Führende Kindheitserinnerungen hängen eng mit dem Weltraum und der Tiefsee zusammen. meinen schwarzen Träumen. Und dann war da noch die Schlangenwiese. Schlangen waren mir von klein auf suspekt. Schlangen hatten keine Arme, keine Beine, ja, sie hatten nicht einmal einen Hintern, die feinen Schlangentiere. In der Nachbarschaft an der Hasseldelle gab es eine hohe Wiese, die niemals gemäht wurde und immer höher wurde, wo Nachbarskinder im Sommer eine Schlange gesichtet hatten. Seither hieß die Wiese nur noch „die Schlangenwiese“ und war tabu. Kein Mensch betrat die Wiese mehr, jedenfalls kein Kind, aber Erwachsene liefen eh nicht auf Grundstücken herum und spielten Verstecken. Die Schlangenwiese bestand nur aus Gras. Kein einziger Baum, abschüssiges Gelände. Dann geschah einen Sommer lang gar nichts, und im nächsten Sommer trauten wir Kinder aus der Hasseldelle uns wieder, die Wiese zu betreten. Es waren viele fremde Kinder zu Besuch an diesem Tag, vielleicht fiel das Tabu auch deshalb. Es war Ostern 1965.
..neun, zehn! Ich komme!
Wir spielten Verstecken. Dann hörte ich es, und andere hörten es auch. Keinen Meter von mir entfernt, hörte ich es – ein Zischeln. Es raschelte.
„Eine Schlange!“ schrie Patrizia, die gern fesche Sommerkleidchen trug, auch wenn sie erst 7 war und ständig die Knie aufgeschlagen hatte. Um mich herum war augenblicklich der Teufel los. Alles rannte um sein Leben. An meinen nackten Beinen spürte ich diese Bewegung, etwas kroch auf mir herum, obwohl ich im hohen Gras verschwand. Hohes pieksendes Schlangengras. In kurzen Lederhosen rempelte ich fremde Jungs an. Dann: Am Boden eine hechelnde Bewegung, ein Hinschnappen. Störrische Halme knickten um, beim Wegrennen, Gräser rissen, Schürfwunden. Natterngetrappel. Die große Flucht.
Ich war der erste, der die Straße erreichte.
*
Sie hieß Karina. Ich wusste, wo sie wohnte. Es war nicht weit von daheim, vielleicht hundertfünfzig Schritte. Ich hätte die Schritte zählen können, aber daran dachte ich damals nicht. Vielleicht dauerte es eine Minute von mir bis zu dem Haus, in dem die kleine Karina wohnte.. Waren hundert Schritte eine Minute? Nachmittags spielte ich nicht mehr Fußball, nachmittags saß ich jetzt auf der Mauer gegenüber Karinas Haus und wartete, dass sie am Fenster erschien. Ich war verliebt, und sie wusste nichts davon. Sie war ein bisschen älter als ich, nicht viel älter, ein Jahr vielleicht. Aber wenn die Frau, die man liebt, neun ist, und man selber ist erst acht, dann ist ein Jahr ein Haufen Zeit.
Der Sommer 1969 war unser letzter Sommer an der Hasseldelle, im Herbst zogen wir um zur Schillerstrasse. Ich saß wie auf Zündplättchen, wenn ich vor dem Reihenhaus auf Karina wartete. Filmaufnahmen und Fotos aus dieser Zeit zeigen Straßenschlachten in Berlin und Wasserwerfer, doch davon wusste ich nichts, in meiner Erinnerung ist da nur ein kleines Mädchen mit dunklem Haar und blasser Haut. Sie trägt weiße Strümpfchen und ein weißes Lackmäntelchen mit großer Gürtelschnalle. Immerzu saß ich gegenüber auf der Mauer und blickte zu ihrem Fenster hoch. Ich wartete auf ein Zeichen von ihr, auf eine Bewegung hinter der Gardine. Noch heute seh ich mich dort sitzen, doch sie zeigte sich nie. Sie war ein Engel im weißen Lackmäntelchen, ein ferner Engel. Sie war mein kleines Geheimnis. Ich erzählte niemandem davon. Niemand wusste etwas. Nicht mal Karina. Das Haus lag ruhig da.
Niemals geschah etwas.
Einmal kam ihr Vater von der Arbeit. Er parkte sein Auto, und als er mich sah, blieb er kurz stehen. Er schien zu überlegen, wo er mich hinstecken sollte, ob er mich vielleicht schon mal gesehen hatte, dann ging er schnell weiter, den knirschenden Kiesweg hinauf. Ich war nur ein kleiner Junge, der auf dem Mäuerchen saß und seinen Kleine Jungs-Wünschen nachhing. Er schloss die Haustür auf. Niemand begrüßte ihn. Seine Frau nicht, nicht die Tochter. Nicht mal ein Hund kam angesprungen. Als die Haustür einen Moment offenstand, verrenkte ich mir den Kopf, um etwas sehen zu können, doch es gab nichts zu sehen. Karina und ihre Eltern waren ins Neubaugebiet Hasseldelle gezogen, das man mitten ins Grüne gesetzt hatte: Flachdachbungalows und Reihenhäuser mit Vorgärten, in denen dürre Bäumchen und Sträucher, gerade erst angepflanzt, dem Wind nichts entgegenzusetzen hatten. Der Staub strich um die Häuser, nahm Bauschutt und Splitter mit. Karinas Reihenhaus war das erste in einer Reihe von fünf Häusern, die alle gleich aussahen, wie Bastelarbeiten aus Beton lehnten sie aneinander, während unsere Familie im alten Teil der Hasseldelle wohnte, einer in den Zwanzigerjahren gebauten Siedlung mit weiten Wiesen und Feldern. Damit sollte bald Schluss sein, es sollten große Hochhäuser gebaut werden, deswegen zogen wir weg. Die Mauer, auf der ich die Nachmittage verbrachte, lag geschützt in einer Ecke, und sobald Bewegung ins Haus kam, schnurrte und bubbelte mein kleines Herz, als hätte es jemand angehoben und mit weißer Munition unterfüttert: alles bereit zur Sprengung.
Das Haus lag ruhig da.