Schulschluß

Das letzte halbe Jahr ging ich nicht mehr hin. Ich hatte die Nase voll von der Anstalt. Ich war nicht versetzt worden in die 12. Klasse, eine ganz und gar unnötige Geschichte, wegen einer 6 in Philosophie, einer 5 im Leistungskurs Bio sowie einer 5 in irgendeinem beknackten Nebenfach, Sozialkunde, glaub ich.

Am Ende der Sommerferien versemmelte ich die Nachprüfung, wobei es schon gereicht hätte, in Bio auf 4 minus zu kommen, doch Vogel-Uli, der hagere Bio-Pauker, der mich auf den Tod nicht ausstehen konnte,

(„Glumm, Ihre ausgeprägte Ahnungslosigkeit erstaunt“),

verweigerte mir das Upgrade, obwohl die begleitende Bio-Lehrerin später zu mir meinte, das wäre nicht nötig gewesen.

„Der Mann hätte Ihnen durchaus eine 4 geben können.“

Doch ihre Meinung blieb unmaßgeblich.

*

Das neue Schuljahr war von Anfang an ein Desaster. In der neuen Klasse kam ich nicht zurecht, mir fehlten die bekannten Gesichter, die mich von der Sexta bis zur Obersekunda begleitet hatten, die neue Klasse konnte mit mir nichts anfangen, die Lehrer hassten mich für meine die Atmosphäre verpestende Passivität (Vogel-Uli), kurzum, nichts ging mehr, und ich irgendwann nicht mehr hin.

Meine Eltern erfuhren nichts davon. Morgens weckte mich meine Mutter, wenn auch selten zur ersten Stunde. „Ich muss erst um zehn in die Schule“, behauptete ich frech, packte ein paar Schulsachen ein, nicht zu viele, damit die Tasche nicht zu schwer wurde, und machte mich auf die Socken. Die Zeit vertrödelte ich zum größten Teil in der Stadt. Ich strich durch die Plattenabteilungen der Kaufhäuser, saß in den schlammigen Malteser Gründen hinterm Haus der Jugend.

Punkt elf war ich im Stonns Fuot, einer zweistöckigen winzigen Hardcorekneipe, gleich neben dem Tchibo. Ab und zu trank ich Bier, doch meist hockte ich einfach am Tresen und blickte zur Glastür hinaus. Ich wartete, dass Bekannte und Freunde vorbeikamen, ich plauderte mit James, dem vollbärtigen Wirt, der seine Hardrock-Platten stets nass abspielte und nicht viele Worte machte. Und da auch ich eher schüchtern war, war nicht viel mit Plaudern.

Am liebsten beobachtete ich den dicken Hellmann, der mit seinem fetten Hintern kaum auf den Hocker passte. Hochinteressant auch seine Arschritze, die sich wie eine Murmelbahn den Hosenboden runterschlängelte, wenn er mit dem Kopf auf der Theke eingepennt war und der Hintern den engen Gang verstopfte. An Silvester steckte mein Freund Pepe einmal einen Chinakracher in Hellmanns Schlitz, als der eingepennt war, und es hätte nicht viel gefehlt, und Hellmanns dicker Hintern wäre uns allen um die Ohren geflogen. Aber das war Silvester gewesen. Normalerweise war im Stonns nicht so viel los. Schon gar nicht am Vormittag. Eigentlich wartete ich nur darauf, dass es endlich Mittag wurde, Schulschluss, und ich nach Hause durfte.

*

Sobald ich ein bisschen was zu kiffen hatte, verdrückte ich mich ins Grüne., statt im Stonns abzuhängen. Einmal saß ich auf der großen Wiese, die Bauer Pott gehörte und Potts Wiese hieß. Von Potts Wiese aus hatte man einen grandiosen, fast internationalen Panoramablick über die Wupperberge, bis rüber nach Wuppertal-Cronenberg und Remscheid. Ein warmer Wind strich durchs hohe Gras, Pferde schnaubten in der Nähe. Ich fühlte mich blass in der Sonne und seltsam frei. Ich holte ein Schulheft heraus und begann zu schreiben. „Ringsum entblößen sich die Käfige…” schrieb ich, so begann das Gedicht.

Es war der Tag, an dem ich beschloss, Dichter zu werden. Solingen bietet für junge Dichter ganz ordentliches Anschauungsmaterial. Ein eher düsteres Pflaster, wo die Ortschaften Rüden heißen, Teufelsinsel, Werwolf. Schwarze Pfähle. Der Kölner Alt-Komiker Konrad Adenauer nannte die Stadt einst das Sibirien Deutschlands. Der Menschenschlag ist geheimnisvoll, verschroben und misstrauisch.

