Du bist so kalt

“DU BIST SO KALT!” schrie sie. “ICH BRING DICH UM!”

Unter Tränen machte sie kehrt und lief in die Küche. Ich lag im Bett und hörte, wie die Besteckschublade aufgerissen wurde, wie Messer und Gabeln durcheinanderpurzelten, ich hörte Metall gegen Metall schlagen, Rumsen, Geklirre.

Scheiße! dachte ich, sie macht ernst.

Bevor ich es schaffte, von der Matratze hochzukommen, war sie zurück. Auf nackten Füßen, hitzköpfig, zornig. „Du Arschloch…!“

Ich richtete mich auf. Ich sah ein Messer aufblitzen, ein langes Messer, das Brotmesser, soviel konnte ich im Halbdunkel erkennen.

“Ich bring dich um!!” schluchzte sie und stürzte auf mich zu.

“Bist du wahnsinnig!? Hör auf!! Lass den Scheiß!” Ich wehrte die Stöße mit der Hand ab, Stöße, die nur aus halbem Herzen kamen – hasserfüllt, ja, das schon, aber ohne den Vorsatz zu töten – zum Glück.

„HÖR AUF!“

Die Gräfin in Rage, das war wie ein Feuer, das sich ständig neu entfachte, und ich war zu betrunken, um die Flammen zu ersticken. Sie schrie, sie wusste nicht, was sie tat. Sie wollte mich nicht wirklich verwunden, erst recht nicht umbringen, aber es fehlte nicht viel und die Dinge wären in dieser Nacht so aus dem Ruder gelaufen, dass wir es lange bereut hätten. Endlich bekam ich das Messer zu packen, an der Klinge. Ich zog daran, während sie unablässig weiterschluchzte und in meine Richtung stocherte. Ich spürte meine Hand warm werden, ich spürte Blut fließen.

Sie lag auf dem Bett, sie war völlig erledigt.

Ich ging ins Bad und machte Licht. Ich machte Licht in der Diele, ich machte überall Licht und ließ kaltes Wasser über die Hand laufen. Die schlimmen Dinge geschahen immer in der Nacht, und sobald der Zenit überschritten war und die Dinge sich etwas beruhigten, lief ich wie ein Übergeschnappter durch die Wohnung und schaltete alle Lichter an, kämpfte gegen die Finsternis. Es war, als wollte ich die Dämonen bannen, indem ich die Helligkeit elektrischer Lampen dagegensetzte. Ich kämpfte mit Mitteln der Moderne gegen das älteste Gefühl der Welt, die Kränkung.

Sie lag auf dem Bett. Sie blutete ebenfalls aus der Hand, und heulte wütend auf.

“Dummes Arschloch…!”

Die Bettwäsche war voller Blutflecken, das Brotmesser lag auf dem Boden.

Später saßen wir uns gegenüber, in der engen Diele, umgeben von Klopapier, ganze Lagen bedeckten den Boden, anderes war um unsere Hände gewickelt. So heftig war es lange nicht gewesen. So heftig war es noch nie gewesen. Einmal hatte sie im Streit meine schwere schwarze Continental-Schreibmaschine, die ich nur noch zur Deko im Zimmer stehen hatte, vom Schrank gerissen und mir entgegen geschleudert, auch damals hatte ich im Bett gelegen, auf Minustemperaturen herunter gekühlt, du bist so kalt.

Die Continental, ein Original aus den Vierzigerjahren, war einst meine stolze schwarze Lady gewesen. Einige Tasten ließen sich nach dieser Nacht nicht mehr runterdrücken, das wichtige c fiel komplett aus, eine Handvoll Typenhebel war verbogen – die Lady war hinüber, nur noch ein tonloses Piano.

Keine drei Monate später gab es diesen Abend, als wir beide randvoll Alkohol waren, was damit endete, dass eine Familienflasche Heinz Ketchup gegen die Wand krachte und die Küche in Rot tauchte.

“WEISST DU, WARUM DU SOVIEL TRINKST?” schrie sie mich an.

“KEINE AHNUNG. SAG DU ES MIR! DU WEISST DOCH SOWIESO ALLES BESSER!”

“WEIL DU MIT NÄHE NICHT KLARKOMMST! DU SÄUFST DIR DEINE EWIGE DISTANZ ZUM LEBEN WEG, DU FEIGLING! DU HAST ETWAS KOMATÖSES IN DEINEM CHARAKTER, DAS WIRD DICH EINES TAGES UMBRINGEN! UND ES WIRD NIEMANDEN INTERESSIEREN, DASS DU TOT BIST, WEIL NIEMAND MEHR DA IST, DER UM DICH TRAUERT! WEIL DU ALLE VERGRÄTZT HAST MIT DEINER DISTANZ ZUM LEBEN! DU FEIGLING!”

