„Unser Türkenhaus brennt!“ Pfingsten 1993: Der Brandanschlag von Solingen

Es gerät allmählich in Vergessenheit, man redet kaum mehr davon, nicht in meiner Heimatstadt. Vor fast 30 Jahren steckten jugendliche Nazis in der Nacht von Pfingstfreitag auf Pfingstsamstag das Fachwerkhaus einer türkischen Großfamilie in Brand. Ein Anschlag in unmittelbarer Nachbarschaft, bei dem 5 Mädchen und Frauen ihr Leben ließen und ein Opfer schwerste Verbrennungen erlitt. Schon am nächsten Mittag kam es zu ersten Protesten der türkischen Community. Eine Woche lang entlud sich der Zorn auf die Täter und die Gleichgültigkeit vieler Deutsche in gewaltvollen Tumulten in den Straßen der Innenstadt. Der daraus resultierende Polizeieinsatz entwickelte sich zum größten der deutschen Nachkriegszeit. Das Bild, das sich mir am meisten eingeprägt hat: das Gebiet rund um den Schlagbaum, ein Meer aus weißen Polizeihelmen.

*

29. Mai 93, Pfingstsamstag

Die Luft steht drückend und schwül über der Stadt, als ich früh um halb acht vom Nachtdienst nach Hause komme und mich hinlege. Keine zwei Stunden später bin ich schon wieder wach und starre erschöpft zur Decke. Hitze und hohe Luftfeuchtigkeit machen mir zu schaffen. Ich sehne mich nach tiefem Schlaf, nach mehr als bloß drei Stunden zusammengestoppelter Not. Nach tiefen, zusammenhängenden Träumen, die einem nach dem Aufwachen noch ein Weilchen begleiten.

Mittags klopft es ans Fenster. Ich bin sofort da. Das Klopfen kenne ich. So laut, so fordernd klopft nur mein Bruder. Da brauche ich gar nicht erst durch die roten Lamellen der Jalousie zu spinksen, ob vielleicht das Auto eines Bekannten vor der Tür steht. Wenn mein Bruder ans Fenster klopft, steht er mit den Fingern praktisch schon am Bett und zerrt an mir.

„Bruder..! Aufmachen!!“

„Moment..“ Genervt steh ich auf und öffne das Fenster. „Was ist?“

„Mach mal auf…“ Seine Augen sind zu Schlitzen zusammengezogen, wie graue kleine Briefeinwürfe für schlechte Nachrichten. „Am Bärenloch hat es heut Nacht gebrannt. Es gibt vier oder fünf Tote.. alles Türken.“

„Was ist los…?“ Die grelle Mittagssonne beißt in den Augen – ich kapiere nicht. „Wie, alles Türken..?“

„Am Bärenloch hat ein altes Haus gebrannt.. Ein Anschlag, Schalt das Radio ein. Alles ist in Bewegung, die ganze Stadt vibriert. Los, mach hin..“

Ich lasse ihn rein.

„Ist Sanne nicht da?“ fragt er.

„Nee. Sie ist Einkaufen, glaub ich.“

Während ich mich anziehe, erzählt er, was los ist. Was er gehört hat. Viel ist es nicht. Eigentlich nur das, was auch das Radio bringt. Ein Brandanschlag auf ein von Türken bewohntes Haus. Mehrere Menschen verletzt, es gibt Tote.

Beim Zubinden der Schuhe fällt der Groschen. Mitten in der Nacht, als ich im Turmhotel vorm Fernseher saß und eine alte Kojak-Folge schaute, waren plötzlich jede Menge Sirenen zu hören, ein endloser Mahlstrom aus Polizei, Feuerwehr und Notarzt.

„Da war richtig Alarm, nachts um zwei.“

An sich nichts besonderes. In schwülen Sommernächten, zumal bei Vollmond und an Wochenenden, sind Feuerwehr und Notarzt im Dauereinsatz. Die Leute hauen sich aufs Maul, sie kippen von ganz allein um, weil der Kreislauf schlappmacht. Also bin ich sitzen geblieben im Chefsessel vorm Kabelfernseher und hab einfach weiter ferngesehen, Lieutenant Theo Kojak, “entzückend, Baby..!”, während sich draussen die Katastrophe anbahnte. Ich hatte ja keine Ahnung.

Im Park laufen uns die Gräfin und Daisy in die Arme, vollbepackt mit Tragetaschen und Plastiktüten.

„Schau an, die Herrschaften“, stöhnt die Gräfin genervt, „könnt ihr gleich mal anfassen und..“

„Am Bärenloch hat’s gebrannt“, unterbreche ich sie und nehme ihr einen Teil der Einkäufe ab. „Es soll fünf Tote gegeben haben.“

„Was??!“

„Ja, fünf Türken“, sagt mein Bruder, fast schon missmutig. „Oder vier.“

„Wir haben auch was gehört, oben im Laden, aber da war von Brandstiftung die Rede“, meint Daisy blass, „nicht von Toten..“

„Das waren die Nazis“, ist die Gräfin sich sicher.