Gebell von fernen Höfen empfängt von jeher jeden Fremden, der unangemeldet aufkreuzt, aus gutem Grund: Es könnte stets die Gendarmarie sein. Überall in den verstreuten Tälern des Bergischen Landes hatte sich steckbrieflich gesuchtes Gesindel breit gemacht, das sich in den großen Städten an Rhein und Ruhr nicht mehr blicken lassen konnte, aus welchen Gründen auch immer. Es ist dieses dunkle Erbe, das dem Bergischen Land bis heute zu schaffen macht.

Wer die Region erstmals bereist, ist bald wie verhext vom welligen Zungenschlag der Einheimischen. Nicht umsonst nennt man das Bergische Land auch die Knautschzone des deutschen Dialekts, nirgends sonst werden auf engstem Raum so viele Varianten von Platt gesprochen. Die Landschaft ist verheißungsvoll englisch und brombeerprall, dunkel und gedämpft Die Bushaltestellen der Oberleitungsbusse tragen Namen wie Jammertal und Geilenberg, und gleich die nächste Ausstiegsmöglichkeit heißt:

Hoffnung.

*

Meine Eltern wussten nichts davon, dass ich nicht mehr zur Schule ging. Dass ich schon seit Monaten nicht mehr dagewesen war. Ich war volljährig, ich hatte meine Entschuldigungen eine Zeitlang selbst geschrieben, bis es mir zu lästig wurde. Als der graue Brief vom Gymnasium kam, fielen meine Eltern aus allen Wolken, schlugen hart auf. Warum hast du nie etwas gesagt? Warum bist du so ein Heimlichtuer geworden? Nimmst du Drogen? Was soll werden? Wovon willst du leben? Vielleicht vom Dichten, sagte ich. Vom Schreiben. SCHREIBEN? rief Vater. Er war nicht mal böse, es war nur, er hatte mich nicht verstanden. Vielleicht auch nicht, sagte ich. Vielleicht werde ich auch Trinker. Ich brauche erst mal Ferien. Ich fahre weg. Nach Portugal. An die Algarve. Wo es schön warm ist. Hier ist auch warm, sagte Mutter. Ja, aber nicht schön warm. Du redest Unfug, sagte Mutter. Karlos fährt mit, sagte ich. Und woher nehmt ihr das Geld? Wir haben einen Job, sagte ich, Karlos und ich. Bei Stahl Krebs. 6 Wochen lang aufpassen, dass man nicht versehentlich von den durch die Halle schwingenden Stahlplatten zerquetscht wurde, die von ferngelenkten Hallenrobotern gesteuert wurden. Und das war 1980.

Oder ich hab es nur geträumt.

Als der Ferienjob um war, mussten wir allen Mitarbeiterinnen des Büros versprechen, eine Postkarte von den Orten zu schicken, die Karlos und ich fortan besuchten wollten. Am nächsten Morgen sollte es losgehen. Treffpunkt elf Uhr in den Malteser Gründen. Karlos war schon lange aus der Schule raus und schlief bis mittags. Manchmal kam er den ganzen Tag nicht aus dem Bett und hörte Klaus Kinski-Schallplatten in seiner verqualmten Mansarde. Am Nachmittag tauchte er endlich auf, ohne Rucksack, er hatte ihn nicht gefunden. „Der steht bestimmt beim Schnaat rum.“ Schnaat war der dritte Mann, der uns normalerweise begleitete, wenn es in den Sommerferien Richtung Frankreich ging. Wir blieben sitzen in den Malteser Gründen, zwischen verbeulten Trinkern, und tranken. Eine Palette Karlsquell war die übliche Einheit, 24 Dosen Bier, die billigste Marke.

In diesem Sommer lernten wir eine Menge schräger Figuren kennen, wie den zwei Meter großen Hennes. Ein herzensguter Penner um die Fünfzig, der noch das letzte Stückchen Fleischwurst mit dir teilte. Wenn er voll war, und er war dauernd voll, begann Hennes zu schunkeln und Lieder aus der Heimat zu schmettern. Er stammte von der Mosel, war auf Weinfesten groß geworden. Das mit dem Schunkeln wurde schnell zum Problem, weil er alle Mann mit sich in die Tiefe riss. Mehr als einmal purzelte alles wild durcheinander, Weinflaschen stürzten zu Boden und zerschellten, es gab Tränen und noch mehr Beulen.

Sein Pennplatz war irgendwo hinter Wermelskirchen, kilometerweit entfernt. Oft schaffte er es abends nicht bis zum Unterschlupf, weil kein Bus mehr fuhr und sich niemand erbarmte, ein besoffenes Riesenbaby mitzunehmen, das lallend am Straßenrand stand und den Daumen raushielt. Dann fiel er einfach um und schlief ein, wo auch immer er gerade umgefallen war.