Statt komatös hatte ich damals TOMATÖS verstanden, „da ist etwas tomatöses in meinem Charakter“, was sie endgültig explodieren ließ. NIMMST DU EIGENTLICH ÜBERHAUPT NOCH IRGENDETWAS ERNST IM LEBEN? brüllte sie mich an, und wir droschen aufeinander ein wie zwei Boxer auf dem Rummel. In all den Jahren war so manches hochgekocht zwischen uns, doch ein Messer war bislang nicht im Spiel gewesen. Nicht bis zu diesem Tag.

Nicht bis zum 13. Juni 1995.

*

Als ich morgens um sieben vom Nachtdienst nach Hause kam, legte ich mich gar nicht erst hin, es lohnte nicht. Im Prozess gegen den Blödmann, der mich ein halbes Jahr zuvor im Nachtdienst überfallen hatte, war ich für 11 Uhr 30 als Zeuge geladen, vorm Landgericht Wuppertal.

Die Gräfin hatte Lust mich zu begleiten, aber keine Lust Auto zu fahren, also ließen wir den Golf stehen und nahmen früh um neun den Bus bis Wuppertal-Vohwinkel, von da ging’s weiter mit der Schwebebahn.

Landgericht Wuppertal, Saal 10b. Auf dem Gang roch es nach Bohnerwachs, wie im frisch gewichsten Porno-Laden. Der Prozess gegen Marc D. lief bereits seit zwei Stunden. Meine Aussage war erst für 11.45 vorgesehen, wie der Aushang bekannt gab. Marc D. hatte einiges mehr auf dem Kerbholz als den räuberischen Überfall aufs Turm-Hotel. Widerstand gegen die Staatsgewalt, Urkundenfälschung, Erpressung, Diebstahl.. Ich klopfte gegen die schwere Eichenholztür, ein Saal-Diener öffnete und drängte uns sofort auf den Flur zurück.

“Name?”

“Glumm. Ich bin Zeuge“

Stolz fügte ich hinzu: „Kein Angeklagter.”

Der Saal-Diener blickte auf einen Zettel. “Mh.. ja. Sie werden hier nicht mehr benötigt.”

“Was..? Wieso?”

“Keine Ahnung. Anordnung des Richters.” Er drückte mir ein Formular in die Hand, für Verdienstausfall und Erstattung der Fahrtkosten.

Na super. Da wollte ich einmal im Leben vor Gericht im Zeugenstand glänzen, wollte die entscheidenden Szenen des Überfalls schildern, gleichermaßen souverän wie mitreißend, da wurde ich stattdessen von Hilfskräften bereits auf dem Flur geblockt und nach Hause geschickt.

Auch die Gräfin war enttäuscht. “Ich wollte das Monster doch mal live erleben.”

“Dann gucken wir der Verhandlung eben zu“, sagte ich. “Ich meine, ist doch öffentlich oder nicht?”

Der Saal-Diener sperrte uns die Tür auf. Der Zuschauerraum war leer. Niemand interessierte sich für Marc D.

“Ist das der Typ?” flüsterte sie.

“Hm, ja, nehme ich an.”

Ich erkannte ihn kaum wieder. Innerhalb weniger Monate, in der U-Haft, schien er ein anderer geworden zu sein.

“Die Haare sind ganz anders.”

Beim Überfall in der Novembernacht hatte er eine blonde Stoppelfrisur getragen, jetzt war das Haar schulterlang und dunkel. In jeder x-beliebigen bundesdeutschen Fußgängerzone hätte man ihn als leicht verstimmten Sozialversicherungsfachangestellten durchgewunken. Zudem war er in meiner Erinnerung viel breiter, muskulöser gewesen. Das war doch ein Türsteher von einem Kerl gewesen, ein gehetztes Ein-Mann-Kommando, das mich im Hotel überfallen hatte. Was da jetzt auf der Anklagebank hockte, im olivgrünen Bomberblouson mit Schulterpolstern, war nur die abgespeckte U-Haft-Version eines Umschülers.

“Hast du mal wieder maßlos übertrieben”, meinte die Gräfin halb belustigt, halb enttäuscht. “Der sieht doch nett aus. Ein bisschen traurig, vielleicht.”