Wir bringen die Einkäufe rein und machen uns auf die Socken Richtung Nordstadt.

„Ausgerechnet am Bärenloch“, sagt mein Bruder.

In der Gegend ist unser Vater aufgewachsen, wir Kinder sind mit seinen Erzählungen vom Bärenloch groß geworden. Was er vom Bärenloch erzählte, einer Wildnis voll mit Brombeerbüschen und Baumbuden, klang in unseren Ohren wie Geschichten aus Tausendundeiner Nacht. Es hatte einen fernen dunklen Zauber und war von kindlicher Zärtlichkeit durchdrungen, aber immer auch ein wenig gefährlich.

Vaters Kindheit trug schon früh die Armbinde der Hitlerjugend, er war noch klein gewesen, als die Nazis die Macht ergriffen, der beginnende 2. Weltkrieg lugte schon um die Ecke. Dennoch war das Bärenloch für uns Kinder stets gleichbedeutend mit Romantik, und nicht mit Fremdenhass und brennenden Fachwerkhäusern.

Leute begegnen uns, die von einer ersten spontanen Demonstration aufgebrachter Türken am Schlagbaum berichten, einer Sitzblockade. Wir ziehen die steile Schlachthofstraße hinauf. Ein großes düsteres Gemurmel liegt über der Nordstadt, das je lauter und bedrohlicher anschwillt, je näher wir dem Bärenloch kommen. Wir sind träge und verschwitzt. Die Sonne drückt. Die hohe Luftfeuchtigkeit ist wie Schweinebauch, der beständig auf den Grill tropft. Man hört es zischen, das tropfende Fett.

Jeder ist mit sich selbst beschäftigt. Fünf tote Menschen, mitten unter uns, und die Anschläge von Mölln und Rostock liegen nicht weit zurück.

„Die Nordstadt ist fest in türkischer Hand“, sagt mein Bruder, „Wenn das wirklich Brandstiftung war und die Täter Neonazis, dann geht hier die Post ab. Das ist ein Wespennest.“

„Stimmt“, meint auch die Gräfin. „Da wohnt ein Haufen Grauer Wölfe. Die lauern nur auf eine Gelegenheit, es den Deutschen zu geben. Den Deutschen und den linken Türken. Jede Wette, die Wölfe sitzen schon im Hinterzimmer der Moscheen und basteln Mollis.“

Sie war eine Weile mit einem in Deutschland geborenen Alleviten zusammen, der Probleme mit den Grauen Wölfen hatte. Sie kennt sich in einer Szene aus, die Deutschen normalerweise verschlossen bleibt.

„Für die Grauen Wölfe sind tote Türken in Solingen ein gefundenes Fressen. Da können sie den Deutschen endlich aufs Maul hauen. Das sind Faschos. Die hassen Deutschland, die hassen unsere ganze Demokratie. Die sind nur hier, weil sie in der Türkei gesucht werden.“

„Das sind doch nicht alles Graue Wölfe“, wendet Daisy ein, bleich und außer Puste. Sie wohnt in unserer Nachbarschaft.

„Natürlich nicht. Aber die heizen die Stimmung an. Und wenn es dann knallt, dann richtig.“

Am Schlagbaum biegen wir in die Kuller Strasse ein, von da aus ist es nicht weit bis zum Bärenloch, das mittlerweile ein großzügig angelegter Park ist. Von überallher strömen Menschen zum Tatort, Hubschrauber knattern heran. Das abgefackelte rußige Fachwerkhaus taucht unvermittelt auf, an der Unteren Wernerstraße. Wie ein  Gespenst reckt sich die Ruine in den Himmel, inmitten benachbarter Häuser, die nichts abbekommen haben und so intakt und adrett dastehen, als könnten sie selbst nicht glauben, was in ihrer Mitte geschehen ist. In ihrer Mitte, in unserem Namen.

Die Sicht auf die Ruine wird von aberhundert Menschen versperrt, nur der Dachstuhl ist aus jeder Position gut zu erkennen, ein Gerippe aus verkohlten Balken. In den oberen Fensterkreuzen wehen Blumensträuße, darüber eine rote Flagge, der türkische Halbmond. Es stinkt verbrannt. Ein Geruch, der mich an die Kindheit erinnert, wenn nach einem langen Sommer die Kohleöfen in Gang gebracht wurden und schwarzer Rauch aus den Schornsteinen stieg.

Überall bekannte Gesichter. Man nickt sich betreten zu. Ausgerechnet Solingen, wa?

Ausgerechnet Solingen. Ja. Nicht zu fassen.

