30 Jahre Solinger Brandanschlag: „Unser Türkenhaus brennt“

Tagebuch Brandanschlag 

29. Mai 1993, Pfingstsamstag

Früh um acht, auf dem Heimweg vom Nachtdienst, die Luft steht schwül und teigig in den Straßen. Ich bin hundemüde. Als ich im Bett liege, finde ich keinen Schlaf. Ich starre zur Zimmerdecke, werfe mich von links nach rechts. Niete wird unruhig und verschwindet in Sannes Zimmer. Irgendwann sind wir alle wach und können nicht mehr einschlafen. Der Nachtdienst zwingt jeden unter seine Knute, und der Nachtdienst in Union mit hoher Luftfeuchtigkeit setzt noch einen drauf. Jede Stunde muss ich aufstehen und pinkeln.  Dabei sehne ich mich lediglich nach Schlaf. Die Gräfin schaut zwischendurch rein, bringt ein Guten Morgen-Küsschen.

Mittags klopft es ans Fenster. So klopft nur mein Bruder, so laut und fordernd und auch nur, wenn es wichtig ist. Er klopft mit den Fingerknöcheln gegen die Scheibe, dann nimmt er den Autoschlüssel. Das wiederum könnte auch für den dicken Hansen sprechen, oder für Benzini. Doch ich spüre meinen Bruder im Vorgarten, seine Anwesenheit, da brauche ich gar nicht aufzustehen und durch die Lamellen der Jalousie zu spinksen.

„He, Bruder..!“ höre ich seine Stimme. „Aufmachen!“

Seine Augen sind zusammengezogen, wie graue kleine Auswurfschlitze für schlechte Nachrichten. Ich wundere mich, dass die Gräfin ihm nicht  die Tür geöffnet hat. Wahrscheinlich ist sie Einkaufen. Es ist Pfingstsamstag. Ein langes Wochenende wartet, und ich hab noch zwei Nachtdienste vor mir. Dann eine Woche frei.

„Mach die Tür auf! Am Bärenloch hat es heut Nacht gebrannt“, höre ich meinen Bruder, jetzt fast schon wütend. „Es gibt vier oder fünf Tote… alles Türken.“

„Was..? Was ist los?“ Ich reiße das Fenster auf. Die Mittagssonne beißt in den Augen. Ich verstehe nicht. „Was für Türken..?“

„Schalt das Radio ein. Alles ist in Bewegung, die ganze Stadt vibriert. Los, mach hin. Die haben am Bärenloch ein Haus niedergebrannt.“

Die Nazis…? denke ich noch, während ich mich anziehe und dabei fühle, als zögen wir in den Krieg. Mein Bruder erzählt, was er im Radio gehört hat. Viel ist es nicht. Ein Brandanschlag auf ein von Türken bewohntes Haus am Rande des Bärenlochs, dem weitläufigen Gelände am Stöckerberg, keine zwei Kilometer von uns entfernt. Da, wo mein Vater und seine fünf Geschwister aufgewachsen sind.  Brandstiftung. Schwerverletzte, fünf Tote. Fünf Tote! IN SOLINGEN. Beim Zubinden der Schuhe fällt der Groschen. Es war mitten in der Nacht, als ich im Turmhotel vorm Fernseher saß und aufschreckte, weil plötzlich jede Menge Sirenen vom Erdgeschoß zu hören waren – ein endlos moderner Mahlstrom aus Polizeifahrzeugen, Feuerwehr- und Notarztwagen.

„Da war plötzlich richtig Alarm in der Stadt, so gegen zwei oder drei.“

Nun ist Daueralarm in schwülen Frühsommernächten, zumal bei Vollmond und an langen Wochenenden, nichts Besonderes, Feuerwehr und Notarzt sind im Dauereinsatz. Die Leute feiern, sind betrunken, zertrümmern sich gegenseitig die Nase oder kippen von ganz alleine um, weil der Kreislauf schlappmacht. Also habe ich mir erstmal nichts dabei gedacht und bin sitzen geblieben im Chefsessel, hab die Fernbedienung des Kabelfernsehers gesucht und ferngesehen, Lieutenant Theo Kojak: “Entzückend, Baby..!”

Ich hatte ja keine Ahnung.

Im Coppelpark laufen uns die Gräfin und Nachbarin Daisy in die Arme, beide bepackt mit vollen Tragetaschen.

„Schau an, die Herrschaften“, stöhnt die Gräfin genervt, „könnt ihr gleich mal anfassen und…“

„Am Bärenloch hat ein Haus gebrannt“, unterbreche ich sie und nehme ihr einen Teil der Einkäufe ab, „es hat fünf Tote gegeben.“

„Was!?“

„Ja, fünf Türken“, sagt mein Bruder, fast schon missmutig.

„Wir haben auch was gehört, oben im Laden, aber da war nur von Brandstiftung die Rede“, meint Daisy und wird blass, „nichts von Toten.“

„Das waren die Neonazis“, ist die Gräfin sich sicher. Wir bringen die Einkäufe rein und machen uns auf die Socken Richtung Nordstadt.

„Ausgerechnet am Bärenloch“, sagt mein Bruder. Hier ist Vater aufgewachsen, und wir Kinder sind mit seinen Erzählungen der Landschaft groß geworden, einer Wildnis voller Brombeerbüschen und Baumbuden, die sich bis runter zur Wupper streckte und lange Zeit als wilde Kippe missbraucht wurde. Aber für unsere Kinderohren klang es wie das Reservat von Tom Saywer und Huckleberry Finn, wenn Vater erzählte. Es hatte diesen fernen dunklen Zauber, die Wupper war gefährlich wie der Mississippi. Und immer war ein Hund namens Struppi dabei. Struppi gab es laut Vaters Erzählungen schon, als er 1930 noch im Kinderwagen lag, und Struppi gab es, als der Krieg vorüber war und die Familie sich wieder sammelte. Der muss ja uralt geworden sein, der Struppi sagte ich zu Vater. Der dachte kurz nach, und winkte ab.

„Struppi war immer dabei, egal was wir taten. Und wenn er keine Lust mehr hatte, ging er einfach nach Hause. Aber alt geworden… nein, glaub ich nicht. Ich glaube, es gab mehrere Struppis, die sich ablösten. Wenn einer gestorben war, kam ein neuer. Für uns Kinder fühlte es sich wie ein einziger ewiger Struppi.

Vaters Kindheit trug schon früh die Armbinde der Hitlerjugend. Er war noch klein gewesen, als die Nazis die Macht ergriffen, doch der beginnende 2. Weltkrieg lugte schon um die Ecke. Dennoch war das Bärenloch für uns Kinder stets gleichbedeutend mit Romantik, nicht mit Fremdenhass und brennenden Fachwerkhäusern. Wir ziehen die steile Schlachthofstraße hinauf. Ein großes düsteres Gemurmel liegt über der Nordstadt, das je lauter und bedrohlicher anschwillt, je näher wir dem Bärenloch kommen. Leute begegnen uns, die von einer ersten spontanen Demonstration aufgebrachter Türken am Schlagbaum berichten, und einer Sitzblockade. Wir sind träge und verschwitzt. Die Sonne drückt. Jeder ist mit sich selbst beschäftigt. Fünf tote Menschen, mitten unter uns, und die Anschläge von Mölln und Rostock liegen nicht weit zurück.

„Die Nordstadt ist fest in türkischer Hand“, sagt mein Bruder, „Wenn das wirklich Brandstiftung war und die Täter Neonazis, dann geht hier morgen die Post ab. Das ist ein Wespennest.“

„Stimmt“, meint auch die Gräfin. „Am Schlagbaum wohnt ein Haufen Grauer Wölfe. Die lauern nur auf eine Gelegenheit, es den Deutschen zu geben. Den Deutschen, und den linken Türken. Jede Wette, die Wölfe sitzen schon im Hinterzimmer der Moscheen und basteln Mollis.“

Sie war eine Weile mit einem in Deutschland geborenen Aleviten zusammen, der Probleme mit den Grauen Wölfen hatte. Sie kennt sich aus in einer Szene, die Deutschen normalerweise verschlossen bleibt. Wo die Türken, auch im Ausland, lieber unter sich bleiben und streiten, seit Jahrhunderten.