“Ein bisschen traurig…! Pff, genau! Der Arsch hätte mich glatt abgestochen, wenn keine Kohle in der Kasse gewesen wäre.”

“Siehst du.”

“Was, siehst du?”

“Du übertreibst schon wieder. Der hatte doch gar kein Messer beim Überfall.”

“Das wusste ich aber nicht. Das konnte ich nicht erkennen…”

Der Saal-Diener trat einen Schritt auf uns zu, legte den Zeigefinger auf den Mund. Psst!

“Ja, schon gut, schon gut”, nickte ich unwillig.

Die Gräfin holte den kleinen Zeichenblock für unterwegs aus der Jacke und begann den Angeklagten zu skizzieren. Dann den Richter, vor dem Hintergrund der Holzvertäfelungen, und zuletzt die grimmige Gutachterin der Rheinischen Landesklinik, wo Marc D. psychiatrisch behandelt worden war. Die Ausführungen der Gutachterin drehten sich darum, was alles falsch gelaufen war in der Jugend des Angeklagten. Sie schilderte, wie Marc D. während eines Krankenhausaufenthalts nachts in den Kreißsaal eingedrungen war und eine schwarze Messe gelesen hatte. Ein anderes Mal hatte er Jägermeister ins Weihwasser des Altenberger Doms gekippt, in dessen Nähe er aufgewachsen war. (Psst! machte der Saal-Diener. PSST!) Für sich genommen alles keine strafbaren Handlungen, so die Gutachterin, doch Fingerzeige für eine massive psychische Störung. Sie stufte Marc D. als unzurechnungsfähig ein. Die Rede war von einer gespaltenen Persönlichkeit, von Schizophrenie.

“Wenn’s danach geht, gehört die Hälfte der Menschheit in die Klapse”, sagte ich zur Gräfin und klang wie die Stimme des Volkes. „Was ist eigentlich mit meinem Leben? Kommt das noch?“

„Tja“, antwortete die Gräfin, „wie ich dich kenne, wird das auch noch verhandelt.“

„Wann?“

„Demnächst.“

Und dann, ganz plötzlich, drehte sich der Wind. „Mist“, fluchte sie. Sie war nicht zufrieden mit den Skizzen. „Irgendwie kommt immer das gleiche Gesicht raus.“

„Blödsinn“ sagte ich. „Das sieht doch gut aus.“

„Ach du. Du findest doch alles gut, was ich male. Sagst du wenigstens.“

Was war denn jetzt schon wieder los?

„Ach, nichts. Ich hab nur schlechte Laune.“

Sie war schlecht gelaunt, ich übermüdet vom Nachtdienst. Ich war seit über 36 Stunden auf den Beinen. Dauernd fielen mir die Augen zu. Ich hatte keine Lust mehr auf den ganzen Zirkus hier. Komm, sagte ich, fahren wir nach Hause. Einen Moment noch sagte sie. Die Ex-Freundin des Angeklagten wurde in den Zeugenstand gerufen. Sie trug eine 3/4-lange Gaudi-Hose und arbeitete als Aufsicht in einer Spielhalle. Eine brave Person. Sie sah aus, als hätten ihre Eltern erst gestern noch gesagt: Such dir einen Platz im Leben, Mädchen, und bleib schön dasitzen.

Sie sagte aus, dass Marc D. sie kurz vor seiner Festnahme mit vorgehaltenem Messer zu erpressen versucht hatte. “Entweder du kaufst die Sachen hier oder ich stech dich ab.”

Jeder schien von diesem Mädchen Dinge zu erwarten, ohne Rücksicht darauf, was sie vom Leben wollte.

“Abkaufen? Was für Sachen denn?” fragte der Richter überrascht.

“Na, so Sachen eben. Die er mitgebracht hatte. Es war ja alles in einem großen Koffer, den er in die Spielhalle mitgeschleppt hatte. Der Koffer war so schwer, er konnte ihn nicht alleine tragen, er musste ihn schieben. Und ich sollte ihm alles abkaufen, was da drin war. Meine Chefin stand in der Nähe und guckte mich an, als wäre ich nicht ganz bei Trost, dass ich mit Marc überhaupt noch redete.”

“Na schön. Und was war in dem Koffer nun alles drin?”

“Nichts Besonderes, Zeugs aus dem Haushalt, irgendein Krempel. Weiß ich nicht mehr. Eben… so Kram.“

Sie machte einen tieftraurigen Eindruck. Als wäre die Vergangenheit zurück, die schlimmen Tage, der bekloppte Kerl. Die Angst.

