Geplant war Ewigkeit (9)

„Tu mal die Witze-Seite rüber“, meinte Vater müde. Wir saßen in seinem kleinen, nicht ungemütlichen Zimmer im Altenheim und teilten uns die dicke Wochenendausgabe der Lokalzeitung. Er rieb sich die Augen. „Ach, nee..- nicht die Witze-Seite, nein“, korrigierte er sich, „ich meine doch die Dings.. die Seite mit den Todesanzeigen.“

Ich lachte auf, doch Vater blieb cool. Vielleicht erschien ihm der Versprecher nicht makaber genug, vielleicht war es aber auch in seinem Alter nicht mehr entscheidend, ob man die Witzeseite oder die Todesanzeigen meint. Ob ein Witz schlecht ist oder der Psalm ein Kracher, macht doch nichts.

Wenig später legte ich Vater ein Papier hin, zum Unterschreiben.

“Was ist das..?”

“Das ist.. also, na.. lies selbst.”

Er kauerte im Sessel und beobachtete mich misstrauisch. Im Hintergrund lief der Fernseher. Als ich gekommen war, hatte ich erstmal sämtliche Stationen per Suchlauf neu programmieren müssen – keine Ahnung, wie er das jedes Mal hinkriegte, dass die Sender verschütt gingen und manuell nicht mehr auffindbar waren, erst recht nicht mit seinen ungelenk gewordenen, verschorften Händen.

„Opa hat die dickste Haut der Welt“, sagte meine Nichte stets bewundernd, die hübsche Tochter meiner Schwester, wenn sie zu Besuch kam.

Seitdem Vater ins Heim umgezogen war, guckte er kaum noch Fernsehen. Vielleicht hätten wir ihm seine bauchige Neunzigerjahre-Kiste lassen sollen statt ihm dieses, wenn auch gemäßigt breite, Breitbildkino hinzustellen. Mit dem digitalen Datenstrom und der dazugehörigen lernfähigen Universal-Fernbedienung tat er sich so schwer, das er nicht mal das ZDF fand, wenn Aktenzeichen XY und Notruf Hafenkante lief, seine Lieblingsprogramme, oder eine farbige Kriegsdokumentation auf Phoenix.

“Die Knöppe sind so klein. Die krieg ich nicht zu packen.”

*

Beim Zappen waren wir bei einer Natur-Dokumentation hängen geblieben. Da er wie immer keine Lust hatte, die Kopfhörer aufzusetzen, verstand er maximal die Hälfte von dem, was der Sprecher erzählte, obwohl ich den Lautstärkepegel schon so laut gestellt hatte, dass die Damen auf dem Flur neugierig wurden und einen Blick ins Zimmer warfen. Gegenstand der Doku war ein See in Afrika, berühmt für seine schillernden Buntbarsche, wie der Sprecher wieder und wieder betonte.

Der geht mir langsam auf den Sack mit seinen schillernden Buntbarschen, sagte ich.

„Wieso drei Millionen Schweine?“ brüllte Vater mich an.

„Wie kommst du auf drei Millionen Schweine!?“

„Na das sagst du doch dauernd da!“

„Nicht drei Millione Schweine, schillernde Buntbarsche.“

„Ach so!“

*

Wenn ich ihn Nachmittags im Altenheim besuchte, machte Vater zunehmend einen leicht verwahrlosten, desorientierten Eindruck. Sein schlohweißes Haar stand ihm dirigentenmäßig wirr vom Kopf, er war seit Tagen unrasiert, der Hosenstall stand offen. Sein ganzes Auftreten war eine Form des Protests. Ein letztes Aufbegehren. Zu viel störte ihn an der neuen Situation im Altenheim, der er sich nur der Not gehorchend unterordnete.

Wenn es nach mir ginge, sagte sein gesamtes Äußeres, ich wäre nicht hier.

Aber es geht ja nicht mehr anders. Es ist zu gefährlich geworden, allein zu Haus zu sein. Wenn man stürzt und niemand ist da, der helfen kann, ich weiß, ich weiß..

Aus seinem Mund klang es wie eine Selbstbeschwörung. Ein hilfloser, letzter Versuch zu akzeptieren, was unumkehrbar war. Und jetzt kam ich auch noch mit einer unangenehmen Sache um die Ecke, die seiner Zustimmung bedurfte. Das Schriftstück lag vor ihm auf dem Tisch. Er nahm die Lupe in die Hand.

“Nee, wat is dat klein”, schimpfte er.

Es waren lediglich ein paar Zeilen, aber sie hatten es in sich. Nach vierundvierzig langen Jahren musste die Wohnung an der Schillerstraße gekündigt werden. Dort, wo ein Großteil unserer Familiengeschichte stattgefunden hatte, wo jedes Möbelstück, jede kleine Zinnvase im Regal so viel gesehen, gehört, geatmet hatte, dass es weh tat, sie in die Entrümpelung zu geben. Mohre, die ihre Schuldigkeit getan hatten, Nichtsnutze plötzlich nur noch. Sachen, die man in den Müll gibt. Weg damit.