Ekki, mein immer cooler Ex-Trainer vom RSV, kommt auf mich zu und umarmt mich, ohne ein Wort zu sagen. Er hat Tränen in den Augen. Jetzt bin ich tatsächlich fassungslos. Ich fühle mich merkwürdig hartherzig, weil ich keine Tränen habe. Doch wie kann ich weinen, wenn ich nicht verstehe. Ich kapiere überhaupt nicht richtig, was los ist. Wieso.. hier bei uns?

Ein Bundesgrenzschutz-Hubschrauber donnert so niedrig über die Minute für Minute anwachsende Menge hinweg, dass die Menschen sich unwillkürlich wegducken und so klein wie möglich machen, bis der Helikopter endlich abdreht und überm weitläufigen Bärenloch zur Landung ansetzt.

„Da sitzt der Seiters drin!“ ruft jemand gereizt. Es klingt fast, als käme der Teufel persönlich, um nachzuschauen, ob auch wirklich die bestellte Arbeit abgeliefert wurde. Im Hintergrund ertönt ein Wehklagen, ein vereinzelter arabischer Singsang, eine Litanei, die sich nicht lokalisieren läßt.

Ich hab Gänsehaut.

Wir drängeln uns durch bis zum Haus, kommen endlich zum Stehen vor einer Absperrung. Niemand sagt etwas. Ab sofort wird dieses Stück Erde geweiht sein, prophezeie ich der Gräfin und meinem Bruder. Das wird ein Wallfahrtsort. Auf dem Grundstück sind Wäscheleinen gespannt, an denen noch Kleider und Kinderunterhosen hängen, weiße Hemden, ein Stofftier, ein Strampelanzug. Jemand hat ein Hakenkreuz in den Sand gezogen, mit den Schuhen. Es ist spiegelverkehrt.

Die Toten sind zwei kleine Kinder und drei Frauen einer türkischen Großfamilie. Die Feuerwehr sei zu spät eingetroffen, hört man, und habe wegen der vielen parkenden Autos an der Unteren Wernerstrasse Schwierigkeiten gehabt, die Drehleiter auszufahren. So sei wertvolle Zeit verstrichen. Ein Kleinkind soll aus dem zweiten Stock aufs Pflaster geknallt sein, weil es das Sprungtuch verfehlt habe. Es heisst, die junge Mutter habe oben im brennenden Fenster gestanden und das Kind in Panik fallen gelassen. Ein weiterer junger Türke liegt angeblich im Koma, die Haut zu zwei Dritteln verbrannt.

Die Gräfin macht mich auf beschriftete Einmachgläser aufmerksam, neben dem von rot-weissen Absperrbändern gesicherten Hauseingang. Die Gläser stehen auf einem kleinen Betonsockel. Teppich-Probe Eingangsbereich, entziffert sie eins der Etiketten. Probe Fußmatte. Labor.

„Das Haus hat gebrannt wie eine Fackel“, spricht ein Anwohner in ein orangefarbenes ZDF-Mikrofon. Er ist umringt von Presseleuten mit Notizbüchern und Diktiergeräten. „Die Schreie haben mich geweckt. Wann das war? Das war gegen.. na, halb zwei. Eine Frau hat ein kleines Kind im Arm gehalten und stand im brennenden Fenster.. ja.. ein kleines Kind. Dann ist sie gesprungen. Da vorn schlug sie auf, auf dem Beton.. ja.. da vorn..“

„..ja.. da war die Feuerwehr schon da, aber die haben.. nein, so schnell nicht..“

„.. so schnell konnten sie das Sprungtuch nicht aufspannen..“

Innenminister Seiters taucht auf, mit Gefolge. Er wird mit schrillem Pfeifkonzert und Buhrufen empfangen. „Who the fuck is Seiters?“ spottet mein Bruder. „Kohl müsste hier sein. Aber der taucht ja ab, wenn’s brenzlig wird.“

Als die Pfiffe abgeklungen sind, stellt sich der Minister der Presse. Er spricht von einer Schande für Deutschland und der ganzen Härte des Gesetzes, die die Täter zu spüren bekommen würden. Tatsächlich wurden in der Nacht Skinheads beobachtet. Mal sind es drei, mal nur einer, mal eine ganze Gang. Doch wie viele es auch immer es waren, in jeder Version, in jeder Zeugenaussage flüchten die Täter Hals über Kopf in Richtung Bärenloch, sobald das Feuer ausgebrochen ist. Als wären sie selbst überrascht gewesen, wie lichterloh so ein Haus brennt, wenn man es anzündet.

Die Rede ist von vier stadtteilbekannten Skins. Einer soll gerade mal sechzehn sein und hier auf der Unteren Wernerstrasse wohnen,  im Nachbarhaus.

