), stellte RASSPE einen Mähtraktor zur Verfügung und stutzte die Wiese gelegentlich. Das bot sich an, war RASSPE doch nicht nur Namensgeber des 1909 gegründeten Arbeitervereins Rasspe Sport Verein (RSV) Kohlfurth, sondern auch einer der führenden Landwirtschaftsmaschinen-Hersteller seiner Zeit, die Fabrikhallen lagen um die Ecke. RASSPE hatte keinen guten Ruf. Rasspe bot viele Arbeitsplätze, zahlte aber schlecht.

Willst du schlechte Löhne, geh zu Rasspe und Söhne.

Der kleine dicke Mann berichtete, dass es 1950 zum 40jährigen Bestehen des RSV ein einwöchiges Fest-Turnier in Kohlfurth gab. Im Endspiel standen sich der SV Sudberg und der SSC 95/98 gegenüber. Es war Sonntagnachmittag. Bratwurststände und Trinkbuden waren aufgebaut, Hunderte von Zuschauern säumten den mit Blumengirlanden geschmückten Acker, genannt Platz. Und dann, so der kleine dicke Mann, muss es eine mordsmäßige Klopperei unter den Spielern gegeben haben, in deren Verlauf eine betagte Sudberger Anhängerin („Minimum Mitte sechzig!“) den Platz stürmte und rigoros mit ihrer Handtasche zuschlug, wobei dem Vorstopper des Gegners 95/98 das halbe Ohr abrasiert wurde. Sofort wurde das Endspiel abgebrochen. Polizei fuhr vor (im Peterwagen) sowie ein Krankentransport, es wurde ein halbes Ohr gesucht und ein Dutzend Platzverweise ausgesprochen. Nicht vom Schiedsrichter, nein, der hätte das Finale gern weiterspielen lassen, aber die Polizei nicht, die hatte was dagegen.

„Dat woaren noch staatse Konden auffem Platz fröüher, die hatten noch Schitte anne Füöte!“

(Das waren noch prächtige Jungs auf dem Platz früher, die hatten noch Scheiße unter den Schuhen = die konnten noch was ab.)

Was Vater angeht, ist schon seit etwa einer Woche eine überraschende Wende eingetreten. Es ist die Rede von einem Wunder, und von Glück. Glück, dass die Sisyphusarbeit, die exakte Dosis, die richtige Zusammensetzung, das richtige Medikament zu finden, welches die Gehirntätigkeit in die richtigen Bahnen lenkt, offenbar gefruchtet hat.

Im Nachhinein wird Vater sagen, dass er an die Zeit in Langenfeld keinerlei Erinnerung habe, bis zu diesem Morgen, als eine Pflegerin am Wäschewagen steht und zu ihrer Kollegin sagt, „schau mal an, der Herr Glumm, der nimmt sich seit zwei Tagen die richtige Wäsche heraus..“

Es begann mit dem Besuch meiner Schwester vor einer Woche.

„Der Papa war total klar“, erzählt sie am Telefon.

„Wie, total klar? Was meinst du?“

„Na, er hat sich zuerst erkundigt, wie Gordons Operation am Ohr verlaufen ist.“ (Gordon ist der jüngste Sohn meines Bruders.) Da hat meine Schwester erstaunt geguckt, dass er sich das gemerkt hatte, und sie kam auch danach nicht mehr aus dem Staunen heraus. Von Verwirrung und Weinerlichkeit war nichts mehr zu spüren, er war (fast) wieder unser alter Vater.

Am Sonntag dann besuchte mein Bruder samt Anhang Vater in Langenfeld, und sie gingen bei schönem Wetter im Garten spazieren. Zwar war Vater schnell aus der Puste, aber geistig voll auf der Höhe. Er möchte nur eins: so schnell wie möglich raus aus dem Heim. Ganz egal, ob zuerst eine Weile in ein Altersheim, oder gleich nach Hause. Am liebsten gleich nach Hause, logisch.

Tatsächlich, Vater wird nächste Woche Dienstag nach Hause entlassen. Voraussetzung: ein Pflegedienst kümmert sich morgens und abends um ihn. Es kann nämlich sein, dass seine Aufmerksamkeitsspanne nicht ausreicht, um sich zum Beispiel zu rasieren etc.

Wir sind alle platt.

„Es ist , als hätte Papa irgendwelche superneuen Licht-Tabletten gefressen, die sein Gehirn wieder aufhellen“, frohlockt mein Bruder.

Mutter freut sich, nicht mehr alleine zu sein, wir Kinder freuen uns, unser altes Leben zurück zu kriegen. Das alte Leben, wo sich nicht alles um einen Heimplatz für Papa dreht und die Sorge, dass Mutti ihren Mittagsteller aufisst, damit sie nicht noch mehr Gewicht verliert.