(Schlechte Erinnerungen sind wie Hämorrhoiden. Sie blühen im Verborgenen, drücken schwer und sind unnütz.)

„Für die Grauen Wölfe sind tote Türken in Solingen ein gefundenes Fressen. Da können sie den Deutschen endlich aufs Maul hauen. Das sind Faschos. Die hassen Deutschland, die hassen unsere ganze Demokratie. Die sind nur hier, weil sie in der Türkei gesucht werden. Weil sie hier das Maul aufreißen dürfen, ohne gleich in den Knast zu müssen.“

„Das sind doch nicht alles Graue Wölfe“, wendet Daisy ein, bleich und außer Puste. Sie wohnt in unserer Nachbarschaft.

„Natürlich nicht. Aber die Wölfe heizen die Stimmung an, wie überall auf der Welt. Und wenn es irgendwann knallt, dann richtig.“

Am Schlagbaum biegen wir in die Kuller Straße ein, von da aus ist es nicht weit bis zum Bärenloch, das mittlerweile ein großzügig angelegter Park ist. Von überallher strömen Menschen zum Tatort, Hubschrauber knattern heran. Das abgefackelte rußige Fachwerkhaus taucht unvermittelt auf, an der Unteren Wernerstraße. Wie ein Gespenst reckt sich die Ruine in den Himmel, inmitten benachbarter Häuser, die nichts abbekommen haben und so intakt und adrett dastehen, als könnten sie selbst nicht glauben, was in ihrer Mitte geschehen ist. In ihrer Mitte, in unserem Namen. Die Sicht auf die Ruine wird von aberhundert Menschen versperrt, nur der Dachstuhl ist aus jeder Position gut zu erkennen, ein Gerippe aus verkohlten Balken. In den oberen Fensterkreuzen wehen Blumensträuße, darüber eine rote Flagge, der türkische Halbmond. Es stinkt verbrannt. Ein Geruch, der mich an die Kindheit erinnert, wenn nach einem langen Sommer die Kohleöfen in Gang gebracht wurden und schwarzer Rauch aus den Schornsteinen stieg. Überall bekannte Gesichter. Man nickt sich betreten zu. Ausgerechnet Solingen, wa? Ausgerechnet Solingen. Ja. Nicht zu fassen.

Dieses Nest.

Ekki, mein immer cooler Ex-Trainer vom RSV, kommt auf mich zu und umarmt mich, ohne ein Wort zu sagen. Er hat Tränen in den Augen. Das macht mich fassungslos. Ich fühle mich merkwürdig hartherzig, weil ich keine Tränen habe für die Menschen, die den Anschlag nicht überlebt haben. Oder schlimmer noch: die den Anschlag mit schweren Verletzungen überlebt haben. Doch wie soll ich weinen, wenn ich nicht verstehe, was los ist. Ein Bundesgrenzschutz-Hubschrauber donnert so niedrig über die Minute für Minute anwachsende Schar Menschen hinweg, die sich unwillkürlich wegducken und dabei so klein wie möglich machen, bis der Helikopter endlich abdreht und überm weitläufigen Bärenloch zur Landung ansetzt.

„Da sitzt der Seiters drin!“ ruft jemand gereizt. Es klingt fast, als käme der Teufel persönlich, um nachzuschauen, ob die bestellte Arbeit abgeliefert wurde.

Von irgendwoher im Hintergrund ertönt ein weibliches Wehklagen, eine vereinzelte arabische Stimme, eine Litanei, die sich nicht lokalisieren lässt. Ich bin von oben bis unten in Gänsehaut. Wir drängeln uns durch bis zum Haus, das vor wenigen Stunden abgebrannt ist kommen endlich zum Stehen vor einer Absperrung. Niemand sagt etwas. Ab sofort wird dieses Stück Erde geweiht sein, prophezeie ich der Gräfin und meinem Bruder. Das wird ein Wallfahrtsort. Auf dem Grundstück sind Wäscheleinen gespannt, an denen noch Kleider und Kinderunterhosen hängen, weiße Hemden, ein Stofftier, ein Strampelanzug. Jemand hat ein Hakenkreuz in den Sand gezogen, mit den Schuhen. Es ist spiegelverkehrt. Die Toten sind zwei kleine Kinder und drei Frauen einer türkischen Großfamilie. Die Feuerwehr sei zu spät eingetroffen, hört man, und habe wegen der vielen parkenden Autos an der Unteren Wernerstraße Schwierigkeiten gehabt, die Drehleiter auszufahren. So sei wertvolle Zeit verstrichen. Ein Kleinkind soll aus dem zweiten Stock aufs Pflaster geknallt sein, weil es das Sprungtuch verfehlt habe. Es heißt, die junge Mutter habe oben im brennenden Fenster gestanden und das Kind in Panik fallen gelassen. Ein weiterer junger Türke liegt angeblich im Koma, die Haut zu zwei Dritteln verbrannt.

Die Gräfin macht mich auf beschriftete Einmachgläser aufmerksam, neben dem von rot-weißen Absperrbändern gesicherten Hauseingang. Die Gläser stehen auf einem kleinen Betonsockel. Teppich-Probe Eingangsbereich, entziffert sie eins der Etiketten. Probe Fußmatte. Labor.

„Das Haus hat gebrannt wie eine Fackel“, spricht ein Anwohner in ein orangefarbenes ZDF-Mikrofon. Er ist umringt von Presseleuten mit Notizbüchern und Diktiergeräten. „Die Schreie haben mich geweckt. Wann das war? Das war gegen… na, halb zwei. Eine Frau hat ein kleines Kind im Arm gehalten und stand im brennenden Fenster… ja… ein kleines Kind. Dann ist sie gesprungen. Da vorn schlug sie auf, auf dem Beton. Ja,. da vorn.“ „..ja.. da war die Feuerwehr schon da, aber die haben.. nein, so schnell nicht..“ „.. so schnell konnten sie das Sprungtuch nicht aufspannen…“

Innenminister Seiters taucht auf, mit Gefolge. Er wird mit schrillem Pfeifkonzert und Buhrufen empfangen. „Who the fuck is Seiters?“ spottet mein Bruder. „Kohl müsste hier sein. Aber der taucht ja ab, wenn’s brenzlig wird.“ Als die Pfiffe abgeklungen sind, stellt sich der Minister der Presse. Er spricht von einer Schande für Deutschland und der ganzen Härte des Gesetzes, die die Täter zu spüren bekommen würden. Tatsächlich sind in der Nacht Skinheads beobachtet worden. Mal sind es drei, mal nur einer, mal gleich ein ganzer Clan. Doch wie viele es auch immer es waren, in jeder Version, in jeder Zeugenaussage flüchten die Täter Hals über Kopf in Richtung Bärenloch, sobald das Feuer ausgebrochen ist. Als wären sie selbst überrascht gewesen, wie lichterloh so ein Haus brennt, wenn man es anzündet.

Die Rede ist von vier stadtteilbekannten Skins. Einer soll gerade mal sechzehn sein und hier auf der Unteren Wernerstrasse wohnen.

„Vier Skinheads? So viele Skinheads gibt’s hier doch gar nicht“, sag ich.

„Was…? In ganz Solingen keine vier Skinheads?“ zieht mein Bruder die Augenbrauen hoch. „Hast du das Zählen verlernt?“

„Quatsch. Ich mein nur, hier gibt’s keine echte rechte Szene.“

„Aha… Nur weil man kaum Kids in Springerstiefeln durch die Gegend rennen sieht, SS-Runen auf den rasierten Schädel?!“

Immer mehr Auswärtige fluten das Areal rund ums Bärenloch, hauptsächlich Türken und andere Südländer, zornige junge Männer, die sich aufpumpen, als würden sie eine Arena betreten. Ihre Arena. Sie kommen von überall her, die Autokennzeichen verraten es. Bochum, Duisburg, Dortmund. Der ganze Westen ist vertreten. Aufruhr liegt in der Luft.

„Ich krieg es mit der Angst“, meint die Gräfin. „Die Jungs haben in der Höhle des Löwen gezündelt. Die können froh sein, wenn sie mit dem Leben davonkommen. Die werden gelyncht, wenn die Türken sie in die Finger kriegen.“ Sie will nach Hause. Sie mag keine Gewalt, erst recht keine, die in der Luft liegt und der man noch entrinnen kann. Daisy und die Gräfin nehmen ein Taxi, während mein Bruder und ich am Bärenloch bleiben. „Passt auf euch auf.“ Die Sorge ist nicht unberechtigt.