„Vier Skinheads? So viele Skinheads gibt’s hier doch gar nicht“, sag ich.

„Was..? In ganz Solingen keine vier Skinheads?“ zieht mein Bruder die Augenbrauen hoch. „Hast du das Zählen verlernt?“

„Quatsch. Ich mein nur, hier gibt’s keine echte rechte Szene.“

„Aha.. Nur weil man kaum Kids in Springerstiefeln durch die Gegend rennen sieht, SS-Runen auf den rasierten Schädel?!“

Ich geb mich geschlagen. Immer mehr Auswärtige fluten die Gegend rund ums Bärenloch, hauptsächlich Türken und andere Südländer, zornige junge Männer, die eine Arena betreten. Ihre Arena. Sie kommen von überall her, die Autokennzeichen verraten es. Bochum, Duisburg, Dortmund. Der ganze Westen ist verteten. Aufruhr liegt in der Luft.

„Ich krieg es mit der Angst“, meint die Gräfin. „Die Jungs haben in der Höhle des Löwen gezündelt. Die können froh sein, wenn sie mit dem Leben davonkommen. Die werden gelyncht, wenn die Türken sie in die Finger kriegen.“

Sie will nach Hause. Sie mag keine Gewalt, erst recht keine, die in der Luft liegt und der man noch entrinnen kann. Daisy und die Gräfin nehmen ein Taxi, während mein Bruder und ich am Bärenloch bleiben.

„Passt auf euch auf.“

Die Sorge ist nicht unberechtigt. Noch am Abend knallt es zum ersten Mal. Ich gerate in eine Situation, wo mich ein aus dem Nichts heranfliegender Stein nur um Haaresbreite verfehlt. Als ich mich umdrehe, im Laufen, beobachte ich einen Heckenschützen im dunklen Hauseingang, der mit einer Zwille auf mich zielt. Ich weiss bis heute nicht, was das sollte. Wieso ich das Ziel sein sollte.

Doch eins liegt bereits auf der Hand, wo der Anschlag gerade mal zwölf Stunden alt ist: Solingen ist kein Kaff wie das niedersächsische Mölln, wo Neonazis ebenfalls ein von Türken bewohntes Haus ansteckten, und Solingen ist auch nicht Rostock-Lichtenhagen, wo vietnamesische Asylbewerber auf der Flucht vor dem Mob fast gesteinigt wurden, wo es ansonsten aber so gut wie keine Ausländer gibt, die nach Vergeltung gieren.

Solingen ist anders.

Zusammen mit dem angrenzenden Ruhrgebiet und dem Köln-Düsseldorfer Raum ist die Stadt ein Schmelztiegel mit Hunderttausenden von Türken, die einen Mordanschlag auf ihre Landsleute nicht einfach hinnehmen, die Gerechtigkeit fordern, die Rache schwören, die Steine aus dem Pflaster reissen und Lynchjustiz suchen.

Der Gedanke ist kaum da, schon beginnt an der sechsspurigen Verkehrskreuzung am Schlagbaum die erste Sitzblockade. Erst sind es bloß ein paar versprengte Gestalten, die sich auf dem glühenden Asphalt niederlassen, schnell sind es Hunderte, trotz der beissenden Hitze. Autoreifen werden wie aus dem Nichts herangerollt, übereinander getürmt und angezündet, Matratzen aus dem nahen Bettenmarkt in Brand gesteckt.

Der Schlagbaum lodert am hellichten Tag. Es ist ein hasserfülltes und nach Gummi stinkendes, mächtiges Spekatakel, ein weithin sichtbares Lagerfeuer.

Zwei Spuren Richtung Innenstadt werden von Demonstranten auf eigene Faust abgesperrt. Richtung Südstadt geht gar nichts mehr. Polizei läßt sich nicht blicken, nicht ein einziger Streifenwagen ist zu sehen. Die wenigen Autos, die nicht in der Schlange stehen und abwarten, kurven vorsichtig um die Blockierer herum, in Schrittgeschwindigkeit. Niemand murrt, es gibt kein Gehupe, ziviler Gehorsam überall, schon im eigenen Interesse. Alle ahnen, dass nur ein einziger winziger Funke fehlt, und die nächste Katastrophe nimmt ihren Lauf.

Am späten Nachmittag, ein bisschen Polizei ist dann doch aufmarschiert, beruhigt sich die Lage, und die Solinger Lokalpresse lässt kostenlos ein Extra-Blatt verteilen:

MIT KIND IM ARM IN DEN TOD GESTÜRZT

Ein spontaner Trauermarsch bewegt sich zum Bärenloch, flankiert von Kolonnen türkischer Taxifahrer aus Duisburg und Bochum, die stolz und aufsässig zugleich Einzug gehalten haben. Zum Schluss sind es über zehntausend Bürger, die schweigend Richtung Tatort marschieren. Noch nie habe ich in den Straßen der Stadt auch nur annähernd so viele Menschen gesehen. Es ist, als habe erst die Tat dafür gesorgt, dass eine Stadt plötzlich ihre Stimme findet. Auch wenn es vermutlich nur der Schock ist, der die Leute auf die Strasse treibt, die pure Ohnmacht. Immerhin, die Stadt zeigt Gesicht.

