Die rigorosen Dinge

Im Park sitzt ein roter Luftballon in der Baumkrone fest, seit Tagen schon. So perfekt sitzt er da in der Spitze des Baums, als wäre jemand den Stamm hochgeklettert und hätte ihn dort angebunden, doch das ist unmöglich, die vielen Zweige und Äste verhindern ein Durchkommen.

Nein, der rote Luftballon hat sich von allein in der Krone verfangen, so einfach ist das. Dennoch bleib ich kurz stehen und verrenke mir den Hals und mach mir so meine Gedanken. Ich meine, so ein schöner knallroter Zufall..

„Ist kein Zufall. Ist Zeichen“, meint der schmächtige alte Pole auf der Parkbank. Er trägt, wie immer, seinen Pepita-Hut, der nagelneu aussieht, und sitzt da, die Hände überm Knauf seines Spazierstocks gekreuzt. „Ist Zeichen von Gott.“

Nun bin ich ein großer Freund von Zeichen, von Gottes kleinen Kommentaren, doch das kann der Pole nicht wissen. Oder sieht man mir die Hingabe für Zeichen etwa schon an? Bin ich gezeichnet?

Welches Zeichen Gott allerdings sendet, wenn er einen roten Luftballon in die Baumkrone setzt, das verrät er nicht, der schmächtige alte Mann mit dem Pepita-Hut.

„Guten Tag“, nicke ich ihm zu, während ich weitergehe, ich muß den Bus kriegen, ich muß nach Wuppertal, ich muß was erledigen. Ich hab überhaupt keine Zeit für Luftballons.
„Ja, scheene Tag“, antwortet der alte Pole versonnen, und schaut nach oben.

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Greta, 15jährige Punkerin, die mit ihrem punkigen Vater über uns wohnt, ist keine Punkerin mehr. Sie dreht kaum noch die Stereo-Anlage auf, wenn sie von der Schule kommt, und wenn sie das Haus verlässt, sieht sie aus wie eine kleine Frau, die Einkaufen geht. Eines hat sie aber nicht abgelegt. Sie rotzt immer noch auf die Straße. Schicke kleine Rotzer, beiläufig gen Asphalt geflappt.

Ihr jüngerer Bruder, der bei der Mutter wohnt, besucht nun häufiger den Vater, hauptsächlich am Wochenende, und dann ist von Samstagmorgen bis Sonntagabend Playstation angesagt.

Wenn ich mit Frau Moll aus dem Park zurückkehre, bleib ich manchmal im Vorgarten stehen und lausche Vater und Sohn, wie sie sich beim Spielen unterhalten, das Fenster steht auf kipp. Die beiden haben mächtig Spaß miteinander, sind eine verschworene Gemeinschaft. Es ist nicht der Wortlaut, der mich horchen lässt, es ist der pure Klang ihrer Stimmen. Wenn Vater und Sohn sich mögen, das ist schon ein besonderer Klang.

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Eines Tages klingelt das Telefon, und jemand ist tot, den du liebst.

Vielleicht ist aber gerade der Kaffee durchgelaufen, und während du die Worte vernimmst und dich langsam niedersetzt, ist dein Gehirn noch beim Kaffee, und du denkst: ja, aber.. der Kaffee! Er ist doch frisch! Ich muss ihn jetzt trinken! Und du kannst nichts, absolut nichts dagegen tun. Was immer dein Gehirn als nächstes für dich vorsieht, du folgst, selbst wenn die Mutter vor zwanzig Minuten gestorben ist.

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Tod und Geburt sind die rigorosesten Dinge, die dieses Leben für uns vorsieht, und es macht mich fertig, dass alles so ist, wie es ist.

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Ich dreh mit dem Hund eine Runde durch die Anlagen und sehe in einiger Entfernung Homer und sein Herrchen den Weg runterkommen. Homer ist ein dicker schwarzer Mischling mit offenem Arsch, wo zuvor Geschwülste waren, und sein Herrchen ist ein alter Trinker, der seit dem Tod seiner Frau jeglichen Halt verloren hat und sich langsam zu Tode säuft, mit seinen Kumpels oben in der Säuferecke, wo die Sonne am längsten hinscheint.