“Ich erkenne ihn kaum wieder. Er sieht aus, als wäre er… Er ist ein anderer Mensch geworden.”

„Siehst du“, flüsterte ich der Gräfin ins Ohr. „Sie sagt das auch.“

„Na und.“

Ich erinnerte mich, wie er, Marc D., mir in der Überfall-Nacht etwas von der Beute zurückgab, nachdem ich auf ihn eingeredet hatte, er solle den ganzen Scheiß mit dem Überfall besser lassen. Dass er sich nur unglücklich machen würde, für die paar Mark.

„Na, davon brauchst du deinem Chef ja nix zu sagen“, antwortete er schwerfällig.

„Wie meinst du das?“

„Na, er muss ja nichts von dem Überfall erfahren.“

„Mein Chef?“

„Ja klar.“

Ich dachte, er wollte mich verarschen.

„Ach nee. Und was ist mit dem Geld, das in der Kasse fehlt? Soll ich das etwa auf meine Kappe nehmen? Soll ich sagen, ach übrigens, Chef, ich hab alle Scheine aus der Kasse genommen?“

Daraufhin hatte Marc D. einen Moment hin und her überlegt und mir schließlich die Hälfte der 600 Mark wiedergegeben. Er zog die zerknüllten Geldscheine aus der Hosentasche und warf sie vor mich hin, auf den Tresen, wie lästige Wollkätzchen.

Der Staatsanwalt schloss sich dem Antrag der Verteidigung an, auch der Richter war einverstanden: Marc D., der teilnahmslos auf der Bank saß, wurde wegen Unzurechnungsfähigkeit freigesprochen und für dreißig Monate ins Rheinische Landeskrankenhaus eingewiesen. Der nächtliche Überfall aufs Turm-Hotel wurde im Urteilsspruch nicht einmal erwähnt, andere Anklagepunkte hingegen schon, etwa der Widerstand gegen die Staatsgewalt, als er bei seiner Festnahme einem Polizisten zwei Zähne ausgeschlagen und die Mittelhand gebrochen hatte.

Um 13 Uhr war die Sache durch. Durchs Treppenhaus folgten wir zwei Bediensteten des Landgerichts in die Kantine. Wir hatten Mordshunger.

“Hier stinkt es wie bei uns früher im Kaninchenstall”, meinte die Gräfin, die Nase hart im Wind.

Wir entschieden uns für Mittags-Menu No. 2, Lamm-Ragout, Salzkartoffeln, Salat, auch wenn wir bei der Bestellung kein gutes Gefühl hatten. Verdächtig war schon der konsternierte Blick der Kantinenwirtin, als ich das Tablett zur Kasse durchschob und “Zwei Mal Lamm” in die elektronische Kasse diktierte.

“Lamm…?”

“Ja, Lamm-Ragout.” Ich zeigte auf die Schiefertafel, auf der mit weißer Kreide die verschiedenen Tages-Menüs verhandelt wurden. „Da stehts doch.“

“Ach so, das Raguh”, winkte sie ab und schien sich kaum ein Kichern verkneifen zu können. Als wären die Gräfin und ich die ersten gewesen, die ein Lammragout tatsächlich für ein Ragout vom Lamm hielten, serviert in der Kantine des Wuppertaler Landgerichts. Und tatsächlich: Genauso schmeckte der Fraß dann auch.

Zurück in Solingen war es grade mal früher Nachmittag. Auf der Mummstrasse beobachten wir einen Streit unter Eheleuten. „Dann tue ich eben das, was ich schon immer tun wollte!“ rief eine junge Frau. Sie stieg wutentbrannt in ihr Auto und knallte die Tür zu. „Da reden wir heut Abend noch drüber“, erwiderte ihr Mann, der im Hauseingang zurückblieb. Als ich ihn anblickte, guckte er schnell weg.

Wir gingen ins Mumms. An guten Tagen herrschte im Mumms eine Atmosphäre, als wäre da noch ein Hinterzimmer, in dem Geld gefälscht wurde. An schlechten Tagen nicht.

„Glummi, zartes Wesen!“ begrüßte mich der Geschäftsführer. Die Gräfin verdrehte genervt die Augen. Das Mumms war zunehmend ein rotes Tuch für sie. Ich stieg in eine Runde Pfennig-Skat ein und die Gräfin zog los, ihre Freundin Rita von der Arbeit abholen. Wir verabredeten nichts. Das war auch besser so. Ich hatte seit zwei Tagen und Nächten kein Auge zugetan und war völlig überdreht. Die ersten Bier gingen wie Eilmeldungen runter.