Sprechchöre flammen auf in türkischer Sprache, ebben ab, fluten wieder an, wütend, scheitern. Niemand weiß, wohin mit seinem Zorn und seiner Trauer. Ein bisschen die Strasse rauf und runter spazieren, soll es das gewesen sein? Die Atmosphäre ist seltsam heiß und morbide, und hat doch etwas zartes.

Dass es ausgerechnet am Bärenloch passiert ist, wo mein Vater in den 30er Jahren aufwuchs, zu einer Zeit, als das Bärenloch ginster- und brombeerüberwucherte Wildnis und grosse Freiheit war, macht sowohl mich als auch meinen Bruder ratlos. Wir können es nicht einordnen. Das Bärenloch ist von den unzähligen Geschichten unseres Vaters geprägt, es ist das verlorene Paradies seiner Kindheit, und damit auch unseres, auf immer und ewig.

Und jetzt das hier.

*

30. Mai ’93, Pfingstsonntag

Der Generalbundesanwalt erlässt am Nachmittag Haftbefehl gegen einen 16jährigen Hauptschüler aus Solingen. Nach drei weiteren Komplizen wird gesucht. Sie haben aus Frust gezündelt, heißt es, weil sie zuvor auf einer Party, die in einem Schrebergarten stattfand, Hausverbot erhalten hatten.

Unter den Tätern ist ein Arztsohn, dessen Vater ich zufällig kenne. Wir haben 1980 gemeinsam Fußball gespielt in der Auswahl des Städtischen Klinikums, wo ich Zivildienst machte. Ein Liberaler, ein Linker, der sich für Ärzte gegen den Atomkrieg engagierte und auf dem Sportplatz vor Einsatzfreude nur so sprühte, der immer gute Laune hatte. Wieso fackelt sein 15jähriger Sohn das Haus einer türkischen Familie ab, als wäre es lästiger Abfall? Und was kann er als Vater dafür?

Wieso erwähne ich überhaupt, dass der Sohn Arztsohn ist?

Am Abend beginnt für mich die letzte von sieben Nachtdiensten. Das Hotel ist komplett ausgebucht. Pausenlos klingelt das Telefon, Leute aus aller Welt fragen an, ob Zimmer frei sind. Mein Chef macht das Geschäft der Saison. Die Preise ziehen an.

„Sagen Sie, Herr Glumm, können Sie noch eine Besenkammer von zu Hause mitbringen?“ strahlt der Chef. „Oder ein Schuhschränkchen, das können wir dann auch noch als Zimmer verkaufen, für einen Tausender die Nacht.“

Hat der gute Laune. Kein Wunder, alle wichtigen Fernsehsender haben Reporter und Kamerateams vor Ort, selbst aus Frankreich und England reisen Medienleute an, Radioleute aus Russland übernachten im Auto. Auch der Los Angeles Post muss der Chef per Telefon absagen: Sorry, sorry! We’re so sorry, no room, Sir, no! No Room!!

NO!

Absurde Situationen an der Rezeption. Der Nachrichtensender n-tv wiederholt just in dem Moment seine Schalte zum Bärenloch, als derselbe Reporter, der angeblich gerade LIVE vor der Brandruine zu sehen ist, vor der Rezeption auftaucht und lauthals seinen Zimmerschlüssel verlangt. Als gleichzeitig seine Stimme aus dem Fernsehapparat hinter mir plärrt, so sonor, so souverän, so verdammt LIVE, muss ich lauthals auflachen, es platzt regelrecht aus mir heraus, so absurd ist das ganze, doch der Anchorman aus der zweiten Reihe verzieht nicht mal die Miene, als er an den Tresen tritt.

Bis spät in die Nacht läuten Telefone, laufen Fax-Nachrichten ein, hocken Techniker des WDR im Frühstücksraum und nehmen ein letztes und ein allerletztes Bier. Der Tresen ist zugeparkt mit Journalisten, die in die Redaktionen telefonieren. Die ganze Welt will wissen, warum Neonazis ausgerechnet in Solingen zugeschlagen haben, diesem kreuzbraven Nest.