Noch am Abend knallt es zum ersten Mal. Ich gerate in eine Situation, wo mich ein aus dem Nichts heranfliegender Stein nur um Haaresbreite verfehlt. Als ich mich umdrehe, im Laufen, beobachte ich einen Heckenschützen im dunklen Hauseingang, der mit einer Zwille auf mich zielt. Ich weiß bis heute nicht, was das sollte. Wieso ich das Ziel sein sollte. Doch eins liegt bereits auf der Hand, wo der Anschlag gerade mal zwölf Stunden alt ist: Solingen ist kein Kaff wie das niedersächsische Mölln, wo Neonazis ebenfalls ein von Türken bewohntes Haus ansteckten. Solingen ist auch nicht Rostock-Lichtenhagen, wo vietnamesische Asylbewerber auf der Flucht vor dem Mob fast gesteinigt wurden, wo es ansonsten aber so gut wie keine Ausländer gibt, die nach Vergeltung und Rache dürsten. Solingen und Umgebung hat ein komplett anderes Bewusstsein. Zusammen mit dem angrenzenden Ruhrgebiet und dem Köln-Düsseldorfer Raum ist die Stadt ein Schmelztiegel mit Tausenden von Türken, die einen Mordanschlag auf ihre Landsleute nicht einfach hinnehmen. Die Gerechtigkeit fordern, die Rache schwören, die Steine aus dem Pflaster buddeln und offen die Lynchjustiz fordern. Kaum ist der Gedanke da, beginnt an der sechsspurigen Verkehrskreuzung am Schlagbaum die erste Sitzblockade. Erst sind es bloß ein paar versprengte Gestalten, die der beißenden Hitze trotzen und sich auf dem glühenden Asphalt niederlassen, schnell Hunderte. Autoreifen rollen wie aus dem Nichts heran, werden übereinander getürmt und angezündet, Matratzen aus dem nahen Bettenmarkt in Brand gesteckt. Der Schlagbaum lodert am helllichten Tag. Es ist ein hasserfülltes und nach Gummi stinkendes, mächtiges Spektakel, ein weithin sichtbares Feuer. Zwei Spuren Richtung Innenstadt werden von Demonstranten auf eigene Faust abgesperrt. Richtung Südstadt geht gar nichts mehr. Polizei lässt sich nicht blicken, nicht ein einziger Streifenwagen ist zu sehen. Die wenigen Autos, die nicht in der Schlange stehen und abwarten, kurven vorsichtig um die Blockierer herum, in Schrittgeschwindigkeit. Niemand murrt, es gibt kein Gehupe, ziviler Gehorsam überall, schon im eigenen Interesse. Alle ahnen, dass nur ein einziger winziger Funke fehlt, und die nächste Katastrophe nimmt ihren Lauf.

Am späten Nachmittag, (ein bisschen Polizei ist dann doch aufmarschiert), beruhigt sich die Lage, und die Lokalpresse lässt an verschiedenen Punkten der Innenstadt kostenlos ein Extra-Blatt verteilen:

MIT KIND IM ARM  IN DEN TOD GESTÜRZT

Ein spontaner Trauermarsch bewegt sich zum Bärenloch, flankiert von Kolonnen türkischer Taxifahrer aus Duisburg und Bochum, die stolz und aufsässig zugleich Einzug gehalten haben. Zum Schluss sind es über zehntausend Bürger, die schweigend Richtung Tatort marschieren. Noch nie habe ich in den Straßen der Stadt auch nur annähernd so viele Menschen gesehen. Es ist, als habe erst die Tat dafür gesorgt, dass eine Stadt plötzlich ihre Stimme findet. Auch wenn es vermutlich nur der Schock ist, der die Leute auf die Straße treibt, die pure Ohnmacht. Immerhin, die Stadt zeigt Gesicht.

Sprechchöre flammen auf in türkischer Sprache, ebben ab, fluten wieder an, wütend, scheitern. Niemand weiß, wohin mit seinem Zorn und seiner Trauer. Ein bisschen die Straße rauf und runter spazieren, soll es das gewesen sein? Die Atmosphäre ist seltsam heiß und morbide, und hat doch etwas Zartes. Dass es ausgerechnet am Bärenloch passiert ist, wo mein Vater in den 30er Jahren aufwuchs, zu einer Zeit, als das Bärenloch ginster- und brombeerüberwucherte Wildnis und große Freiheit war, macht sowohl mich als auch meinen Bruder ratlos. Wir können es nicht einordnen. Das Bärenloch ist von den unzähligen Geschichten unseres Vaters geprägt, es ist das verlorene Paradies seiner Kindheit, und damit auch unseres, auf immer und ewig. Und jetzt das hier.

*

 30. Mai ’93, Pfingstsonntag

Der Generalbundesanwalt erlässt am Nachmittag Haftbefehl gegen einen 16jährigen Hauptschüler aus Solingen. Nach drei weiteren Komplizen wird gesucht. Sie haben Freitagnacht  aus Frust gezündelt, so heißt es, weil sie zuvor auf einer Party, die in einem Schrebergarten stattfand, Hausverbot erhalten hatten. Unter den Tätern ist ein Arztsohn, dessen Vater ich zufällig kenne. Wir haben 1980 gemeinsam Fußball gespielt in der Auswahl des Städtischen Klinikums, wo ich Zivildienst machte. Ein Liberaler, ein Linker, der sich für Ärzte gegen den Atomkrieg engagierte und auf dem Sportplatz vor Einsatzfreude nur so sprühte, der immer gute Laune hatte. Wieso fackelt sein 15jähriger Sohn das Haus einer türkischen Familie ab, als wäre es lästiger Abfall? Und was kann er als Vater dafür? Wieso erwähne ich überhaupt, dass der Sohn Arztsohn ist?

Am Abend beginnt für mich die letzte von sieben Nachtdiensten. Das Hotel ist komplett ausgebucht. Pausenlos klingelt das Telefon, Leute aus aller Welt fragen an, ob Zimmer frei sind. Mein Chef macht das Geschäft der Saison. Die Preise ziehen an. „

„Sagen Sie, Herr Glumm, können Sie noch eine Besenkammer von zu Hause mitbringen?“ strahlt der Chef. „Oder ein Schuhschränkchen, das können wir dann auch noch als Zimmer verkaufen, für einen Tausender die Nacht.“ Hat der gute Laune. Kein Wunder, alle wichtigen Fernsehsender haben Reporter und Kamerateams vor Ort, selbst aus Frankreich und England reisen Medienleute an, Radioleute aus Russland übernachten im Auto. Auch der Los Angeles Post muss der Chef per Telefon absagen: Sorry, sorry! We’re so sorry, no room, Sir, no! No Room!! NO! Absurde Situationen an der Rezeption. Der Nachrichtensender n-tv wiederholt just in dem Moment seine Schalte zum Bärenloch, als derselbe Reporter, der angeblich gerade LIVE vor der Brandruine zu sehen ist, vor der Rezeption auftaucht und lauthals seinen Zimmerschlüssel verlangt. Als gleichzeitig seine Stimme aus den Fernsehapparaten im Hotel plärrt, so sonor, so souverän, so verdammt LIVE, muss ich lauthals auflachen, es platzt regelrecht aus mir heraus, so absurd ist das ganze, doch der Anchorman aus der zweiten Reihe verzieht nicht mal die Miene, als er an den Tresen tritt. Bis spät in die Nacht läuten Telefone, laufen Fax-Nachrichten ein, hocken Techniker des WDR im Frühstücksraum und nehmen ein letztes und ein allerletztes Bier. Der Tresen ist zugeparkt mit Journalisten, die in die Redaktionen telefonieren. Die ganze Welt will wissen, warum Neonazis ausgerechnet in Solingen zugeschlagen haben, einem kreuzbraven Nest.

Französische Brocken gehen per Telefon in die Heimatsredaktionen: „Tempête de feu!“

GRAND ANSCHLAG !