“Nee, das tu ich mir nicht an”, meinte die Gräfin, bevor sie sich vom Acker machte.

Es wurde kein guter Abend, auf der ganzen Linie nicht. Ich verlor Geld beim Kartenspiel, ich soff wie ein Loch, und irgendwann, es ging auf Mitternacht zu, schaute zu allem Überfluss auch noch meine Stammdealerin zur Tür rein. Ein angedeutetes Kopfnicken und ich folgte ihr wie ferngesteuert nach draußen, zog in ihrem Auto ein Näschen. Kurz vor der Sperrstunde tauchte im Mumms die Gräfin wieder auf. Ich hatte nicht mehr mit ihr gerechnet. Sie hatte Wein getrunken, bei Rita. Sagte sie. Das stimmte auch. Dennoch machte ich ihr eine Szene, weil ich ihr das nicht abkaufte. Warum auch immer, wenn ich betrunken und auf Schore war, brauchte ich keinen Grund, um Ärger zu machen, es reichte, dass jemand zum falschen Zeitpunkt auftauchte und mir meine Freiheit nahm, meine Freiheit, mich umzubringen, wann und wo auch immer ich mich umzubringen gedachte.

“Ich ertrage deine winzigen Heroinpupillen nicht mehr”, wandte sie sich angewidert ab.

Nach einigen Cheeseburgern und Apfeltaschen im MacDonalds wankten wir nach Hause. Stress lag in der Luft, wir kabbelten uns wie die Bierkutscher.

„Du bewegst dich wie ein Gespenst durchs Leben, du verpestest die Luft mit deiner Passivität!“ warf sie mir vor.

Tatsächlich war Mitte der Neunzigerjahre eine üble Drogenzeit. Ich war noch nicht wirklich auf Heroin, umschiffte die körperliche Abhängigkeit, indem ich immer wieder kleine Entzüge einschob, die mich drei, vier Tage im Bett kosteten: bei dünnem Schlaf, die Bettwäsche geflutet mit Schweiß und Nikotin, Zwicken im Rücken, ganze Familienpackungen Papiertaschentücher vollgerotzt, maulfaul, lesend – das war der Kollege Gegenrausch, wie ich ihn nannte und fürchtete.

Das hellwache Abarbeiten von Heroin. Nicht schlafen können. Nicht eine einzige Nacht Schlaf finden. Nicht zwei Nächte, nicht drei Nächte: nein. Vier Nächte hintereinander kein Auge zugetan. Ja doch, zu vielleicht, aber dahinter war die Hölle los! Hinter den Augen.

Die Alkoholexzesse.

Nach sieben Nächten Dienst im Hotel fieberte ich dem ersten freien Tag entgegen, dem Montag, den ich grundsätzlich bis zur Besinnungslosigkeit vertrank. Wenn darauf noch eine Nase Pulver kam, stand ich kurz vorm letzten Gong. Zurückblickend würde ich sagen: Glück gehabt, Junge. Du hattest sie nicht mehr alle.

Zuhause angekommen ging die Gräfin gleich ins Bett und wollte, dass ich mich zu ihr lege, damit der Abend wenigstens friedlich endete, doch in meinem bräsigen Schädel meinte ich unbedingt, noch ein paar Seiten lesen zu müssen, im fünften Buch von Armistead Maupins Stadtgeschichten aus San Francisco.

“Nur ein paar Seiten, nur ne Viertelstunde, dann komm ich rüber.”

Dann fand ich das Buch von Maupin nicht und schnappte mir irgendeine Illustrierte, ein Stadtmagazin. Als ich kurz darauf zum Klo stolperte, riss ich aus Versehen einen großen Glasaschenbecher zu Boden. Von dem Lärm wachte sie auf, sie war weinschwer weggedämmert, und sofort lief alles falsch. Ihr ganzer Zorn entzündete sich daran, dass ich nicht ins Bett wollte, an ihre Seite. Sie steigerte sich in erste Beschimpfungen, “du bist so kalt”, weil ich so lässig in der Illustrierten blätterte, so aufreizend teilnahmslos, ohne sie eines Blickes zu würdigen, während sie vor mir stand und mich abkanzelte.