Von weitem sieht der Knabe richtig gut aus heute. Das graue lange Haar ordentlich nach hinten gekämmt, und sogar den alten verbeulten Trainingsanzug, der aussieht, als wüchsen darunter Kochtöpfe, hat er endlich mal gewechselt, und der Gang ist fest und sicher, für seine Verhältnisse.

Je näher wir uns allerdings kommen, desto mehr muss ich mein Urteil revidieren – und als wir uns schliesslich auf gleicher Höhe befinden und knapp begrüssen, identifiziere ich nicht nur den ollen Kochtopf-Anzug als solchen, auch das gekämmte Haar war nur eine morgendliche Gegenlichttäuschung. Er schlappt kränklich-gelb daher und sieht aus wie ein vor 25 Jahren abgesagtes Trucker-Festival.

Dazu dieser niedere Hosenstallgeruch, den sein Hund hinter sich herzieht, ein stinkiger Strassenköter aus Andalusien. Er müffelt, als habe er sich in Rekordzeit die Beine runtergeschissen. Er hört für keine 10 Cent und hat für Autoritäten nur ein schlappes Achselzucken übrig. Haben Hunde denn Achseln? Na sicher.

Das zuckt doch.

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Es ist immer das gleiche. Wenn Frau Moll in der überhitzten kleinen Lottobude auf der Wupperstrasse ihr Leckerchen in Empfang nimmt, beißt sie aus lauter Gier beinah in die Finger, die sie füttern.

Die beiden Damen von der Lottoannahmestelle müssen schon fix sein, wollen sie auch nach der Fütterung weiterhin Lottoscheine in den deutschen Lottokreislauf einspeisen per Hand.

Frau Moll, dahinter die Gräfin

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Rita im Park getroffen, mit Shiva, ihre devote dünne Hündin. Ob Rita wirklich Rita heißt, wir wissen es nicht, sie sieht eher aus wie Roswitha, und sie hat immer schlechte Laune. Sie ist voller Zorn. Sie fühlt sich betrogen vom Leben. Sie glaubt, ihr Leben wäre anders verlaufen, hätte sie jemals eine zweite Chance erhalten, und nicht nur dritte Zähne. Ha.

Ja.

Die Augen tief in den Höhlen, wie die einer Eule, grade vom Baum gestiegen, stiert sie mich an, an diesem frühen Morgen im Januar, als sie mit Schaum vorm rissigen Mund von den Sheriffs vom Ordnungsamt erzählt, die sie ertappt haben, weil Shiva nicht angeleint war. Fünfundzwanzig Euro Strafe, bar zu berappen.

Was sind fünfundzwanzig Euro in einem Land, wo Siegerinnen gerne oben schwimmen und tote Frau spielen, damit die Verliererinnen nicht an sie herankommen?

„Fünf-und-zwanzig Euro!“ rupft Rita die Zahl empört auseinander.

Die Sache mit dem Ordnungsamt hat Rita bereits zweimal der Gräfin erzählt, mit Schaum vorm rissigen Mund, was wiederum die Gräfin mir erzählt hat. Ich weiß also Bescheid, tue aber so, als wüsste ich nichts davon, damit Rita etwas zu erzählen hat, etwas zum abladen, wir brauchen alle hin und wieder jemanden zum abladen, drei Tage hintereinander vielleicht, oder ein Leben lang.

Ich bin eine fröhliche Müllhalde, als ich weiterziehe.

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Während Frau Moll in der Lottobude ihren Ruf als Schnapperin weg hat, heisst der dicke Akku nur der Sabberer. Akku, zwölf Jahre alt, erinnert an eine altgewordene Fleischwurst mit reichlich Pelle, doch kaum ist er an der Reihe, sein Leckerchen entgegen zu nehmen, das in dieser tierfreundlichen Filiale noch jedem Hund zusteht, sprudelt ihm die Vorfreude so deftig aus der Fresse, dass sich darunter eine enorme Pfütze bilden würde, wären da nicht die beiden Lotto-Damen vor, von denen eine mit dem feuchten Aufnehmer schon parat steht, wenn  Akku etwas aus der Leckerchenbox bekommt, „hach, nee, wir hatten früher auch einen Hund, den Bobby. Was ein verrückter kleiner Scheisser das war!“

Ja, das waren noch Zeiten, als Hunde Namen trugen wie Bobby oder Bella, oder Benny. Nicht so wie heute, wo die Viecher Akku heißen, Siemens, Misses Big Fick.

