Engel und Indianer planen sich selbst

Mehr als 10.000 Bücher und Zeitschriften aus dem Bereich Design, Architektur, Philosophie und Kunst galt es bei laufendem Betrieb zu katalogisieren, aber ich hatte Zeit. Man ließ mich in Ruhe. Während Geschäftsführung und Computerlabor in den oberen beiden Stockwerken residierten, war die Bibliothek im Souterrain des restaurierten alten Hauptbahnhofs untergebracht, ich war weit ab vom Schuss.

Die halbe Zeit saß ich am Rechner und schrieb Geschichten für mein Weblog 500beine. Es war das Jahr 2007, es waren die goldenen Blogger-Jahre. Wenn ich mittags die Statistik meines Blogs aufrief, hatte ich 400 Leute auf dem Schirm, doppelt so viel wie heute an zwei Tagen.

Blogs waren der Beat der mittleren Nullerjahre. Die Szene explodierte geradezu, jeden Tag kamen Hunderte neuer Blogs dazu, gleichzeitig schlossen hundert und wurden nie wieder gesehen. Als ich zwei Jahre zuvor gestartet war, tat ich es auf zehn Blogs gleichzeitig, aus lauter Übermut. Sie trugen Namen wie Opiumrauchklub, Ich bin die Beatles, Der Sprechvater und Frech wie Dreck. Einen nach dem anderen ließ ich wieder verschwinden, übrig blieb 500beine.

Es herrschte Goldgräberstimmung, und das Gold waren die Kommentare und vielen Verlinkungen, weniger die Klickzahlen. (Und scheiss Facebook gab es damals auch noch nicht, was ich dieser Zeit besonders hoch anrechne.) (Obwohl, Klickzahlen waren auch wichtig. Die Suche nach Anerkennung stand auch Schlange in meinem Herzen. Die Leute standen teilweise bis um die Ecke.)

In der Bibliothek des Design-Instituts war es still und im Hochsommer angenehm kühl. Die wenigen Besucher, die sich überhaupt ins Souterrain des alten Hauptbahnhofs verirrten, waren vom alten Schlag. Sie hielten ein Schwätzchen, wenn sie an meinen Tisch traten und abwarteten, bis ich die Formalitäten erledigt hatte, die nötig waren, um eine Ausleihe (maximal vier Wochen, keine Verlängerung) zu ermöglichen. Die meisten Besucher hatten irgendwann in ihrem Leben mit Design zu tun gehabt, jetzt waren sie in Rente und hatten genug Zeit, um all die Fach-Literatur nachzuholen, die sie immer lesen wollten und für die ihnen früher die Zeit fehlte. Jetzt hatten sie die Zeit, aber es fehlte ihnen an Motivation, weil sie ihr neu angelesenes Wissen nicht mehr anbringen konnten. Und so ging das Gros dazu über, mich lieber vollzuquasseln. Wie das so ist mit alten Menschen, die keine echte Aufgabe mehr haben. Sie entwickeln sich zu Nervensägen.

Es gab aber auch Besucher, die vor meinem Tisch standen und kaum einen Ton redeten, die lieber aus dem Fenster schauten, auf die Gleisanlagen und Fahrgasttreppen des alten Hauptbahnhofs, der seinen Betrieb eingestellt hatte. Ist ja schade, dass die Bahn hier nur noch durchrauscht, hieß es vielleicht im Nachklapp, wenn die Ausleihe beendet war, oder Na, für Mitte September meint es das Wetter aber gut mit uns und solche Sachen, die man sagt, wenn man vom alten Schlag ist und nicht weiß, was man sonst sagen soll.

Und wenn zufällig Mittagszeit war, kam garantiert jemand mit Junger Mann um die Ecke, ich seh gerade, es geht auf halb eins zu, da bringt meine Frau das Essen auf den Tisch, da muss ich mich aber sputen, und dann hörte ich nur noch das Klackern von sich sputenden Absätzen auf Granitfußboden und ich war wieder allein in der kleinen Bibliothek des Instituts, allein mit meinen zehntausend Büchern und Zeitschriften und CD-Roms.

