Meine dollen 5 Minuten

Es gab ein geflügeltes Wort in der Familie, „der Andreas hat seine dollen fünf Minuten.“ Jeden Abend, 18 Uhr 55. Fünf vor Sieben. Man konnte die Uhr danach stellen.

„Ab in den Flur!“

Weil ich so albern war. So übermütig. Ein Clown.

Zur besten Abendbrotzeit.

Für meine Geschwister und den Rest der Familie untragbar wurde ich aus dem Wohnzimmer verbannt und in den Flur ausgewildert. Ein langer Flur. Die Türen wurde zugemacht, darunter auch die Wohnzimmertür, eine Tür mit großem Glaseinsatz. Jetzt war ich allein, jetzt durfte ich Gas geben. Rumalbern, doof sein, schreien, tanzen, hulla hulla machen, fünf Minuten lang motzen wie ein Coyote. Coyoten motzen nicht? Da habt ihr mich aber nicht gesehen, 1970 im langen Flur. Die Scheibe in der Wohnzimmertür war aus Sicherheitsglas, dahinter wirkte alles wie unter Wasser. Dahinter saß mein Publikum, in der Essecke des Wohnzimmers. Bruder, Schwester, Mutter, Vater. Ein schwieriges Publikum.

Unterwasserpublikum.

Mein Favorit? Der Hinkebeinpirat. Der Hinkebeinpirat benötigte den ganzen Flur, wenn er übers Schiffsdeck stakste und sich Splitter einfing. Das Publikum tobte. Hinter Glas. Fünf wunderbare Minuten lang. Dann ging die Tür zum Wohnzimmer auf, und es gab Abendbrot.

„Und wann ist dein Buch fertig?“ fragte Vater fünfunddreißig Jahre später.

Ich war nur auf einen Sprung reingekommen, um nach dem Rechten zu sehen. An meiner Seite der Hund, bereit zum Aufbruch. Wir standen in meinem alten Flur. Er war noch genauso lang wie früher. Natürlich. Flure neigen nicht dazu, sich im Laufe der Zeit zu verkürzen. Ein langer Flur ist ein langer Flur, ein Pferd ist ein Pferd.  Kurz zuvor hatte Vater sich erkundigt, wie ich den Nachmittag verbringen würde, ob ich was Besonderes vorhabe, worauf ich „na ja, ich setz mich an den Schreibtisch…“ geantwortet hatte, „wie immer“, doch jetzt hing ich in der Luft. Zögernd machte ich mich an die Antwort.

„Mein Buch..? Fertig? Nächstes Frühjahr..“, sagte ich schleppend und wie aus der Luft gegriffen – es gab keinen festen Zeitpunkt, keinen Masterplan. Ich hätte genauso gut nächste Woche antworten können oder in vier Jahren oder im nächsten Leben, es wäre nicht weniger richtig oder falsch oder wahrscheinlicher gewesen als nächstes Frühjahr. Zwar gab es ab und zu Anstöße für ein Buch, ob von außen oder von innen, ob aus dem Kreis der Eingeweihten oder von Lesern, die meinen Blog im Internet entdeckt hatten, doch alle Welt forderte einen Roman von mir, selbst ich forderte diesen Roman und keine schnöde Sammlung von Short Stories, doch da war kein Roman. Nicht in mir. Tausend Geschichten, kein Roman. Tausend Inseln, keine Landmasse.

Die Gräfin hatte es mal so ausgedrückt.

„Du bist ein Buddhist reinen Herzens. Du bist immer auf dem Weg, ohne Ziel, ohne Plan, ohne Ergebnis, Tag für Tag, ohne jedes Ende.“

Vater blickte mich an.

„Sag mal, wenn du jeden Tag ein paar Seiten schreibst, musst du zu Hause doch schon soo einen Stapel haben.“

Mit den Händen zeigte er an, wie es seiner Meinung nach auf meinem Schreibtisch aussehen musste. Wo man der engen Bebauung wegen nur noch in die Höhe bauen durfte, wo Manhattan aus Manuskripten bestand. Mindestens zwanzig fette Schmöker hoch, zeigte Vater an. Oder nicht? Ist das nicht mindeste, wenn man Jahr um Jahr, Tag um Tag am Schreibtisch sitzt? Und immer war da dieser Zipfel Misstrauen, der aus seinem Blick sprach. Ob ich auch die Wahrheit sage, ob ich keine Ausreden suche.

„Was wird das denn für ein Buch?“ ließ Vater nicht locker. „Wird das ein.. so ein Familienroman?“

Ich war im selben Flur, in dem ich als Knirps jeden Abend 5 Minuten Rock’n Roll gemacht hatte, Rock’n Roll, an den Vater sich nicht erinnerte. Ich fragte ihn mal nach meinen Eskapaden im Flur, in der Annahme, er wisse Bescheid, wovon ich sprach, doch er hatte keine Ahnung. Welche dollen 5 Minuten?

Ich stand da, und in mir regte sich Dankbarkeit.

„Ja.. natürlich, eine Familiengeschichte“, sagte ich erleichtert.

11 Gedanken zu „Meine dollen 5 Minuten

  1. „Eskapaden im Flur“:
    auch ein schöner Buchtitel.

    Einem bekannten Autor wurde von seinem besten Freund in durchaus positiv-bestärkender Absicht gesagt:
    ‚Du kannst keine Romane schreiben. Das aber sehr gut!‘
    Vielleicht keine so schlechte „Aufmunterung“.

    Und außerdem kann man sein Schreiberleben auch ganz gut mit dem Warten auf die Druckreife verbringen.😉

    Gruß Uwe

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  2. Hast du mal probiert, das bisherige Material in eine Reihenfolge zu bringen, die einem Roman nahe kommt? Dann müsstest du nur noch die Anschlüsse oder ein paar verbindende Kapitel schreiben.

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