“Was willst du eigentlich”, sagte ich, “ich komme gleich rüber, in zehn Minuten, höchstens ne Viertelstunde… Ich will nur noch ein bisschen.. meine Ruhe haben und lesen.”

Ich hatte einfach keine Lust auf irgendwelche Vorhaltungen, aber meine Gleichgültigkeit machte alles noch schlimmer. Erste Gegenstände flogen. Nichts Weltbewegendes: der noble alte Hut von Pepe, der ihr zufällig an der Garderobe in die Hand fiel, der Korb, in dem meine Notizbücher gestapelt lagen – harmlose kleine Attacken, auf die ich nicht reagierte. Das brachte sie zum Überkochen. All die vertanen Jahre! Sie donnerte meine Zimmertür mit einer Wucht gegen die grüne Kommode, dass die Türangel vom Pfosten brach.

Sie brauste in ihr Zimmer. Ich hörte ihr wütendes Schnauben, ihre alkoholisierte Verzweiflung. Sie wolle jetzt ficken, hörte ich, nicht mir beim scheiß Zeitungslesen zugucken. Ficken, ficken!! Ich untersuchte die kaputte Tür. Als einen Moment Ruhe herrschte, und ich schon drei Kreuze machen wollte, hörte ich plötzlich ihre entschlossenen Schritte, barfuß.

Sie baute sich vor mir auf.

“Guck dich doch an! Wo ist denn da noch was… Menschliches? Du bist nichts als ein Stück Scheiße! Du verrottest und guckst dir dabei auch noch seelenruhig zu!”

Je ausfallender sie wurde, desto kälter wurde ich. Ich rührte mich nicht mehr. Ich war kein Mensch mehr. Ich zog mich zurück auf diesen winzigen Punkt in mir, den emotionalen Nordpol. Das Blut stockte in den Adern.

Unter Tränen machte sie kehrt und lief in die Küche.

“DU BIST SO KALT! ICH BRING DICH UM!”

29 Gedanken zu „Du bist so kalt

  1. Gestern las ich bei Knausgård ähnliche Dramen. Selbst hab ich auch schon (in einem andern Leben) solches erlebt. Boah. Nie mehr will ich das.
    Und ich hoffe, dass das auch bei euch Vergangenheit ist?!!!
    Dennoch: Hut ab, wie ehrlich du erzählst. Und dass das eure Liebe überlebt hat.

    Like

  2. Messerfuchtelnde Damen.
    Männer, die in die Messer greifen, weil Sie zu doof/dicht/stoned sind, um nach dem Handgelenk zu greifen.
    Blut. Spritzendes Blut. Blutende Menschen, die Ihre blutenden Gliedmaßen unter laufendes Wasser halten und bei der Gelegenheit fast verbluten.
    Genervte Notärzte um 4 Uhr nachts.

    Und das alles nur wegen dem Alk. Meistens. Koks eher seltener.
    Mein Gott wie oft hat man das schon erlebt.
    Es war immer voll assi. Immer scheiße. Immer solche Idioten.
    Schwachköpfe.
    Mein Gott.
    Man kann Sie heute immer noch in den Straßen rumlaufen sehen.
    Sie werden nicht schöner. Oder wahlweise gescheiter.

    Gefällt 1 Person

  3. Pingback: Erwartungen erfüllen? | Sofasophien, Fallmaschen & Herzgespinste

  4. Du bist ja auch ein Trinker, Drogie, Multiuser u.s.w..
    Darüber lässt Du ja Deine Umgebung, und die ist mittlerweile, Internet und so, Du weißt bescheid, recht groß geworden, nicht im Unklaren.
    Wenn Du auch was in der Birne hast,
    die entscheidenden Dinge lässt Du nicht an Dich ran.
    Aber das iss bei Alkis so.
    Der Grund, warum man mit Messern aufeinander los geht, ist immer ein anderer.
    Der BVB hat verloren, der Fön bläst, die Frau ist „irgendwie“ doof, am Ende ist dann immer die Mutter schuld. Oder deren Erziehung.
    Oder die unerreichbare Vaterfigur.
    Eh Mann………………………..
    Es ist der Alk.

    Like

  5. Mich macht das noch traurig, beim lesen. Auch, wenn ich die Geschichte schon vor langer Zeit las. Weil ich das kenne, in abgewandelter Form. Leergut statt Messer. Der Rest war ähnlich, Gier statt Nähe. Wir haben das nicht lange ausgehalten…ist fast 30 Jahre her.

    Grüße aus dem Tal der Wupper!