Eine wichtigtuerische ZDF-Fresse, die ich aus den Nachrichten kenne, schleppt einen ganzen Hofstaat mit sich herum. Einer fragt mich, ob ich Kontakt zu Neonazis herstellen könne, für ein Interview. Ob sich da auf die Schnelle was klarmachen ließe. Ich zuck nur mit den Schultern. Du hochgeföhnter Penner. Neben der zahlenmäßig überproportional auftretenden ZDF-Truppe rattert ein Journalist der Süddeutschen routiniert seinen Text per Telefon durch:

In der Feuerwehrleitstelle laufen in der Brandnacht 37 Anrufe von Anwohner ein.  Einer davon, Originalton, „Unser Türkenhaus brennt!“

Nur allmählich kehrt Ruhe ein im Hotel. Ich setze mich hinten ins Büro, will eine Kippe rauchen, etwas relaxen, da läutet das Telefon. Diesmal ist es für mich, die Gräfin. Sie ist für zwei, drei Tage nach Soest geflüchtet, wo ihre Lieblings-Oma im Krankenhaus lieg. Es ist das Herz. Sie liegt im Sterben.

„Oma Soest schläft viel“, erzählt die Gräfin mit leiser Stimme, und wie immer, wenn die Gräfin weg ist, und sei es nur für wenige Tage, bin ich froh, ihre Stimme zu hören. Ihre Stimme ist mein Abklingbecken. „Wenn Oma Soest wach wird, ist sie ganz verwirrt. Sie zupft an der Bettdecke wie ein kleines Mädchen und summt Hope hoppe Reiter, wenn er fällt, dann schreit er.“ Ich muss lachen. Bin froh, mal was anderes zu hören.

„Ist eigentlich nicht zum Lachen“, meint die Gräfin, und lacht leise. „Als ich heute an ihrem Bett gesessen hab, sagt Oma Soest plötzlich, leg dich doch zu mir. Ist doch genug Platz im Bett.“ Und? Hast du dich dazugelegt?“

„Natürlich.“

„Wann kommst du zurück?“

„Wenn es vorbei ist, mit Oma.. Im Moment muss man ja nicht daheim sein, um mitzukriegen, was sich abspielt in der Stadt. Läuft ja alles im Fernsehen. Pass auf dich auf.“

Sie erkundigt sich noch, ob ich mir nicht langsam mal ein Hobby zulegen könnte, wie andere Männer auch, „Fußballbildchen einkleben oder so“, damit sie sich nicht immer sorgen müsse. Wir verabschieden uns mit Küssen, die immer kleiner werden und herunterdimmen, das dauert. Später sitz ich im Chefsessel vorm Fernseher und schau mir wie jede Nacht eine alte Folge von Kojak an, Einsatz in Manhattan, „entzückend!“, aber ich kann mich nicht konzentrieren. Eher beiläufig nehme ich ein Rumpeln wahr. Ein Geräusch, als würden Müll-Container übers Kopfsteinpflaster geschoben, unten in der Fußgängerzone. Erst denke ich mir nichts dabei, die Geräusche der Stadt kommen in fünfzig Metern Höhe häufig verzerrt an, bis mir aufgeht, es ist mitten in der Nacht – also, was ist das für eine Randale?

Ich wechsle in den Frühstücksraum, zu den riesigen Panoramafenstern, die einen grandiosen Ausblick übers Bergische Land bieten, und kann dabei zusehen, wie elf Stockwerke unter mir, im phosphorgelben Licht der Laternen, eine aufgeputschte Menge in einer breiten Schneise über den Graf-Wilhelm-Platz spurtet, als zöge jemand in Sekundenschnelle ein Schleppnetz aus Menschen über den großen kahlen Platz. Pflastersteine werden geschleudert, Schaufenster angesprungen, parkende Autos umgestoßen. Ich sehe, wie eine Telefonzelle und Plexiglasverkleidungen einer Bushaltestelle mit Baseballschlägern zertrümmert werden. Bis in den elften Stock ist das Geklirre von Schaufensterscheiben zu hören, zum Teufel… das ist..

Revolution!! ANARCHY IN SG!

Vom Tumult überrumpelt, der sich unter mir in der Stadt abspielt, strecke ich die Faust zur Decke, feure in die Nacht hinaus: „JUNGS! JAAA..!!“

Keine halbe Minute später brettern Dutzende von Streifenwagen und Wannen heran, die Hauptwache Goerdeler Straße ist keine dreihundert Meter entfernt. Blitzartig teilt sich die schwarzgekleidete Menge in kleine Grüppchen, stiebt auseinander. Einige Autonome flüchten mit wehenden roten Fahnen in Richtung Eingang Turm-Hotel.

Da ist Sackgasse, Jungs, da kommt ihr nicht weiter – da ist Schluss, verdammt! rufe ich von meinem Aussichtspunkt im 11. Stockwerk. Ich eile zur Rezeption, sehe im Monitor, wie die Burschen, viele mit PLO-Tüchern und Motorradhelmen vermummt, vor die verschlossene Eingangstür laufen und nicht weiterwissen, während die Polizei ihnen schon den Rückweg abschneidet. Ich zögere einen Moment, öffne per Summer die Eingangstür im Erdgeschoss, und die Gruppe, es sind nicht mehr als fünf oder sechs Personen, verschwindet hastig im Treppenhaus. Wenn sie clever sind und sich ein bisschen vor Ort auskennen, können sie übers Parkdeck Rot das Weite suchen, hinten zur Tankstelle raus. Einheiten der Polizei, die nicht wissen, wo ihnen der Kopf steht, lassen die Brüder flüchten und machen kehrt, mit kreiselndem Blaulicht und Martinshorn, zurück zur Wache.  

*

31. Mai ’93, Pfingstmontag

Sieben Uhr morgens. Als die Chefin zur Frühschicht einmarschiert, um mich abzulösen, stapft sie zum Kühlschrank und entnimmt eine eisgekühlte Cola. Setzt die Flasche an und trinkt sie in einem Zug leer. Dann stöhnt sie wie eine dicke Concierge im Pariser Hochsommer.

„O la la, ist das schwül da draußen, Herr Glumm, ich schwitze jetzt schon wie ein Schwein, puh…! Haben Sie schon gesehen, was die Chaoten da draußen angerichtet haben, heut Nacht?! Die ganze schöne Innenstadt liegt in Trümmern.“

Hm? Die ganze schöne… was? Innenstadt?! Wovon spricht die Chefin? Seit die Altstadt am Ende des zweiten Weltkriegs ausgebombt wurde, ist Solingen eine architektonische Katastrophe. Geblieben ist, was in den 50ern wieder aufgebaut wurde, ein schmucklos-ängstliches Ville Beton nix gutDer Wiederaufbau war wie das letzte nachträgliche Verbrechen der Nationalsozialisten und hat mit schön und gut nichts am Hut. Was da kaputtgegangen ist letzte Nacht, ist bloß Glas. Ich erhebe mich aus dem Drehstuhl hinter der Rezeption und schlüpfe aus den Slippers des Chefs. Die ollen Birkenstocksandalen. Natürlich hätte ich mir auch von zuhause ein Paar Schlappen mitbringen können, aber die Puschen vom Chef gehen in Ordnung. Ich hab mich mit der Zeit an sie gewöhnt, und ich schätze, der Chef weiß ohnehin davon, dass ich sie im Dienst trage. Jedenfalls hat mich seine Frau einmal in den Slippers ihres Gatten überrascht, früh am Morgen, als ich noch nicht mit ihr gerechnet hatte. „Ooh! Herr Glumm! Sie tragen ja HAARGENAU dieselben Gesundheitsschluffen wie mein Dieter!“ „Ja sicher“, murmelte ich zurück. Zum Glück trägt ihr Dieter keine Hüttenschuhe.

„Ich geh mir das Chaos mal angucken da draußen“, verabschiede ich mich in meine Freiwoche.“

In der Fußgängerzone sind Dutzende Schaufenster zu Bruch gegangen. Mit Ausnahme türkischer Einzelhändler und einer Musikalienhandlung am Schlagbaum, deren Inhaber Jugoslawe ist, sind alle Läden betroffen. Griechische Pommesbuden sind sogar extra plattgemacht und besprüht worden. Auch vor meiner Stamm-Kaffeestube am Graf-Wilhelm-Platz, wo die leckeren ofenwarmen Rosinenschnecken gebacken werden, türmen sich Splitter und Schutt.