Eine wichtigtuerische ZDF-Fresse, die ich aus den Nachrichten kenne, schleppt einen ganzen Hofstaat mit sich herum und fragt den Nachtportier, mich, ob ich als Solinger Kontakt zu Neonazis habe. Ob ich schnell was klarmachen könne, ein Gespräch, quasi auf die Faust, doch ich guck woanders hin. Neben ihm rattert ein Journalist routiniert seinen Text per Telefon durch, ich höre:

In der Feuerwehrleitstelle laufen in der Brandnacht 37 Anrufe von Anwohner ein.  Einer davon, Originalton, Unser Türkenhaus brennt! Nur allmählich kehrt Ruhe ein im Hotel. Ich setze mich hinten ins Büro, will eine Kippe rauchen, etwas relaxen, da läutet das Telefon. Diesmal ist es für mich, die Gräfin. Sie ist für zwei, drei Tage nach Soest geflüchtet, wo ihre Lieblings-Oma im Krankenhaus liegt, immer noch, es ist das Herz. Sie liegt im Sterben.

„Oma Soest schläft viel“, erzählt sie, und wie immer, wenn die Gräfin weg ist, und sei es nur für wenige Tage, bin ich froh, ihre Stimme zu hören. Ihre Stimme ist mein Abklingbecken. „Wenn Oma Soest wach wird, ist sie ganz verwirrt. Sie zupft an der Bettdecke wie ein kleines Mädchen und summt Hope hoppe Reiter, wenn er fällt, dann schreit er.“

Ich muss lachen. Bin froh, mal was anderes zu hören.

„Ist eigentlich nicht zum Lachen“, meint die Gräfin, und lacht leise. „Als ich heute an ihrem Bett gesessen hab, sagt Oma Soest plötzlich, leg dich doch zu mir. Ist doch genug Platz im Bett.“

„Und? Hast du dich dazugelegt?“

„Natürlich.“

„Wann kommst du zurück?“

„Wenn es vorbei ist, mit Oma.. Im Moment muss man ja nicht daheim sein, um mitzukriegen, was sich abspielt in der Stadt. Läuft ja alles im Fernsehen. Pass auf dich auf.“

Sie erkundigt sich noch, ob ich mir nicht langsam mal ein Hobby zulegen könnte, wie andere Männer auch, „Fußballbildchen einkleben oder so“, damit sie sich nicht immer sorgen müsse. Wir verabschieden uns mit Küssen, die immer kleiner werden und herunterdimmen, das dauert.

Später sitz ich im Chefsessel vorm Fernseher und schau mir wie jede Nacht eine alte Folge von Kojak an, Einsatz in Manhattan, „entzückend!“, aber ich kann mich nicht konzentrieren. Eher beiläufig nehme ich ein Rumpeln wahr. Ein Geräusch, als würden Müll-Container übers Kopfsteinpflaster geschoben, unten in der Fußgängerzone. Erst denke  ich mir nichts dabei, die Geräusche der Stadt kommen in fünfzig Metern Höhe häufig verzerrt an, bis mir aufgeht, da unten ist ja gar kein Kopfsteinpflaster, ausserdem ist es mitten in der Nacht  – also, was ist da los? Was treiben die da unten?

Und wer zu Henker soll das überhaupt sein – die ?!!

Ich wechsle in den Frühstücksraum, zu den riesigen Panoramafenstern, die einen grandiosen Ausblick übers Bergische Land bieten, und kann dabei zusehen, wie elf Stockwerke unter mir, im phosphorgelben Licht der Laternen, eine aufgeputschte Menge in einer breiten Schneise über den Graf-Wilhelm-Platz spurtet – so rasch, als zöge jemand in Sekundenschnelle ein Schleppnetz aus Menschen über den grossen kahlen Platz.

Pflastersteine werden geschleudert, Schaufenster angesprungen, parkende Autos umgestoßen. Ich sehe, wie eine Telefonzelle und Plexiglasverkleidungen einer Bushaltestelle mit Baseballschlägern zertrümmert werden. Bis in den elften Stock ist das Geklirre von Schaufensterscheiben zu hören, zum Teufel.. das ist.. Revolution!!

ANARCHY IN SG!

Vom Tumult überrumpelt, der sich unter mir in der Stadt abspielt,  strecke ich die Faust zur Decke, brülle in die Nacht hinaus:

„JUNGS! JAAA..!!“

Es dauert keine Minute und Dutzende Streifenwagen und Wannen bretttern heran, die Hauptwache Goerdeler Strasse ist keine dreihundert Meter entfernt. Blitzartig teilt sich die schwarzgekleidete Menge in kleine Grüppchen, stiebt auseinander. Einige flüchten in Richtung Eingang Turm-Hotel. Da ist Sackgasse, Jungs, da kommt ihr nicht weiter – da ist Schluss, verdammt! rufe ich.