    Like

  6. Glückwunsch zum Aufhören, die Leber bedankt sich bestimmt auch und hat sich wahrscheinlich inzwischen längst wieder erholt. Und die Gräfin verdient Bewunderung, in schweren Zeiten zu Dir zu halten und nicht aufzugeben. Du bist ein Glückspilz!

    Like

  7. Herr Glumm, Andreas.
    Ich lese dieses (diesen?) Blog, dein/Ihr digitales Tagebuch nun schon eine Weile. Mit und manchmal hinterher. Einmal von ganz vorne. Jetzt noch sporadisch. Aber: Ich denke, es ist an der Zeit mit dem recyclen aufzuhören. Die Texte von Damals sind fertig. Die Geschichten sind erzählt. Sonst ist das wie ’ne Alzheimerbude hier. Ich krieg dieselben Geschichten immer wieder erzählt. Nein! Mach mal was. Neues. Tu dir den Gefallen und erfinde eine Figur, die nichts mit Andreas Glumm zu tun hat. Oder eine Figur, die wenigstens nicht Andreas Glumm heißt… bitte

    Gruß florian

    Like

    • Deutlich ist okay.
      Aber:
      Erstens betrachte ich den Blog tatsächlich als meine Werkbank, wo ich an den Texten arbeite bis ich das Gefühl habe, jetzt stimmts. (Und der Leser kommt praktisch in meine Werkstatt und guckt mir über die Schulter, wie weit ich bin. Wäre das nicht so, ich würde längst fertige Bücher verkaufen.)

      2. schreibe ich nicht nur für Stammleser, sondern auch für Leute, die neu hinzukommen oder nur ab und an mitlesen. Die kennen viele der alten Geschichten nicht, und die müssen auch angefixt werden bis sie Stammleser sind.

      Du siehst, all die Wdh. und überarbeiteten Versionen 45 & 46 unterliegen straffer PLANUNG.

      Trotzdem hast du natürlich recht. Ich bewege mich zu viel in bereits Geschriebenen, und das wird sich auch erst ändern, bis ich wie auch immer endlich und unumkehrbar zum Abschuss komme.

      Like

  8. Eigentlich kann es mir ja wurscht sein…………….
    Aber was soll’s.
    Ende 70er, Anfang 80er. Bukowski, Fauser, etwas Kerouac. Man war ja mit wenig zufrieden.
    Mittelstandkids, die am Geruch der großen, gefährlichen, weiten Welt schnüffelten.
    Nur wenig später waren Wir die Leute, vor denen uns unsere Eltern immer gewarnt haben.
    Und voll, vielleicht nicht ganz so extrem, aber doch in ähnlicher Situation.
    Nach Jahren merkt man, alles hohl und hundsgemein.
    Und noch ein paar Jahre später, nachdem ein paar Freunde im Suff verreckt sind oder an drugs, stellt man fest, es waren verlorene Jahre.
    Es war einfach scheiße, miese Kneipen, blöde Feten, immer die gleichen Arschlöcher, immer die gleichen abgelutschten Sprüche.
    Saufen, Kiffen sonst noch was. Langweilig.
    Ich bereue es nicht, es ist mein Leben, es musste so sein.
    Aber darüber schreiben ? So toll war es einfach nicht.
    Eigentlich haben Wir gar nix erlebt !! Nix !!
    Es war doch immer das Selbe. Manchmal kriege ich eine richtige Wut.
    Wobei das total ungerechtfertigt ist, Millionen andere haben die gleiche Vita.
    Die Segnungen des westlichen Kapitalismus ? Vielleicht.
    Wobei, je länger ich darüber nachdenke ……………………………