Das heißt, so ganz allein auch wieder nicht. Es gab winzig-kleine Spinnen im Souterrain, UFO-Spinnen, die sich von der Decke seilten und ständig versuchten, mir ihre UFO-Eier ins Haar abzulegen. Es war ein bisschen unheimlich. Wenn ich die Türen öffnete und Durchzug machte, wenn Wind aufkam in den Räumen, regnete es winzige UFOs von oben, und niemand außer mir bemerkte es. Und was mich betraf, ich bemerkte es auch nur, weil ich mit der Zeit Augen dafür bekommen hatte, was hier vor sich ging. Andererseits war meine Wahrnehmung auch ein bisschen eingeäschert, wenn ich drei Stunden am Stück nichts anderes tat, als Bücher in die Computermaske einzugeben. Denn das tat ich ja auch noch, parallel zum Bloggen.

Es gab Tage, da war in der Bibliothek so wenig Publikumsverkehr, dass ich kein einziges Medium auslieh. Das Ganze war ohnehin eine Schnapsidee. Die vielen Bücher und Zeitschriften aus dem Bereich Design und Kunst waren die Schenkung eines emeritierten Design-Professors der Uni Wuppertal. Ein freundlicher alter Knabe, der so ausgiebig Pfeife rauchte, dass an manchen Tagen seine Umrisse nur noch zu erahnen waren in all dem Pfeifenqualm, der ihn umgab. Er spazierte in seiner eigenen Wolke durchs Leben. Er waberte sozusagen vor sich hin. Ich kam gut mit ihm aus. Wir mochten uns. Ich nannte ihn Professor Piepe, er mich Herr Sowieso, weil er sich keine Namen merken konnte.

Solange der Professor an der Uni Design gelehrt hatte, benötigte er zum Ausgleich einen Rückzugsort, an dem er ganz allein, nur mit seinen vielen Büchern, entspannen konnte. Seine Frau, die er liebte, („aber nicht über alles! Über alles liebe ich gar nichts!“), hatte ihm untersagt, diesen Rückzugsort im eigenen Heim einzurichten, nein, sie wollte nicht im Muff der vielen alten Fachbücher hausen müssen. Also mietete der Professor im Jahre 1980 im Wuppertaler Stadtteil Wichlinghausen kurzerhand zwei große Lagerräume an, in denen er dann fast dreißig Jahre lang viele entspannte Nachmittage im Kreise seiner Schätzchen und Lieblinge verbrachte.

Als er 2007 in Pension ging, kündigte er den Mietvertrag und schenkte die Bücher dem neugegründeten Design-Institut in der Nachbarstadt Solingen. Problem: Solingen ist keine Uni-Stadt, hat keine eigene Studentenschaft. Wer zum Henker sollte also all die Medien ausleihen? Wer sollte sich dafür interessieren? Für Design und Philosophie und solchen Kram? Das war die Crux  an der Geschichte, an der ich beteiligt war, wenn auch nur als kleines Rädchen im Getriebe. Ganz unten, im Souterrain.

Als man nämlich Ausschau hielt nach jemanden, der die eigens im Souterrain eingerichtete Bibliothek des Instituts betreuen könnte, war ich zufällig in der Nähe, nahm die Hände aus der Tasche und unterschrieb einen Zwei-Jahres-Vertrag. Zu Beginn fuhr ich jeden Tag nach Wichlinghausen, um Professor Piepe beim Abbau seines Lagers zu helfen, um all die vielen Bücher und Magazine und Regale in Kisten zu verpacken. Ein Umzugsunternehmer brachte alle Bücherkisten und Regale zum alten Solinger Hbf, wo ich dann alles wieder aufbaute und einräumte. Ein einziges Mal noch schaute der alte Professor rein, das war am Tag der Eröffnung der kleinen Design-Bücherei, als Presse und Lokalfernsehen da war und ich zum TV-Moderator sagte, he, Sie kenne ich doch von irgendwoher, und der Mann nur vergrätzt aus der Wäsche schaute und so was ähnliches murmelte wie

ja. Kann sein.

Nun. Das war ungefähr der Stand der Dinge, als im Spätsommer 07 ein Indianer in die Bibliothek spazierte.

Er trug einen langen Zopf, der pechschwarz glänzte. Er war nicht allein. Er hatte eine junge Frau dabei. Eine Deutsche. Sie war schmal und wirkte irgendwie verloren neben ihm, als hätte man sie in einem fremden Leben abgegeben, und nun fand sie nicht mehr zurück.