Ich rase zur Rezeption, sehe im Monitor, wie die Burschen, viele mit PLO-Tüchern und Motorradhelmen vermummt, vor die verschlossene Eingangstür laufen und nicht weiterwissen, während die Polizei ihnen schon den Rückweg abschneidet. Ich zögere einen Moment, öffne dann per Summer die Eingangstür im Erdgeschoss, und die Gruppe, es sind nicht mehr als fünf oder sechs Personen, verschwindet hastig im Treppenhaus. Wenn sie clever sind und sich ein bisschen vor Ort auskennen, können sie übers Parkdeck Rot das Weite suchen, hinten zur Tankstelle raus.

Einheiten der Polizei, die nicht wissen, wo ihnen der Kopf steht, lassen die Brüder flüchten und machen kehrt, mit kreiselndem Blaulicht und Martinshorn, zurück zur Wache.

*

31. Mai ’93, Pfingstmontag

 

Turmhotel Solingen, 1993 (Ill. Susanne Eggert)

*

Sieben Uhr morgens. Als die Chefin zur Frühschicht einmarschiert, um mich abzulösen, stapft sie erstmal zum Kühlschrank in der Hotelküche und entnimmt eine gekühlte Cola. Setzt die Flasche an und trinkt sie in einem Zug leer. Sie stöhnt wie eine dicke Concierge im Pariser Hochsommer.

„O la la, ist das schwül da draußen, Herr Glumm, ich schwitze jetzt schon wie ein Schwein, puh..! Haben Sie gesehen, was die Chaoten da draussen angerichtet haben heut Nacht?! Unsere ganze schöne Innenstadt liegt in Trümmern.“

Unsere was? Unsere ganze schöne.. Innenstadt? Wovon spricht die Chefin? Seit die gesamte Altstadt am Ende des zweiten Weltkriegs ausgebombt wurde, ist Solingen eine architektonische Katastrophe. Geblieben ist, was in den 50ern wieder aufgebaut wurde, ein schmucklos-ängstliches Ville Beton nix gut. Der Wiederaufbau war wie das letzte nachträgliche Verbrechen der Nationalsozialisten und hat mit schön nichts am Hut. Bis auf die vielen Hofschaften, die den Krieg überstanden haben. Die sind schön. Was da aber kaputtgegangen war in der Nacht, war bloß Glas.

„Ich guck mir das mal an da draussen“, verabschiede ich mich in meine Freiwoche.

In der Fußgängerzone sind Dutzende Schaufenster zu Bruch gegangen. Mit Ausnahme türkischer Einzelhändler und einer Musikalienhandlung am Schlagbaum, deren Inhaber Jugoslawe ist, sind alle Läden betroffen. Griechische Pommesbuden sind sogar extra plattgemacht und besprüht worden. Auch vor meiner Stamm-Kaffeestube am Graf-Wilhelm-Platz, wo die leckeren ofenwarmen Rosinenschnecken gebacken werden, türmen sich Splitter und Schutt.

„Wir sind nicht versichert gegen Glasschaden“, klagt Inhaberin Rosi, die mit ihrem Mann eine große Dämmplatte an der Stelle anbringt, wo mal ein Schaufenster war. Die Beiden haben ihre letzten Kröten in den Laden gesteckt, und urplötzlich schäme ich mich für die Revolution, für meine nächtliche Begeisterung fürs Kaputtschlagen.

Scheiß Anarchie, denk ich, so aus der Nähe betrachtet.

Alles Scheiße.

Die Innenstadt ist eine einzige Reparaturmaßnahme. Überall wird genagelt, gehämmert, geküppert. Als Notbehelf werden Pressholz-Platten eingezogen, wo vorher Fenster waren – die beauftragten Schreinerbetriebe haben so viel zu tun, sie kommen mit der Arbeit nicht mit.

Sogar Teile der elektrischen Oberleitung der O-Busse sind abgerissen, hängen zu Boden wie schlaffe Tonleitern. Plünderer sollen noch in der Nacht unterwegs gewesen sein, was ich nicht recht glauben mag, bis mir auf den Treppenstufen vorm Kaufhof ein Kleiderständer auffällt, mit lauter leeren abgefressenen Bügeln.

„Alter, hat das geknallt heut Nacht!“ grüßt Benno, ein Junkie, der gern vorm Kaufhof abhängt. Heute ist er besonders früh dran. Das lässt er sich nicht entgehen, den herrlichen Krawall. Er kickt eine zerdepperte Bierpulle vor sich her und setzt sie gegen eine Hauswand, wo sie in noch kleinere Scherben zerspringt.

„Wie in Kreuzberg, Alter! Ja, wa?“

Am Straßenrand sammeln sich die braven Bürger der Stadt, und ihr Palaver klingt längst nicht mehr so reserviert wie tags zuvor, als man sich noch schämte für die einheimischen Täter. Das ist Geschichte, das ist vorbei, jetzt heisst es: Chaoten, Autonome und türkische Krawallbrüder, alle mal hergehört! Verpisst euch aus unserer schönen Stadt!