„Wir sind nicht versichert gegen Glasschaden“, klagt Inhaberin Rosi, die mit ihrem Mann eine große Dämmplatte an der Stelle anbringt, wo mal ein Schaufenster war. Die Beiden haben ihre letzten Kröten in den Laden gesteckt, und urplötzlich schäme ich mich für die Revolution, für meine nächtliche Begeisterung fürs Kaputtschlagen. Scheiß Anarchie, denk ich, aus der Nähe betrachtet. Die halbe Innenstadt ist eine einzige, von zahllosen Glasscherben übergossene Reparaturmaßnahme. Überall wird genagelt, gehämmert, geküppert. Als Notbehelf werden Pressholz-Platten eingezogen, wo vorher Fenster waren – die beauftragten Schreinerbetriebe haben so viel zu tun, sie kommen mit der Arbeit nicht mit. Sogar Teile der elektrischen Oberleitung der O-Busse sind abgerissen, hängen zu Boden wie schlaffe Tonleitern.

Plünderer sollen noch in der gleichen Nacht unterwegs gewesen sein, was ich nicht recht glauben mag, bis mir auf den Treppenstufen vorm Kaufhof ein Kleiderständer auffällt, mit lauter leer-gefressenen Bügeln. „

Alter, hat das geknallt heut Nacht!“ grüßt Benno, ein Junkie, der gern vorm Kaufhof abhängt. Heute ist er besonders früh dran. Das lässt er sich nicht entgehen, den herrlichen Krawall. Er kickt eine zerdepperte Bierpulle vor sich her und setzt sie gegen eine Hauswand, wo sie in noch kleinere Scherben zerspringt. „Wie in Kreuzberg, Alter! Ja, wa?“

Am Straßenrand sammeln sich die braven Bürger der Stadt, und ihr Palaver klingt längst nicht mehr so reserviert wie tags zuvor, als man sich noch schämte für die einheimischen Täter. Das ist Geschichte, das ist vorbei, jetzt heißt es: Chaoten, Autonome und türkische Krawallbrüder, alle mal hergehört! Verpisst euch aus unserer schönen Stadt! Benno, der Junkie, zieht den Kopf ein und trollt sich. „Mach’s gut, Alter.“ Bevor ich heimgehe und mich hinlege, statte ich Harry einen Besuch ab. Nächste Woche wird ihm ein Katheter zum Herzen gelegt, später noch einer zur Niere. Gegen den hohen Blutdruck nimmt er Betablocker, die mit gesteigerter Traumaktivität einhergehen an Wirkung. Er ist es schon gar nicht mehr gewöhnt, so früh aufzustehen – ich erzähle ihm die Nachrichten brandaktuell.

Am Nachmittag findet im Bärenloch ein großes Benefizkonzert statt. Zur gleichen Zeit ziehen tausend zornige Türken zum Polizeipräsidium an der Goerdeler Straße. Sie wollen Gesinnungsgenossen befreien, die in der vorangegangenen Nacht festgenommen wurden. Wieder fliegen Steine, diesmal zwischen rivalisierenden türkischen Gruppen: Linke Kurden gegen Graue Wölfe. Die Innenstadt befindet sich permanent im Ausnahmezustand. In den anderen Ortsteilen dagegen bleibt es ruhig und beschaulich, im gepflegten Sound der Vorgärten.

Mein erster freier Abend nach einer Woche Nachtdienst ist traditionell mein Abkicktag, wo ich mir einen ansaufe. Ich bin schon früh im Mumms. Es ist so rappelvoll wie sonst nur am Wochenende. Autonome aus Wuppertal und Berlin holen sich Tipps, wo in der Stadt sich Fluchtwege auftun, falls es in den Kampf Mann gegen Mann geht, sollte die GSG 9 aufmarschieren. Bearbeitete Stadtpläne liegen aus für Auswärtige.

„Und sonst? Wie isses? Immer noch Nachtportier?“ näselt Micks, der Eilpostfahrer, dem die Stimme vom vielen Koksen schräg überm Jochbein sitzt und den ich lange nicht gesehen habe. Ich nicke missmutig. Ich meine, mal im Ernst – gibt es irgendwo auf der Welt dämlichere Jobs für einen Mann Mitte Dreißig? Post ausfahren und Nachportier. Am besten beides auf einmal. Es sei denn, man hat keine Ambitionen. Dann geht Nachtportier zum Beispiel vollauf in Ordnung. Habe ich denn keine Ambitionen im Leben?! Nicht mal auf die Torwandschießen Samstagabends? Verdamm! Keine Ahnung!

„Ist garantiert psychisch bedingt, glaub mir das“, nuschelt Micks, um mich zu beruhigen. Ich weiß nicht so genau, was er damit meint, schätze aber, er hat Recht.

„Wo ist die Gräfin?“ fragt er.

„In Soest“, sag ich. „Auf der Flucht.“

„Vor dir?“

„Vorm Chaos.“

„Also doch vor dir“, lacht Micks.

In den TV-Nachrichten kommentiert RTL die Ausschreitungen der letzten Nacht mit dem schönen Satz, von der nordrhein-westfälischen Landesregierung zum Nichtstun verdonnert, antwortet die Polizei mit voorsichtigem Schlagstock-Einsatz, der Tresen im Mumms flackert vor Gelächter.

Nach Mitternacht statten wir der Brandruine einen Besuch ab. Wir, das ist in diesen Tagen eine wechselnde Geschichte, und auffallend oft ist mein Bruder mit von der Partie. Karlos lässt sich nicht blicken, (erst hinterher erfahre ich, dass er mit seiner Familie in Frankreich im Urlaub gewesen ist, in St. Brieux in der Bretagne, wo Sandys Eltern ein Ferienhäuschen gekauft haben), Schnaat taucht nicht auf. Der dicke Hansen weiß vermutlich nicht einmal, das etwas passiert ist in unserer Stadt. Die Kamerawagen der TV-Stationen, zu erkennen an ihren Satellitenschüsseln, parken die Bürgersteige am Bärenloch noch zu nächtlicher Stunde zu. Die Ruine wird mehr und mehr zum Wallfahrtsort. Ein Meer aus Kerzen und Teelichtern, Blumen liegen auf dem Bürgersteig. Zwei Tage schon brennt ein Mahnfeuer, immer wieder neu angefüttert. In der ersten Nacht, so erzählt man sich, hätten sich aufgebrachte Türken die Kleider vom Leib gerissen und in die Flammen geworfen, wie bei einer Teufelsaustreibung. Das Haus wirkt merkwürdig unbeteiligt. Die Fenster im Erdgeschoß sind mit Pappe zugestellt, auf eine Fensterbank hat jemand kleine Babyschuhe abgestellt. Transparente, zuvor auf den Demonstrationen durch die Straßen getragen, füllen die Fenster wie Vorhänge, fast alle mit türkischen Parolen, nur eines ist auf Deutsch: „UN-Truppen nicht nach Kuwait, sondern nach Bosnien und Solingen!“

Ich bin unrasiert, seit Tagen.

„Du siehst allmählich selbst aus wie ein Schwarzkopf“, sagt mein Bruder, „mit deinen Killerstoppeln.“

„Na, das sagt der Richtige! Verdammter Hippie!“

Mitten in der Nacht verfolgen wir den Einzug der nächsten Welle türkischstämmiger Rächer, vollbesetzte Wagen aus Bochum und Gelsenkirchen, die Auto-Kennzeichen abgeklebt und den roten Halbmond aus dem Fenster flatternd. Als wir gegen drei Uhr auf dem Heimweg sind, geht urplötzlich ein Gewitter nieder. Es blitzt und donnert, der Regen steppt in den Straßen wie der Zorn Gottes, ein Schwall warmer Blütengerüche bläst um die Hausecken. Wie zur Erinnerung, dass Sommer ist.

„Friede“, murmelt mein Bruder.  

*

1. Juni ’93, Dienstag

Der Mitsubishi Boy ruft mich zu Hause an. Er ist vor zwei Jahren nach Hamburg gegangen, nachdem er in Solingen 5 Jahre am Stück daheim in einer 2- Zimmer-Bude mit seiner Katze Humboldt rumgekrebst hat.