    Like

  9. Pingback: Lesestoff - Ausgabe 83 - DenkfabrikBlog

  10. Da die Kommentare schon älter sind,beiss ich mir mal sozusagen auf die Zunge.Anfang 2000 war ich voll drauf.ich konsumierte täglich Schore,drückte mir das Zeug auch noch und wenn ich doch mal nichts hatte,trank ich am Tag einige Kappen DHC-Saft.zwei Erfahrungen hab ich gemacht,die ein Mensch wohl besser nicht machen sollte.in den 90ern war ich mit meinen Eltern im Urlaub.seit Jahrzehnten machen die beiden Urlaub in Zwischenahn in Norddeutschland.um ein wenig Abstand vom ganzen Junkgedöns zu bekommen,fuhr ich mit ihnen.ich hab mich ein oder zweimal abgesetzt,bin mit dem Zug nach Bremen zur Platte gefahren,das waren aber so läppische Minibubbles,daß ich drei Wochen eigentlich nur DHC-Saft gegen den Turkey hatte.ich hab keine Ahnung was genau im Körper abgeht,aber bei Codein kommt der Stoffwechsel zum absoluten Stillstand.man ißt ein Tag normal,man muß nicht auf’s Klo,man ißt zwei Tage,drei,vier,eine Woche,zwei Wochen-und man war immer noch nicht kacken.irgendwann poolt man mit dem Löffel da unten rum,um die knochenharten Kotsteine aus dem Körper zu bekommen.man blutet wie ein Schwein,der Kot hat fast den Umfang eines Babykopfs.man erleidet Höllenqualen.ich kannte ein Mädel,bei der ging nichts mehr,bei ihr half nur noch ein künstlicher Darmausgang.Heute ist DHC-Saft verboten.warum die Ärzte damals diesen Dreck verschreiben durften und kein Methadon,wird wohl ein Geheimnis bleiben.jedenfalls buchte ich 2000 drei Wochen Sommerurlaub in Thailand mit meiner Frau.ich wollte ihr nicht den Sommer versauen,woher ich die Kohle dafür hatte,weiß ich nicht mehr,ich schätze Kredit.ich nahm ein Gramm Schore mit,sonst nichts.kein Methadon,kein Codein,nichts.ich ließ es drauf ankommen.außerdem gibt’s in Thailand doch gute Schore,hatte ich gehört.es fing damit an,daß wir in Bangladesch Zwischenstopp hatten.hätten die mich gefilzt und das Gramm gefunden,was gar nicht mal so unrealistisch gewesen wäre,hätte das in diesem Land bitter enden können.war mir anscheinend egal,ich weiß es nicht.in Thailand drückte ich mir am ersten Tag das Gramm weg und dann ging es los.der Turkey packte mich ohne große Vorankündigung.es war Jahre her,daß ich auch nur einen Tag ohne Opiate war.am ersten Tag schleppte ich mich noch die Promenade entlang und sprach jeden zweiten Typ nach H an,aber außer Grass gab’s da nichts.ich holte 20g Grass,in der verzweifelten Hoffnung,daß mir das irgendwie helfen könnte.ich rief Toni in Deutschland an und bettelte ihn an,mir was mit der Post ins Hotel zu schicken.das Problem war,daß genau zu dieser Zeit Songrahn,das thailändische Staatsfest gefeiert wurde.und das feiern die Thais eine ganze Woche-in der auch die Post geschlossen bleibt.das bedeutete:kalter Entzug.ich hab mal gehört,daß ein Mensch nach ein paar Tagen schlafen muß,sonst stirbt man.auf Pep hatte ich mal bis zu vier Tagen durchgemacht,aber dann war Feierabend.ich schwöre,daß ich in Thailand,außer daß ich hin und wieder diesen Sekundenschlaf hatte,vierzehn Tage nicht geschlafen habe.nach vier,fünf Tagen wollte ich mit meiner Frau wenigstens mal essen gehen,nachdem eh schon der komplette Urlaub natürlich versaut war.bis dahin hatte ich die komplette Zeit im Bett verbracht,wie gesagt ohne Schlaf.ich war zwei Schritte aus dem Hotelzimmer raus und schiß mich von oben bis unten voll.die Kontrolle über meinen Schließmuskel hatte ich komplett verloren.die Kontrolle über meinen Körper.Grippe,Darm Grippe alles gleichzeitig durchgehend, aber dabei noch diese innere Unruhe,die einem nicht nur vom Schlaf abhält,sondern ab einem gewissen Punkt zu einer totalen Erschöpfung,verbunden mit schweren Depressionen führt.nach zwei Wochen ging es besser.ich konnte schlafen,konnte wieder unter Leute und allmählich kam auch die Lebensfreude zurück.genau da kam Post von Toni…eigentlich komm ich darauf,weil das,was meine Frau damals mitgemacht hat,darf man keinem zumuten.sie hat sich später mit einer intensiven Kokainbasesucht an mir „gerächt“, so viele Abende,wo sie auf allen Vieren durch’s Wohnzimmer kroch,weil sie auf dem Teppich noch ein Korn Koks erhoffte-das war fast genauso krank.Natürlich war unsere Beziehung längst völlig kaputt und es gab auch Tage,wo wir kurz davor waren uns die Köpfe einzuhauen.2002 haben wir uns getrennt.

    Like

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..