„Aber nicht die Fotos. Nicht die Dias“, hatte Vater mich wieder und wieder bearbeitet. Zuletzt sogar bekniet. Dabei wäre das gar nicht nötig gewesen. Weder mein Bruder noch ich hätten auch nur ein einziges Foto weggeschmissen von seinen Zehntausenden Dias, Papierfotos und Negativen.

Auf der Busfahrt zum Altenheim hatte ich mir Gedanken gemacht, wie Vater auf das Kündigungsschreiben reagieren würde. Er lebte schon einige Wochen im Heim, zur Probe sozusagen, hatte die alte Wohnung aber noch behalten. Dabei war eine Rückkehr unmöglich. Die Hausärztin hatte uns zum Schluss die Pistole auf die Brust gesetzt. „Ihr Vater kann nicht mehr allein bleiben, das kann niemand mehr verantworten.“

Tatsächlich hatte mehrfach der Gasherd über Nacht gebrannt, der Heizstrahler im Badezimmer wäre beinahe durchgeglüht. Er gefährdete auch die Mitbewohner im Haus. Es gab kein Zurück, und Vater wusste es. Und dennoch. Ich saß im Bus und hörte ihn beim Anblick des Kndigungsschreibens schon “Das ist mein Todesurteil!” aufschreien, begleitet von einem ungläubigen Blick: “Unterschreibt der Delinquent neuerdings sein eigenes Todesurteil?”

“Wir müssen.. kündigen zum Ende September”, sagte ich jetzt, “daran führt kein Weg vorbei.”

“Ja sicher. Ich kann auf Dauer nicht zwei Mieten zahlen, da kann ich mich ja gleich erschiessen.. lassen. Hast du einen Stift?”

Er legte die Lupe weg und überflog das Schreiben. Stutzig machte ihn allein das Feld links oben, in dem seine aktuelle Adresse eingetragen war.

“Was bedeutet das?”

Er zeigte auf das c/o, das dem Altenheim vorangestellt war.

“Na, das bedeutet.. wo du zur Zeit wohnst.”

“Zur Zeit? Zur Zeit.. ha! Das ist gut. Als würde noch eine andere Zeit kommen. Aber was ist c/o..?”

Während ich überlegte, unterzeichnete er mit zittrigen Händen die Kündigung zum nächsten Quartalsende.

“Nee, wat bin ich alt geworden”, brummelte er und besah sich seinen Otto. „Besüch dich dat.“

“Wieso? Das geht doch noch. Sieht doch gut aus.”

Ich meinte es ernst. Der Schwung seiner Unterschrift hatte mir schon immer gefallen, das Hoch und Runter der Buchstaben, das an die Straßenschluchten amerikanischer Innenstädte erinnerte. Und es gefiel mir immer noch, ohne Abstriche. Auch wenn es jetzt eher die Skizze eines alten Kapitäns war, der beim Dinner in großzügig-schnellen Zügen auf die Serviette warf, wohin die Schiffsreise ging – von hier aus. Eine stolze Reise, mit Wellengang und Windhose.

„Und was ist mit.. c/0?“

Verdammt.

*

Als Junge, erzählte Vater, „hatte ich Schiffskoch werden wollen, auf einem Ozeanriesen wie der Titanic. Das war mein großer Traum als Knirps: die weite Welt sehen.“

„Du und Schiffskoch? Du kannst doch gar nicht kochen. Genausowenig wie ich.“

„Darum ging es doch gar nicht. Ich hatte in einem Abenteuerbuch gelesen, dass man als Schiffskoch in die weite Welt hinaus kommt. Ich wollte auch in die weite Welt.“

Und dann landete er in Kriegsgefangenschaft tatsächlich in der Küche, als Smutje oben in Schottland, noch in amerikanischer Gefangenschaft, bevor er den Engländern überstellt wurde.

„Was hab ich anfangs gestaunt, was die Amis alles wegwarfen. Wenn es Hühnchen gab, bogen sich die Abfalltonnen, so viele nicht mal halb abgenagte Keulen und Bollen waren da drin. Und wir armen Schweine hatten monatelang nur einen Kanten Brot gefressen.“

Anfangs war es ihnen verboten, auch nur ein Fitzelchen Chicken-Fleisch aufzuheben und zu essen, Vergehen wurden streng geahndet. Erst mit der Zeit merkten die Amis, dass viele der deutschen Gefangenen bloß junge Burschen waren, die ihre ganze Kindheit hindurch von Nazi-Propaganda indoktriniert worden waren, und wurden lockerer.

„Zum Schluss durften wir sogar das gleiche essen wie die amerikanischen Offiziere.“

Kurz vor 18 Uhr verliessen Vater und ich das Zimmer im Altenheim, Abendbrot stand an. Auf dem breiten, hell gestalteten Flur trafen wir die beiden alten Damen, die wie immer einträchtig nebeneinander auf der Bank saßen. Die jüngere hielt die Hand der älteren, eher schmächtigen Freundin, die verloren zu gehen drohte in ihrer viel zu großen, porös gewordenen Haut. Sie sah aus, als trüge sie ein gewaltiges Hauszelt mit sich herum.