Auch wenn Hennes die Pranken und das Kreuz eines Preisboxers hatte, er war lammfromm. Wenn er von seiner Kindheit erzählte, flennte er wie ein Bengel, der etwas angestellt hatte und nun der Mutter beichtete. Ich konnte nicht genug davon bekommen, ihn anzusehen. Er hatte große treue Hundeaugen und mochte es, die Leute in seine gewaltigen John Wayne-Arme zu schliessen und an sich zu drücken.

(Uff, stöhnte Karlos und duckte sich gekonnt unter ihm weg.)

Einmal zeichnete sich ein frischer Pissfleck auf Hennes‘ Hose ab, groß wie ein halber Basketball. Wisst ihr, warum Männer lauter Unfug machen? krächzte er besoffen. Warum soviel Unglück und Leid in der Welt ist? Weil alle Männer Weltmeister sein wollen! Keiner will Zweiter sein! Jeder ein Weltmeister!

Geschlossen prosteten wir dem Champ zu.

9 Gedanken zu „Schulschluß

  1. Zum Glück hab ich schon in der zehnten rausgefunden, dass man schon morgens früh vor der Schule kiffen muss, damit man in der Oberstufe nicht vor Langeweile flüchtet und mir mit freundlicher Passivität mein Abi ehrlich ersessen wie ein treuer Beamter. Ok, hat mir im Leben nicht viel geholfen und ich hab halt nur wenig interessante Penner kennengelernt. Ganz ohne freilich ist eine Jugend im Bergischen wohl kaum möglich, obwohl die zugezogenen Eltern sich ernsthaft bemühten, solche Kontakte zu verhindern.

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  3. „Unser Hennes“ hieß Hannemann, ein ehemaliger Lehrer.
    Er war ein kluger freundlicher Mann, der uns Jungspunde immer respektvoll behandelte aber leider ein großes Problem mit Alkohol hatte.
    Wir können dankbar sein, in dieser Zeit unsere Jugend verbracht zu haben.
    Heute haben schon Kinder „Termine“. 🤔
    Ihnen hat man die Möglichkeit genommen, Menschen kennenzulernen die nicht der Norm entsprechen.

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    • Denk ich auch manchmal. Aber ehrlich gesagt: diese Art Müßiggang da draußen gibt es schon lange nicht mehr. Es waren meist Weinpenner, sie hatten noch den Weltkrieg erlebt, ihnen war nichts fremd. Sie weinten. Wirklich weinende Menschen in aller Öffentlichkeit.

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      • Tja, so ist das mit den vergangenen Zeiten.
        Ob oder nicht die Schule geschmissen, ich habs durchgezogen, immer durchgemogelt.
        W15er-Uffz, Beamter auf Rat meines Vaters und der war Gold wert.
        20 Jahre verarschen lassen und nach 2 vergeblichen Entziehungskuren und wahrscheinlich
        negativer Sozialprognose in den vorzeitigen Ruhestand versetzt.
        Ich hatte den Spass meines Lebens (gefühlt), ja es war geil.
        Die beamtenrechtliche Hängematte, auf der sich viele Pädagogen ausruhen.
        Bemerkenswert dabei eine starke Persönlichkeit an meiner Seite, die mich akzeptiert und bis heute
        meine treue Seele ist. Ehre die Gräfin, sie ist Dein ruhender Pol.
        Deine Texte sind ein offenes Buch für mich und jeden Nonkonformisten.
        Danke dafür.
        Ich geniesse jeden Tag, der mir noch bleibt. (COPDIII, adipös und biersaufend, Raucher) .
        Das Leben gibt einem viel Spass wenn man ihn sich nimmt.
        Die Rechnung kommt. Kann es ob der politischen Lage gar nicht erwarten, sonst muss ich
        Fenster und Türen zumauern.
        Die 70er und Anfang 80er waren die beste Zeit das Leben zu geniessen.
        Es war ein Traum der nie wieder kommt.
        Frieden hatten wir schon allzulang, der Sensenmann fordert Tribut unter den Nachgeborenen.
        Geschichtsfälscher wollen uns einlullen, Sprechpuppen, die ihre Refugien ausserhalb und die Flugbereitschaft
        im Rücken haben lügen uns die Tasche voll.
        Dystopie macht sich breit und das mit rasender Geschwindigkeit.
        Wir hatten das Glück wohlbehalten durch die Zeit zu kommen, dafür danke ich meinen Eltern.
        Herr Glumm, ich bewundere sie nicht aber fühle mit Ihnen als Zeitgenosse und Ihre Schreibe ist
        grandios, was die damalige Lebensauffassung betrifft.
        Wir haben gelebt, andere nur funktioniert.
        Jetzt kommen die Zicken die der Körper macht. Aber der Tod kann einem das Erlebte nicht nehmen.
        Bleiben Sie uns erhalten und ein Handkuss an die Gräfin, sie erinnert mich an meine Lebensgefährtin.

        Ein Leser

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  4. Pingback: Irgendwo bellte ein Hund VIII | spraakvansmaak

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