„Ich liege die ganze Zeit vorm Fernseher und versuche, einen von euch Vögeln auf dem Bildschirm zu erkennen, den Picard oder so, aber nie ist einer zu sehen. Hängt ihr alle nur im Mumms vorm TV-Apparat rum? Geht ihr nicht vor die Tür, auf die Demo? Oder habt ihr noch gar nicht mitgekriegt, was bei euch los ist, ihr Loser? ES HAT GEBRANNT IN SOLINGEN!“

Dann erzählt er, dass er sich in Hamburg eine neunzig Kilo schwere Heimorgel gekauft habe.

„Funktioniert zwar nur noch zur Hälfte, aber zum Berühmtwerden müsste es gerade noch reichen, hab ich mir überlegt.“ In Verbindung mit einer Vernissage will er dann vom Niedergang dieser Republik singen und im Sommer die Heizung voll aufdrehen, damit Energieriesen wie RWE auch was abkriegen von seinem neuen Reichtum. „Die sollen nicht leer ausgehen.“

Kaum hab ich aufgelegt, ruft die Gräfin aus Soest an. Sie ist traurig.

„Ich glaub, Oma Soest lebt nicht mehr lange.“

Ihre Mutter, die Onkel und Tanten wollen nun dafür sorgen, dass sie aus dem Krankenhaus kommt und daheim sterben kann, im Kreise der Familie.

„Oma Soest hat die schönsten und krummsten Finger der Welt, da steckt der ganze Schmerz des Lebens drin.“

Als kleines Mädchen schaute die Gräfin ihrer Lieblingsoma fasziniert dabei zu, wie sie in der Küche zauberte, niemals musste Oma Soest eine Waage zu Hilfe nehmen, sie mengte und würzte alles nach Gefühl. Und wie lecker sie dabei gerochen hat, nach Nivea und nach Essenmachen, für die Gräfin der leckerste Geruch der Welt, bis heute. Zum Abschied sagt sie, ich solle aufpassen, wenn ich auf eine Demo gehe. „Nicht, dass du dir einen Stein einfängst und blind wirst. Lach nicht. Kann doch passieren. Ein blöder Querschläger, und das war’s. Wärst du nicht der erste, dem das passiert.“ „Okay. Ich halt mich zurück“, sag ich. „Du kennst mich doch.“ „Na, eben, deswegen. Du hast ein Talent für den falschen Moment, du Blödmann. Eigentlich brauchst du einen Leibwächter, der nur darauf achtet, dass du das Richtige tust, vierundzwanzig Stunden lang. Ach was, vierundzwanzig. Achtundvierzig! Zweiundsiebzig!“

„Ist ja gut.“

Später Nachmittag, nächster Protestmarsch. Ich bin nur noch auf der Straße. Das ist meine Stadt, das ist meine Straße, das sind meine Toten.

Einmal, als der Zug am Mumms vorüberzieht, sehe ich eine Reihe Stammgäste vor der Tür stehen, mit dem Glas Bier in der Hand, so wie ich sonst auch vorm Mumms stehe, ein Bier in der Hand, dämlich glotzend. Nachdem es in der Nacht zuvor erneut gekracht hat und auch die letzte noch intakte Schaufensterscheibe in der Innenstadt zu Bruch gegangen ist, lese ich an einem Geschäft: Glasschäden – der Verkauf geht weiter. Die neuen Öffnungszeiten werden gleich daneben auf dem mit Pappkarton zugeklebten Fenster gepinselt:

11.00 bis TUMULT BEGINN

Die Polizei greift härter durch – von nun an werden die Kinnriemen der Helme bei Sondereinsätzen fester gezurrt. Die Jagd ist eröffnet. Vor allem auf Autonome, die aus der ganzen Republik anreisen, haben die Bullen es abgesehen. Der schwarze Block ist der Feind. Selbst die GSG 9 reist aus Berlin an und reibt sich die Hände.Je älter ich werde, desto gefährlicher erscheint mir dieser Ort Erde. Es ist ein beinah hypnotischer Moment am späten Nachmittag, als die Sonne ihr Varietelicht aufs Pflaster wirft und wir zu Tausenden über die Goerdeler Straße marschieren, als plötzlich Rufe laut werden, „guckt mal links rüber.“ Viele bleiben stehen und beobachten die Szene, die sich auf der anderen Straßenseite abspielt, in einer Seitengasse. Wie Cowboys fläzt die GSG 9 auf Treppenstufen und Fahrzeugen, eine einzige breitschultrige Masse selbstbewusster Bullen, die es kaum abwarten können, vor die Tür zu gehen und mitspielen zu dürfen. Doch bis dahin: extra-lässiges Abwarten…

Bei Anbruch der Dunkelheit findet auf dem zentralen Mühlenplatz eine Protestveranstaltung der Gewerkschaft statt. Ich treffe Leute, die lange nicht in der Stadt waren und nun nach dem Rechten sehen wollen. TB, seit Jahren in Berlin bei Synanon untergekrochen, einer umstrittenen Drogenselbsthilfe, klatscht mich ab. „Alter… gibt’s doch nicht…!“ ruf ich. „DER TB!“ Das letzte Mal in seiner Heimatstadt war er Ende der 80er, als er beim dicken Hansen übernachtete. Dem TB dann freundlicherweise gleich in der ersten Nacht dreihundert Mark und den fabrikneuen Audi 80 klaute. Die Bullen stellten TB keine Stunde später auf der Autobahn, kurz vor der holländischen Grenze. TB, ein Gesicht wie aus der Asservatenkammer der Gesichter, zerfurcht, zerbombt, zerschlagen, beklagt sich, das man ihn heute bereits aus zwei Solinger Kneipen rausgeworfen habe, warum?

„Nur weil ich in schwarzen Klamotten rumlaufe. Die halten mich alle für einen Autonomen“, grinst TB, der lange Schlaks. „Mögt ihr keine Autonomen? Ich bin doch nur ein schwarz gekleideter Ex-Junkie.“

Mit dem Wagen vom dicken Hansen wollte er damals nach Rotterdam knattern. Und dann? „Na, den Wagen zu Geld machen, von dem Geld Schore kaufen, mit der Schore zurück nach Berlin, am Kotti Kasse machen. Das übliche halt.“

„Genialer Plan“, sag ich.

TB legt mir den Arm um die Schulter. „Alter, du glaubst gar nicht, wie froh ich bin, endlich clean zu sein.“ Ich glaube ihm kein Wort. Selbst das T in TB sieht gestohlen aus. Als ich mich umdrehe, läuft mir der gute alte Kitty über den Weg. Der alte Super-Kapitalist. Auf dem Gymnasium teilten wir früher die Schulbank und diskutierten leidenschaftlich. Er verteidigte das Geld, ich das Geld der Menschen. Er lebt schon lange in den USA, leitet die deutsche Niederlassung der Commerzbank für Nordamerika. Pool Position. „Und du? Was machst du so?“ fragt er aus diesem etwas zu klein geratenen, spöttischen Mund. „Ich protestiere“, sag ich.

Nach Reden von Lokalpolitikern und Gewerkschaftern marschieren ein paar tausend Demonstranten zur Unteren Werner Straße. Es ist die fünfte oder sechste Demo, bei der ich dabei bin, ich komm mit dem Zählen nicht mehr mit, aber eins ist sicher: Zum ersten Mal ist die Polizei mit ganz großem Aufgebot dabei. Wir fühlen uns wie Bundesliga-Hooligans, die vorm Match von der Bereitschaftspolizei zum Stadion begleitet werden, damit sie nicht aufs feindliche Lager treffen. Bloß, da ist kein feindliches Lager, nirgends. Nirgends lassen sich Nazis blicken, die man bekämpfen könnte, niemand ist vor Ort, der sich mit offenem Visier in den Weg stellt und ruft, Jawohl, ich verbrenne Kinder, ich verbrenne türkische Frauen, ich verbrenne Türken, ich bin ein Nazi-Schwein! Und weil das niemand sagt, dem man das vorhalten könnte, endet auch die Randale nicht. Der Zorn auf die Brandstifter, der Hass auf die schweigende Mehrheit, für die der ruinierte Ruf der Stadt wichtiger ist als der Tod von Menschen, findet kein anderes Ventil. Die Täter sitzen, obwohl längst gefasst, immer noch daheim.