“Abendbrot, die Damen”, verkündete Vater galant und blieb stehen, auf den Rollator gestützt, den er bloß Alligator nannte oder meine Karre, beziehungsweise ming Kärrken, wenn er auf Platt parlierte.

“Herr Glumm, wir kommen mit”, zwitscherten die beiden Vögelchen im Chor, die Bäckchen noch rosig von der Nachmittagssonne.

Auch der Alte kam pünktlich den Flur runter. Der Alte kam tausend Mal am Tag pünktlich den Flur runter. Er hatte nichts anderes zu tun als tauend Mal am Tag pünktlich den Flur runterzukommen.

Der Alte hatte wie viele Demenzkranke einen unstillbaren Bewegungsdrang und war von früh bis spät unterwegs, ohne einen Ton von sich zu geben. Lediglich der Speichel verliess noch seine Mundwinkel, in langen tröpfelnden Schnüren, die sich auf dem Fußboden verloren. Dadurch war es stellenweise so glatt und schleimig, als wäre heisses Frittenöl verspritzt worden, man musste ständig darauf gefasst sein, auszurutschen.

Der Alte, mein Vater hatte ihn so getauft, war ein kleiner demenzkranker Mann mit zäher Grundausstattung. Die Vorstellung, dass er womöglich weitere zehn Jahre über die Stationsflure drängeln würde, seinen Speichel verströmend, war nicht von der Hand zu weisen.

Auch das Pferd war unterwegs. Das Pferd hatte seinen Spitznamen ebenfalls von Vater verpasst bekommen und trabte entgeistert über den Flur. Kaum hatte er sich zum Abendessen hingesetzt, war ihm ein Unglück unterlaufen. Ein Fanal: Er hatte sich das frisch gestärkte Hemd bekleckert. Er war knallrot vor Ärger.

„Guck mal, ein knallrotes Pferd“, sagte Vater.

Die Damen giffelten.

Das Pferd hatte ein langes Gesicht und war mundfaul. Ein verkrampfter Zeitgenosse, der nirgendwo Punkte sammeln konnte, während der Alte doch ein sympathischer Mensch war, eigentlich. Es war die Demenz, die zeitweilig einen Unsympath aus ihm machte.

Wenn der Alte mich kommen sah, hob er jedes Mal die Hand, als wollte er mich heranzitieren. Einweisen, in seine Richtung. Wie ein Lotse in seinen persönlichen Hangar: Hierhin, komm, Jung! Das erste Mal war ich noch darauf reingefallen. Er hatte mich bei der überraschend trockenen Hand genommen und ich durfte ihn begleiten über die Gänge des Altenheims, seinem letzten haltlosen Parcours.

Bis ich ihn schliesslich entnervt abgab, an eine Couch, die zufällig auftauchte am Ende des Gangs.

Es gab Heimbewohner, die hatten Angst vor dem Alten. Vor seiner Unberechenbarkeit. So wie die ältere der beiden befreundeten Damen. Die jüngere drückte ihr die Hand, worauf ihr die Tränen rollten, aus lauter Rührung.

“Wenn ich den Alten abends auf dem Gang treffe und keiner ist da, der mir helfen kann“, schniefte sie, „also.., was soll ich kleine Maus schon ausrichten gegen ihn..?”

“Ach was, der Alte tut doch nichts”, sagte ich, obwohl ich mir nicht so sicher war, wie ich tat.

Kölnisch Wasser umwehte unsere Nasen.

Wie ein Vöglein hockte die schmächtige alte Frau da, aus dem Nest geplumpst, ohne Heimat, ohne Sicherheit. Aber mit Freundin. Immerhin. Und die Freundin lächelte meinen Vater und mich an.

“Die hat soooo ein kleines Herz”, deutete sie zwischen Daumen und Zeigefinger an, wie winzig das Organ ihrer Freundin war: Ein Herzchen nur, ein Fliegenschiss. Ich musste lachen.

“Ach, keine Angst, der Alte tut nichts, der läuft doch nur hier rum”, sagte ich aufmunternd und es klang ein bisschen, als spräche ich von der alten zuckerkranken Stationskatze. Endlich zog Vater mich weiter, Richtung Essensraum.

“Ich han Schmeit”, sagte er auf Platt.

Ich faltete das Kündigungsschreiben zusammen und steckte es in die Brusttasche meines Hemdes. Zu Hause würde ich das Kündigungsschreiben noch mal hervorholen, um dem krickligen Namenszug meines Vaters einen stützenden kleinen Kuss zu verpassen, eine letzte kleine Hilfestellung.

Ehrensache.

3 Gedanken zu „Geplant war Ewigkeit (9)

  1. Es ist wunderbar! Schreib doch (k)einen Roman! Nee, im Ernst. Du hast doch ne Grafikerin, die Dir zur jeder Geschichte ne Illustration macht. Fertig ist ein Buch voller Kurzgeschichten. Schmidt verdient Millionen mit sowas.

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