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Hunde geben immer alles, sie können nicht anders, das ist ihr Wesen, es macht sie unschlagbar sympathisch. So ein Hund zeigt einem, was wirklich wichtig ist im Leben. Es geht ums Kacken, ums Futtern, ums Losrennen zur rechten Zeit.

Das war’s dann.

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Lothar, ein kauziger kleiner Mischling, zog gern alleine los. Er hatte gelernt, das Verhalten von Menschen zu deuten, die an Fußgängerampeln standen. Gingen sie los, konnte er die Strasse ebenfalls in Ruhe überqueren, blieben sie stehen, blieb er auch stehen – es schien besser so.

Es war tagtäglich dieselbe Strecke, die Lothar zurücklegte, und man konnte die Uhr nach ihm stellen. Vom Marmorhandel seines Herrchens am Ufergarten ging es Punkt zwölf quer durch die Stadt zur Parkanlage am Hippergrund, immer brav den Bürgersteig entlang. Lothar war die Bürgersteigvariante eines Streuners.

Unterwegs sammelte er Butterbrote auf, die Schulkinder achtlos weggeschmissen hatten, und verdrückte sie samt der knisternden Butterbrottüten. Ein verfressenes kleines Kerlchen war Lothar, aber immer top gebürstet und gekämmt, darauf legte er Wert. So war das mit Lothar, der gern alleine loszog.

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Der Gustav-Coppel-Park vor unserer Haustür war früher der Botanische Garten der Stadt, wurde aber wegen widriger klimatischer Verhältnisse 1930 geschlossen. Einige seltene Gewächse aus dieser Ära sind erhalten geblieben, etwa ein ausladender nordamerikanischer Trompetenbaum, durch den auch heute noch in lauen Sommernächten alte Leonard Bernstein Nummern wabern.

Im oberen Teil des Parks hat sich neuerdings eine schlichtere Pflanze breitgemacht. Sie ist auf die Nässe optimal eingestellt. Schon in der Früh sitzt sie auf der Bank, ernährt sich von  Flaschenbier und Jägermeister, und wenn ein Hund über die Wiese gesprungen kommt, meldet sie sich mit klarer und Nachdruck fordernder Stimme: „DEN HUND AN DIE LEINE! HIER HERRSCHT IMMER NOCH  LEINENZWANG!!“

Nun ist es natürlich nicht so, dass alle Hundebesitzer sich gross darum scheren würden, was diese Pflanze (sie ist männlich) so alles von sich gibt, wenn sie genug Jägermeister intus hat, zumal „Den Hund an die Leine! Hier herrscht immer noch Leinenzwang!“ so ziemlich das einzige ist, was sie artikuliert rüberbringen kann.

Am Abend, wenn die Hunde samt ihrer Besitzer zur finalen Pipi-Runde durch den Park aufbrechen, hängt das Köpfchen der Pflanze ganz matt herab, und auch vom ominösen Befehlston tröpfelt nur noch ein kleines und spärliches „leinnn..sswang“  von der grünen Jägermeisterzunge. Sie heisst Harald.  Die Pflanze schluckt ganz schön was weg.

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„Sie kommen zurecht?“ erkundigt sich der Chef im Künstlerbedarf-und Schreibwaren-Laden, als ich vorm Regal mit den schönen glänzenden Notizbüchern stehe. Manche sind aus Frankreich und in Leder gebunden. Wie die riechen.

„Ich komme zurecht, o ja“, sag ich und wundere mich selbst, wie ausserordentlich überzeugt ich klinge.

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Miss Tilly holt Schorsch aus Thessaloniki aus der Versenkung

4 Gedanken zu „Die rigorosen Dinge

  1. Noch einmal: Ich will das alles jetzt endlich flattrn können! Wäre doch ideal für einen alten Literaturpunk wie Dich: Du knöpfst niemandem zwangsweise Kohle für Deine Texte ab, jeder hat weiter freien Eintritt zu allem, und trotzdem käme garantiert bald eine Menge zusammen.
    Ich wollte es wenigstens bei Miss Tilly tun, aber da funktioniert der Flattr-Button irgendwie nicht. Die Welt ist ungerecht.
    Aber mehr als aufdrängen kann ich Dir meine 32 Cent ja nicht …

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  2. Pingback: Blick nach oben und zurück « Revierflaneur

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