Der nächste Demonstrationszug führt am Mühlenhof-Kino vorüber. Der Titel des Hauptfilms der laufenden Woche, der in großen Lettern überm Eingang prangt, wirkt wie ein Menetekel: FALLING DOWN. Michael Douglas spielt einen stinknormalen Bürger, der sich eines Tages gegen die Welt erhebt, die ihn triezt, reglementiert und klein hält. Er startet einen Amoklauf. Ein ganz normaler Bürger, der andere ganz normale Bürger tötet. FALLING DOWN. Und dann rauscht am Schlagbaum, der großen Verkehrskreuzung, die eigentlich abgesperrt ist, ein weißer Volvo in das Ende des Protestzugs. Niemand weiß, woher der Wagen so plötzlich gekommen ist. Ein Mädchen, 15 Jahre alt, wird auf die Motorhaube geschleudert. „NAZIS!“ brüllt jemand. Mein Bruder wird kreidebleich. Der Volvo, HA – Hagener Kennzeichen, versucht zu flüchten, wird von aufgebrachten Türken verfolgt. Zwei Streifenautos schneiden dem Wagen in letzter Sekunde den Weg ab. Stoppen ihn, zerren zwei Männer aus dem Wagen. Deutsche, militärisch kurzer Haarschnitt, Doc Martens Stiefel. Pflastersteine fliegen aus den angrenzenden Gärten, Polizisten reißen ihre Schutzschilder hoch, schützen die beiden Nazis vor jungen Türken, schnell sind weitere Streifenwagen da.

Die Stimmung in der Stadt ist auf dem Siedepunkt. Erneut lodern rund um den Schlagbaum Brände auf, Hubschrauber des Bundesgrenzschutzes donnern im Tiefflug über die Stadt, setzen Sondereinsatzkommandos ab, es herrscht Krieg. Wieder wabern Gerüchte durch die Stadt. Angeblich bringen Kleinlaster, angemietet von jungen linken Türken, dauernd Nachschub heran. Neue Schläger, neue Knüppel, neue Stahlkugeln für die Zwille. Aber die Bullen sind präsent, in feuerfesten Einsatzanzügen. Eine dritte Nacht mit Millionenschaden soll es nicht geben. Das Viertel am Schlagbaum ist ein Meer aus Tausenden weißer Polizeihelme. Leuchtpistolen werden abgeschossen, linke und rechte Türken, abgedrängt in Seitenstraßen, schlagen mit Holzlatten aufeinander ein, aus denen Nägel stehen. Es folgt die bislang härteste Nacht, ich bin nicht dabei. Ich bin müde, ich hab die Schnauze voll, ich geh nach Hause. Als ich im Bett liege, höre ich die Kämpfe aus der Innenstadt, es klingt wie das Geblöke von Kampfschafen bei Vollmond.  

*

3. Juni ’93, Donnerstag

Heute findet die offizielle Trauerfeier für die Opfer statt, für den kommenden Samstag ist eine letzte Groß-Demo geplant mit 50.000 Teilnehmern. Die vier Brandstifter sitzen in U-Haft. Außer einem bereits inhaftierten 16jährigen drei weitere Solinger im Alter zwischen 15 und 23 Jahren. Alle wohnen in der Nähe des Tatorts und waren dafür bekannt, im Bärenloch regelmäßig irgendwelchen paramilitärischen Scheiß veranstaltet zu haben. In der Lokalpresse wird eine Skizze veröffentlicht, in der sich minutiös verfolgen lässt, welchen Weg das Quartett in der Nacht von Freitag auf Pfingstsamstag zum Bärenloch genommen hat, nachdem es auf einer Party in der Schrebergartensiedlung Gabelsberger Straße rausgeschmissen wurde. Zur Strafe schworen sie, sollte das Türkenhaus am Bärenloch büßen.

Ich verfolge mit dem Zeigefinger die mit Pfeilen versehenen Wegstrecke. Selbst die eingezeichneten Abkürzungen gehe ich im Geiste mit. Auch wie die vier gezielt die BP-Nachttanke am Schlagbaum aufsuchen und einen Kanister Benzin kaufen, ist nachvollziehbar. Aber nicht, was sie in dieser schwülen Nacht geredet haben mögen. Da hört es auf. Das funktioniert nicht. Ich kenne ihre Sprache nicht. Ich weiß nicht, was vier angetrunkene Nazis zwischen 16 und 24 labern in einer Frühsommernacht. Wie sie sich gegenseitig hochpushen bis sie am Ende im Eingangsbereich des Türkenhauses den Brandbeschleuniger auskippen und Feuer anzünden.  

*

5. Juni ’93, Samstag

Auch wenn die Straßen voller Leute sind, mich kotzen die vielen Einheimischen an, die sich nicht zeigen, die eben nicht auf die Straße gehen und sich wegducken, als ginge sie das alles nichts an, wa im Namen unserer Stadt passiert. „Was soll ich auf einer Demo?“ meint Hilda, ein Deutsch-Spanierin, die ich vorm Mumms treffe.

„Ich hab den Türken doch nichts getan, ich hab denen kein Feuer unterm Arsch gelegt.“

„Natürlich nicht“, sag ich, „aber du lebst genauso hier wie ich und bist an der Stimmung beteiligt, die in der Stadt herrscht und so eine Tat erst möglich macht.“

Das sieht längst nicht jeder so. Auch Hilda nicht. „Blödsinn. Dann müssten ja auch all die Politiker mitlaufen und Buße tun, die das Asylrecht so gut wie abgeschafft haben und den Eindruck vermitteln, alle Ausländer wären Schmarotzer.“

Taxifahrer-Paul erzählt, dass die meisten Fahrgäste schon nach einer halben Woche nur noch stöhnen, wenn das Thema aufkommt, sie wollen nichts mehr hören von dem Anschlag. Und wenn das Thema doch aufkommt, ist die betroffene Großfamilie Genc schnell Zielscheibe des Hasses. Besonders die Gerüchte um eine angebliche Millionenspende des Bertelmann-Konzerns heizen die Atmosphäre auf. Und selbst wenn es so wäre: Als könnte noch so viel Geld die toten Kinder aufwiegen. Ich könnte kotzen. Geld kotzen.

„Sollen sie doch zufrieden sein, die Türken“, hörte Taxifahrer-Paul einen Fahrgast faseln. „Die sind doch jetzt stinkreich. Wer weiß denn schon, ob das Ganze nicht ein abgekartetes Spiel war.“

Wahrscheinlich gibt es Einheimische, die es lieber gesehen hätten, wenn die Türken nicht verbrannt, sondern von echten Solinger Klingen abgestochen worden wären. Das hätte Stil, das hätte Tradition gehabt. Es fehlt nicht mehr viel, und die Familie Genc hat das Großfeuer selbst gelegt, um eine neue Teeküche abzugreifen. Neid ist ein nachhaltigeres Gefühl als Scham, auch wenn beides Hand in Hand geht. Ich schäme mich für Solinger, die einer Familie, die nicht nur fünf Menschen, sondern auch jegliches Hab und Gut verloren hat, jeden Pfennig missgönnen.

„Die saufen ihr Wasser demnächst aus goldenen Armaturen, und ich? Was ist mit mir!? Hilft mir einer!?“

Nee. Dir? Niemand.

*

6. Juni ’93, Sonntag

Statt der erwarteten fünfzigtausend Leute sind es nicht mal fünfzehntausend, die sich am Samstag zum staubigen Finale versammeln auf dem Platz am Weyersberg, wo sonst Autos parken, wenn die Handballer ihre Spiele in der Klingenhalle austragen. Tausende Autonome aus dem ganzen Bundesgebiet und linke Türken verbrüdern sich gegen Graue Wölfe, und alle zusammen schlagen mit Dachlatten auf die Bullen ein, dass es nur so knackt. Yüksel, ein türkischer Taxifahrer, den ich schon lange kenne, erklärt die plötzliche Radikalität seiner Landsleute damit, dass man in der Heimat traditionell überzeugt sei, jeder Türke sei als Soldat geboren. Mich nervt das ganze nur noch. Die Auto-Korsos, die Pfeifkonzerte, der ganze beschissene Hass, der ständig geschürt wird, alles geht mir auf die Nüsse. Vor allem der schwarze Block scheint auf nichts anderes als Krawall aus zu sein. Wie alle Spießer haben sie ein fest umrissenes Feindbild, es ist unumstößlich: Bullen sind Schweine, daran wird nicht gerüttelt.