Als gegen halb sechs die Abendsonne rausgekommen war, sperrte ich rasch die Tür zum Hof auf, wie eine große Einladungskarte für Leute, die sonst keine Bibliothek betraten. Für ein Zufallspublikum, das im Biergarten des benachbarten Restaurants saß und neugierig in die Bibliothek äugte. Es dauerte nicht lange, da hörte ich nebenan Schritte. Stimmen. Geräusche. Leute waren durch die Tür gekommen, doch ich saß im Raum nebenan, da war mein Schreibtisch, da war mein Computer. Jemand schien ein Buch aus dem Regal zu nehmen, etwas ging zu Boden.

„Oh“, hörte ich. „Ohh.“

Ich ging nachschauen. Ein junger Mann mit Zopf hob ein Buch auf, er bückte sich mit dem Rücken zu mir. Daneben eine Frau. Ein Mädchen fast noch.

„Hi“, sagte es.

Ein großes Mädchen und so schmal, dass es im Stehen eine Kurve machte.

„Hallo“, sagte ich.

Mensch, war die dünn. Sie lächelte. Es war viertel vor sechs, nur noch eine Viertelstunde, dann war sowieso Feierabend. Es lohnte kaum noch, sich hier umzuschauen. Andererseits ging die Öffnungszeit laut Aushang bis 18:00. Die Viertelstunde hätte ich gern abgekürzt, ich wollte nach Hause, doch nun, wo endlich Besuch da war, konnte ich nicht einfach zusperren. Viertelstunde noch, teilte ich den beiden jungen Besuchern vorsichtshalber mit, so konnten sie sich die verbleibende Zeit einteilen. Das war nur fair. Ich war eine gut geölte Freundlichkeitsmaschine. Ich hatte einen Zweijahresvertrag unterschrieben.

„Danke“, nickte die junge Frau und nahm ihren Indianer an der Hand, rüber nach Raum 3, wo ein Ensemble zum Lesen und Verweilen einlud: teure Designer-Stühle, deren Rücken aus strammen, silbrigen Seilen geflochten waren. Wie eine Harfe sahen die Stuhlrücken aus, und wenn man sich anlehnte, entsprang den Saiten eine Art Silbermusik.

Zehn Minuten später ging ich nochmal nachsehen nach den beiden. Ich fand sie im letzten Raum, in Raum 4.

„In fünf Minuten ist Feierabend.“

Die beiden Besucher hockten vor einem Stahlregal und lasen in zwei Büchern, jeder in einem, und sie blickten erstaunt auf.

„Klar“, sprach die junge Frau endlich. Der Indianer schaute mich nicht an. Ich wusste gar nicht, was der für Augen hatte. Ich kenne gerne die Augen der Menschen, mit denen ich zu tun habe. Die Augen sind am Ende der einzige Beweis, der etwas taugt.

„Schon gut“, sagte ich. „So war das nicht gemeint, ihr könnt euch ruhig Zeit lassen. Ich wollte nur Bescheid sagen, dass um sechs Uhr geschlossen ist.“

Die junge Frau sagte noch einmal „gut“, es klang ein bisschen genervt. Dann hatte ich das Gefühl, etwas sagen zu müssen, das über mein bisheriges Noch soundsoviel Minuten-Gefasel hinausging.

„Interessiert ihr euch für Design?“

Der Indianer starrte gebannt auf den schwarzen Boden. Zufälligerweise traf sein Blick dabei die gleiche Stelle, von der ich eine Stunde zuvor ein Fitzel Papier aufheben wollte, doch als ich danach greifen wollte, sah ich plötzlich, dass es zwei kleine Flügelchen besaß, das Fitzel Papier, und eine Motte flatterte aufgeregt zur Decke. Der Fährtenleser löste seinen Blick vom Boden und sah mich an.

„Ja natürlich, wir interessieren uns sehr“, sagte die Frau, die ihren Begleiter beobachtet hatte. „Juan studiert Design. Aber er spricht nur spanisch. Habt ihr spanisch-sprachige Bücher?“

In Raum 2 gab es einen Schrank,  in dem die internationalen Ordner untergebracht waren. Sie trugen aufgeklebte Etiketten: USA, Ungarn, UDSSR.