Die jüngste Schwester meines Vaters hat ihn gestern besucht und war genauso baff wie alle anderen, die Vater in den vergangenen Tagen gesehen haben und wissen, wie es noch vor zwei Wochen um ihn stand, als niemand mehr einen Pfifferling auf ihn setzte.

„Wenn mein Bruder nächste Woche rauskommt und immer noch so klar ist im Kopf, dann werde ich christlich“, sagt sie am Telefon. „Dann glaube ich an Gott.“

 

10. März 2009

Da ich die letzten Tage zu tun hatte und nicht nach Langenfeld fahren konnte, bin ich vom harten Kern der Familie momentan derjenige, der Vater noch nicht erlebt hat, seit er wieder klar im Kopf ist, und so ganz glauben kann ich es immer noch nicht. Auch die nette Stationsärztin spricht von einem Wunder.

„Es passiert zwar immer wieder, dass selbst hoffnungslose Fälle plötzlich die Kurve kriegen, aber bei Ihrem Vater schien die Schädigung im Gehirn bereits zu weit fortgeschritten.“

Mein Bruder erzählt, dass Vater vorsichtig geworden ist auf Station. Er will sich auf die letzten Meter nichts mehr zu Schulden kommen lassen, wie er sich ausdrückt. Nichts, was eine baldige Entlassung gefährden könnte. Schließlich steht er noch unter Aufsicht der Klinikleitung, so Vater. Er hat die Pflegekräfte vorsichtshalber darauf hingewiesen, dass die beiden schamlosen Frauenzimmer, die ihm dauernd auf dem Gang auflauern und sich vor ihm nackig machen, aus verwirrten, freien Stücken handeln und nicht etwa auf sein Betreiben hin.

„Das wissen wir doch, Herr Glumm“, beruhigt ihn das Personal. Sie kennen die beiden Früchtchen aus Zimmer 45 nur zu gut.

 

15. März 2009

Als mich vor mehr als einem Monat die Tatsache quälte, dass ausgerechnet ich meinen Vater in die Psychiatrie begleitete, dass ich es war, der ihn eine Weile aus der Welt schaffte, (wobei er mir auch noch vertrauensvoll das Leben in meine Hand legte), da gab es einen bestimmten Zeitpunkt, wo mir klar wurde, dass ich nicht falsch handelte.

Es war der Moment, als ich auf seine Frage, was ich denn nun machen würde, wo der Zeitvertrag im Institut abgelaufen sei, antwortete: „Na, Schreiben, was sonst“, und er mich verständnislos anguckte. Das war in dem ganzen verstörenden Zusammenhang sehr richtig.

Mittags drehe ich eine Runde mit dem Hund und verbinde das mit einem Besuch bei Mutter, wie so oft in den letzten Wochen. Es hat schon etwas von Routine. So auch der Anblick, wenn ich die Wohnung betrete und Mutter sitzt am Fenster, im Rücken die Wärmflasche gegen die Bandscheibenschmerzen, vor sich ein halb ausgetrunkenes, kalt gewordenes Glas Tee und verweinte Augen. Sie kommt nicht wirklich auf die Beine.

„Es ist diese Kraftlosigkeit, die mir so zusetzt“, jammert sie und atmet schwer.

Sie hat Angst vor morgen, wenn Vater heimkehrt, nach mehr als sechs Wochen. Ob sie das alles schaffen wird, was auf sie zukommt, ein demenzkranker Mann, dem es zwar deutlich besser geht, sensationell besser, klar, der aber, so die Stationsärztin, „Durchblutungsstörungen im Kopf hat, und das ist und bleibt nun mal eine Tatsache, der Sie ins Auge sehen müssen.“

Hauptsächlich ist sie aber froh, nicht länger allein zu sein. Wenn ich wie heute zur Mittagszeit komme, kochen wir gemeinsam. Diesmal soll es Pfannkuchen geben, haben wir beschlossen. Wir sitzen aber noch am Esstisch.

„Ich hab doch erst vor zwei Stunden gefrühstückt, wie soll ich denn da schon wieder Hunger haben..“, klagt sie.

Als ihr die Tränen hochschießen, setze ich mich zu ihr und nehme sie in den Arm. Die Tränen kullern über ihr schönes altes Gesicht, tropfen auf ihre Schürze. In sich selbst verloren, versunken schon beinah in einer mir fremden Welt, lässt sie den Kopf auf die Tischplatte nieder, weint. Kein Schluchzen, es ist ein stilles verzweifeltes Weinen, während ich ihre Schultern streichle, nicht minder verzweifelt und hilflos. Plötzlich nimmt sie die Stirn vom Tisch, und blickt zu mir auf.