Ich seile mich ab. Ich bin erledigt. Erschöpft. Die hohe Luftfeuchtigkeit stinkt wie Schweinebauch, der beständig auf den Grill tropft. Man hört es fast zischen, wenn das Fett runtertropft. Mein Bruder hat ebenfalls die Nase voll.

„Ich will mein Leben zurück. Ich lasse mir nicht von vier hergelaufenen Mördern das Leben stehlen.“

Weil ich schon mal in der Nähe bin, klingle ich bei Fleschkönigs, er wohnt am Weyersberg. Flesch, ein Prinz aus dem Poesiealbum meiner Kindheit. Er trug schon als Junge das rote Haar schulterlang, und ich hab noch etwas gut bei ihm, seit er mich 1965 im Sandkasten beschissen hat, bei einem Tauschgeschäft. Er ergaunerte von mir ein fast nagelneues Matchboxauto, einen hummerroten Maserati, während er im Tausch nur einen gelben Plastik-Citroën herausrückte, eine 2CV, eine miese Ente, bei der auch noch die Räder vorne blockierten. „Du hast noch was gut bei mir“, hat er versprochen, als ich ihn kürzlich an den Beschiss mit der kleinen Plastikente erinnerte, und jetzt ist es so weit, ich werde sein Versprechen einlösen.

Ich klingele bei ihm, und tatsächlich, Flesch öffnet. Damit hab ich nicht gerechnet. Er ist nicht allein, er hat Besuch. Ein Kumpel ist da. Zu zweit hängen sie auf der Couch ab, bis zum Kragen mit Pulver eingelullt. Sie verfolgen im dritten Programm eine Live-Reportage von der Groß-Demo in unserer Stadt, genauer gesagt, vor ihrer Haustür. Das Pfeifkonzert kommt in Stereophon: links live von der Straße, rechts live aus dem TV-Gerät, es ist eine ohrenbetäubend skurrile Live-Installation.

„Flesch, was hältst du von der ganzen Sache?“ rufe ich, nachdem er mir eine Line Schore gestreut hat. Flesch, immer noch schulterlang die warmen roten Locken, Sonnenbrille X-Large, die Augen auf Halbmast, entgegnet: „Alter, ich guck mir das seit Tagen in der Glotze an, aber mir ist das alles zu heftig. Nee, im Ernst, die Politik muss ich nicht haben.“ Nicht ein einziges Mal habe er in der vergangenen Woche den Fuß vor die Türe gesetzt, obwohl er mitten im Kampfgeschehen wohnt. Andererseits, was soll ein Junkie auch da draußen? Solange er nur genug Material im Haus hat und im Fernsehen alles live übertragen wird. „Scheiße, ich kack ab“, murmelt sein Kumpel, der irgendwo im Dunkeln hockt und sich nicht zu erkennen gibt, und er nickt ein. Joghurt tropft von seinem Kinn, in einer langen klebrigen Babyspur. Flesch ist erst seit kurzem wieder im Lande, nachdem er lange Zeit verschwunden war. Keiner wusste, was los war, nicht mal seine engsten Kumpel. Mal hieß es, Flesch habe AIDS und sieche in einer Spezialklinik vor sich hin, mal hatte man ihn in den Pyrenäen verhaftet, auf der Flucht vor den Bullen. Aber als er mir Anfang des Jahres über den Weg lief, am Mühlenhof, sah er aus wie ein verdammter Banker, mit verspiegelter Sonnenbrille und Nadelstreifenanzug. Nur dass er anstatt der FAZ eine gefaltete Ausgabe der BILD Köln unterm Arm trug, locker & leger zusammengerollt. Nachdem wir uns kurz in den Armen lagen, fragte ich Flesch, was denn nun los gewesen sei, wo er gesteckt habe, all die Zeit. Ob da was dran sei, mit AIDS und so.

„Quatsch, Alter! Ich bin drei Jahre im Zigeunerlager in Rotterdam untergetaucht, unter Messerwerfern und Feuerschluckern. Einen riesigen Ami-Wohnwagen hab ich gehabt, und einen großen schwarzen Puffi-Hund, der auf mich aufgepasst hat. Jetzt wohn ich bei ein paar Hühnern oben auf der Niedersachsenstrasse, kommt mal vorbei. Bring deine Puppe mit, wie heißt sie noch gleich? Ja genau, die Gräfin. Übrigens, ich hab mit dem Schreiben angefangen. Mehr so den drastischen Stil, verstehst du…“

Ja, verstehe ich. Ich lege Flesch einen Zehner auf den Tisch, für eine zweite Line, die er mir auch gleich streut, ohne langes Palaver. Ich zieh eine ordentlich lange Linie, zwischen leeren schimmligen Joghurtbechern, und sehe zu, dass ich Land gewinne, ohne dass ich kotzen muss. Aber es hilft nichts. Ein bisschen muss ich dann doch kotzen und, dann ab nach Hause.

14 Gedanken zu „30 Jahre Solinger Brandanschlag: „Unser Türkenhaus brennt“

  1. Gelungener Mix, im Stil des New Journalism: subjektiv vorgehen, auf literarische Stilmittel zurückgreifen und sich dabei dennoch an die Fakten halten …
    Bin bewegt und froh, dass Du ohne physische Blessuren durchschieße Tage gekommen bist.
    Uwe

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  2. … im Jazzkeller beim Coco Teuber spielten an dem Tag die Band „Die Braut haut ins Auge“ … spricht aber keiner mehr drüber … passt nicht — peinlich — seltsam — sehr verlogen.

    Gruß
    Jens

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    • Ich würde mal sagen, das Ereignis wurde einfach überlagert von dem größeren Ereignis. (Und Die Braut fand ja auch vor dem Anschlag statt.) Ich wusste jedenfalls nichts davon, schätze ich. Allerdings: ich hatte eh Nachtdienst und hätte es mir nicht angucken können. Trotzdem danke. Man weiß nie, was man noch einbauen kann in den Text. (Die Braut haut ins Auge erinnert mich an Lassie Singers, so die Ecke.)

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      • „Lassie Singers“ … zuminderst eine Berliner Frauenband.

        Wir wohnten damals auf der Kottendorfer Str. und bekamen von alledem so gut wie gar nichts mit …

        Ziemlich „spooky“ ist übrigens die Webseite der Solinger AfD dazu. Dort bemüht man sich weniger um Aufklärung als vielmehr die Aufzählung von angeblichen(?) Ungereimtheiten der Ermittlungsarbeit der Behörden und des nachfolgenden Gerichtsprozesses.

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      • Was solls: Die Braut haut.. gibt es es seit dem Jahr 2000 nicht mehr. Von daher, wen juckt’s noch. Cocos Keller dagegen schaffte es über
        eine lange Zeit, Musik nach SG zu holen, die man hier sonst nicht gehört/gesehen hätte.

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      • „coco teuber“
        … nicht zu vergessen: kellerkino.
        ganz locker auf augenhöhe mit programmkinos in köln oder düsseldorf – stichwort aschenbecher …

        gruss
        jens

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  3. Oh man, ja sehr gut, dass du wirklich immer und überall dein Noitzbuch dabei hast und dir all diese wichtigen Einzelheiten so genau festhälst, damit sie später, wie hier 30 Jahre später, erzählt werden können. Ja das war eine wahnsinnige Woche, in der Nacht zum 30.ten Mai kamen wir aus Gräfrath und mussten über den Schlagbaum Richtung Südstadt. Überall Autokorsos und Reifen, wilde gewaltbereite Männer, es war wie in „die Klapperschlange“ ein Spießrutenlaufen und wir hatten echt Angst, weil das Polizeiaufgebot an dem Tag danach natürlich noch völlig unterschätzt war.

    Man kann den Geruch sofort riechen, den du in diesen warmen schwülen Sommerabenden auf den Solinger Straßen beschreibst.

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  4. Pingback: Anderswo – Geschichten und Meer

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