Die Beiden folgten mir.

„Vielleicht hier“, sagte ich.

Und tatsächlich, zwei Ordner trugen ein Etikett: „Spanien“.

„Und was ist mit dem Nicaragua-Ordner hier?“ fragte mich die Frau.

„Nicaragua-Ordner? Wo?“

„Na, da“, sagte sie, mit dem Zeigefinger. „Der da.“

Ich holte den Ordner hervor. Er war rot.

„Kommt er aus Nicaragua?“ fragte ich und blickte rüber zum Indianer.

„Ja“, sagte sie.

Der Indianer lächelte mich an. Ich lächelte zurück. Wir hatten das Wort Nicaragua benutzt. Und da war dieser rote Ordner, auf dem das Wort Nicaragua stand. An prominenter Stelle. Ich hielt seine Heimat in den Händen.

„Er kommt aus dem Hochland“, sagte die Frau.

Als die Beiden kurz nach sechs aufbrachen, reichte er mir die Hand. Ich hatte jetzt einen Indianer zum Freund. Er konnte sich kaum lösen von dem Schrank, in dem etwas von seiner Heimat steckte. Er hatte ungleiche Augen. Ein Auge guckte irgendwie nach links und das andere geradeaus, das war seltsam. Denn er schielte nicht. Ich meinte mich zu erinnern, dass die Gräfin mich einst vor solchen Augen gewarnt hatte. „Dann hast du einen Außerirdischen vor dir.“

Die Frau sagte Aufwiedersehen. Sie ließ in der Eile einen DIN-A-4-Umschlag liegen. Darin waren Fotos und Bewerbungsunterlagen. Ich ging in den Hof, um zu sehen, ob sie noch da waren, ob sie vielleicht im Biergarten saßen, doch sie waren bereits fort. Dann räumte ich die Ordner zurück in den Schrank.

Mir kam dieser magische kleine Moment in den Sinn, als vor Jahren der Bruder vom dicken Hansen, ein begnadeter Percussionist, von einem Aufenthalt am Konservatorium Havanna zurückgekehrt war und mir in einem ähnlichen Schrank seinen kleinen Hausaltar zeigte. Im Haus seiner Großmutter, bei der wieder eingezogen war. Nicht einmal sein Bruder wusste von dem Altar. Niemand wusste davon. Nicht, dass der Bruder vom dicken Hansen sich dafür geschämt hätte. Er fürchtete, der Zauber könne verfliegen, der Altar entweiht werden, sollte ein Ungläubiger von seiner Existenz erfahren und vielleicht so etwas ähnliches darüber denken wie „Schnickschnack“.

Das unterste Fach des Schranks war abgeschlossen. Der junge Hansen öffnete es und gestattete mir Einblick in seine kleine karibische Welt, keine zwanzig Sekunden lang blickte ich in eine flackernde Installation elektrischer Kerzen, die ihr Licht gegen ein mit rotem Glanzpapier ausgekleidetes Schrankfach warfen – ich sah angestrahlte Amulette, Gebets-Zettel, Lametta.

„Fast jeder Kubaner geht zum Voodoopriester“, erzählte der kleine Bruder vom dicken Hansen. Und: Bei Trance-Tänzen sind Trommeln von zentraler Bedeutung, verschiedenen Göttern sind verschiedene Rhythmen zugeordnet. Er war selig.

In dieser Nacht waren wir beide auf Heroin, wir waren verstromt, wir waren voller bräsig-heißer Zuneigung zueinander.

„Ahora es mejor“, sagte er.

Wir haben niemals wieder ein Wort über diese Nacht verloren. Ich hatte auch keinerlei Fragen.

Als ich um zehn nach sechs die Bibliothek abschließen wollte, kam die junge Frau über den Hof gespurtet, sie war außer Atem.

„Ich hab..“

„..den Umschlag vergessen“, sagte ich.

„Ja!“

Ich reichte ihn rüber zu ihr. Draußen im Hof stand der Indianer in der Abendsonne und winkte mir zu. Ich winkte zurück.

Ein Gedanke zu „Engel und Indianer planen sich selbst

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