„Sollen wir jetzt den Pfannkuchen machen..? Was meinst du? Isst du einen mit?“

©


17 Gedanken zu „Vater geht’s besser

  1. Gleiches Alter,
    gleiche Probleme mit den Eltern.
    Mein Alter faselt auch vom Krieg, mit 16 noch eingezogen,
    und Durchgangssyndrom kenne ich auch.
    Harte Zeit, wenn der Alte so völlig im Arsch vor einem liegt.
    Jetzt haben die bei Ihm endlich !! nach 2 Jahren Rumgedoktere festgestellt,
    daß er Zucker hat ! Das Leben kann so einfach sein.
    Jetzt ist er wieder fit, aber wie !!
    Es war nur Zucker ! Und vorher genau die gleiche Scheiße,
    OP wegen Bauchspeicheldrüse,schwaches Herz, Wasser, bla bla bla.
    der Man komplett schwach und am Ende, über Monate.

    Gefällt 1 Person

  2. in solchen momenten hilft nur ein anker
    den man weit werfen kann
    bis ins green field.
    immer wieder bewundernswert die Sprache und auch die moments.

    Like

  3. jetz grad fällsts mir auf was ich nicht hörte
    die Bimmelei vom Eiswagen
    die würden doch ein Bombengeschäft machen
    aber sie lassen sich nicht blicken!

    Like

  4. So eine liebevoll geschriebene Geschichte. Das blieb mir und meinem Bruder zum Glück erspart. Unser Vater starb mit 65 an Lungenkrebs (45 Jahre Juno, Reval und Selbstgedrehte), unsere Mutter an einem Schlaganfall. Furchtbar, alt werden ist wirklich nichts für Feiglinge.

    Gefällt 1 Person

  5. Du solltest aus dem ganzen Thema (Altern der Eltern, Abschiednehmen, Sterbebegleitung und weiterleben) ein Buch in diesem Tagebuch-Stil machen. Das wäre ungewöhnlich einfühlsam erzählt, extrem hilfreich und tröstend für alle, die in ähnlichen Situationen sind oder denen das bevorsteht. Ich glaube, da würde auch ein Verlag einen „Markt“ sehen.

    Gefällt 1 Person

  6. Danke, das nimmt ganz schön mit … und ich bin froh, das schon vor gefühlten 20 Jahren hinter mich gebracht zu haben. Diese Generation stirbt noch recht schwer, mit diesen Kindheits- und Jugenderlebnissen.

    Gefällt 1 Person

  7. Habs mit schwerem Herzen gelesen, denn ich erinnerte mich an meine Mutter, sie wurde mit 83 wegen Darmkrebs und Verwirrungszuständen ins Krankenhaus eingewiesen, operiert, mit künstlichem Darmausgang, mit Drogen vollgestopft, fixiert, weil sie immer wieder versuchte, die Kanülen aus Armen und Beinen rauszuziehen. „Alles falsch“ sagte sie, und „auch du, meine geliebte Tochter“, wenn ich ihre Hand hielt, um sie zu hindern, die Kanülen rauszureißen. Die Morphine führten zu schrecklichen Halluzinationen, bis sie schließlich besser eingestellt waren, ihre Hände und Füße waren wegen Herzinsuffizienz geschwollen, bis ich ihr altes pflanzliches Herzmittel reinschmuggelte. Sie verschenkte alles, sogar ihren Bademantel, wollte nichts Eigenes mehr haben. Sicher, sie hätte gern noch gelebt, aber nicht unter diesen Umständen. Ihre gesamte Energie konzentrierte sie auf den Ausweg, aufs Entkommen. Sie starb in der Stunde, als meine Schwester gegangen und ich noch nicht da war, hat ihre Freiheit gewählt. Immer höre ich ihre Worte „alles falsch!“, ich hörte sie auch jetzt, als ich die Leidensgeschichte deines Vaters las und er fragte, warum ihm dies angetan werde. Warum lässt man einen alten Menschen nicht in Würde sterben? ich bin nun selbst bald in dem Alter und fürchte mich vor der Arzthörigkeit meiner Abgehörigen mehr als vor dem Tod.

    Gefällt 2 Personen

    • „Alles falsch..“ Das bleibt im Ohr, klar.. Es ist eine Gratwanderung. Mein Vater ist ja erst Jahre später tatsächlich dement geworden. In der Zeitspanne, die ich hier schildere, war es aber anders. Er ist durch medizinische Hilfe für eine Weile „gesund“ geworden und hat noch ein paar Jahre „gewonnen“. Wann greift man noch medizinisch ein und verlängert ein Leben, und wann nicht mehr? Eins aber steht fest: der Wunsch, nein, das Recht, das eigene Leben beenden zu dürfen, wird hierzulande nicht respektiert.

      Gefällt 1 Person

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..