Benno, der Junkie, zieht den Kopf ein und trollt sich. „Mach’s gut, Alter.“

Am Nachmittag findet im Bärenloch ein großes Benefizkonzert statt. Zur gleichen Zeit ziehen tausend zornige Türken zum Polizeipräsidium an der Goerdeler Strasse. Sie wollen Gesinnungsgenossen befreien, die in der vorangegangenen Nacht festgenommen wurden. Wieder fliegen Steine, diesmal zwischen rivalisierenden türkischen Gruppen: Linke Kurden gegen Graue Wölfe. Die Innenstadt befindet sich permanent im Ausnahmezustand. In den anderen Ortsteilen dagegen bleibt es ruhig und beschaulich, im gepflegten Sound der Vorgärten.

Mein erster freier Abend nach einer Woche Nachtdienst ist traditionell mein Abkicktag, wo ich mir einen ansaufe. Ich bin schon früh im Mumms. Es ist so rappelvoll wie sonst nur am Wochenende. Autonome aus Wuppertal und Berlin holen sich Tipps, wo in der Stadt sich Fluchtwege auftun, falls es in den Kampf Mann gegen Mann geht. Stadtpläne liegen aus für Auswärtige.

„Und sonst? Wie isses? Immer noch Nachtportier?“ näselt Micks, der Eilpostfahrer, dem die Stimme vom vielen Koksen schräg überm Jochbein sitzt und den ich lange nicht gesehen habe. Ich nicke missmutig. Ich meine, mal im Ernst – gibt es irgendwo auf der Welt einen dämlicheren Job für einen Mann Mitte Dreißig? Es sei denn, man hat keine Ambitionen. Dann geht Nachtportier in Ordnung. Habe ich denn keine Ambitionen? Verdammt, keine Ahnung!

„Ist garantiert psychisch bedingt, glaub mir das“, nuschelt Micks, „das mit dem Nachtdienst.“

Ich weiß nicht genau, was er damit meint, schätze aber, er hat Recht.

„Wo ist die Gräfin?“

„In Soest“, sag ich. „Auf der Flucht.“

„Vor dir?“

„Vorm Chaos.“

„Also doch vor dir“, meint der Micks und lacht.

In den TV-Nachrichten kommentiert RTL die Ausschreitungen der letzten Nacht mit dem schönen Satz, von der Nordrhein-westfälischen Landesregierung zum Nichtstun verdonnert, antwortet die Polizei mit voorsichtigem Schlagstock-Einsatz, und der Tresen im Mumms flackert vor Gelächter.

Nach Mitternacht statten wir der Brandruine einen Besuch ab. Wir, das ist in diesen Tagen eine wechselnde Geschichte, und auffallend oft ist mein Bruder mit von der Partie. Karlos lässt sich nicht blicken, Schnaat auch nicht. Der dicke Hansen weiß vermutlich nicht mal, was überhaupt passiert ist in unserer Stadt.

Die Kamerawagen der TV-Stationen, zu erkennen an ihren Satellitenschüsseln, parken die Bürgersteige am Bärenloch auch noch zu nächtlicher Stunde zu. Die Ruine wird mehr und mehr zum Wallfahrtsort. Ein Meer aus Kerzen und Teelichtern, Blumen liegen auf dem Bürgersteig. Zwei Tage schon brennt ein Mahnfeuer, immer wieder neu angefüttert. In der ersten Nacht, so erzählt man sich, hätten sich aufgebrachte Türken die Kleider vom Leib gerissen und in die Flammen geworfen, wie bei einer Teufelsaustreibung.

Das Haus wirkt merkwürdig unbeteiligt. Die Fenster im Erdgeschoß sind mit Pappe zugestellt, auf eine Fensterbank hat jemand kleine Babyschuhe abgestellt. Transparente, zuvor auf den Demonstrationen durch die Strassen getragen, füllen die Fenster wie Vorhänge, fast alle mit türkischen Parolen, nur eines ist auf Deutsch: „UN-Truppen nicht nach Kuwait, sondern nach Bosnien und Solingen!“

Ich bin unrasiert, seit Tagen.

„Du siehst allmählich selbst aus wie ein Schwarzkopf“, sagt mein Bruder, „mit deinen Killerstoppeln.“

„Na, das sagt der Richtige! Verdammter Hippie!“

Mitten in der Nacht verfolgen wir den Einzug der nächsten Welle türkischstämmiger Rächer, vollbesetzte Wagen, die Kennzeichen abgeklebt und den roten Halbmond aus dem Fenster flatternd.

Als wir gegen drei Uhr auf dem Heimweg sind, geht urplötzlich ein Gewitter nieder. Es blitzt und donnert, der Regen steppt in den Strassen wie der Zorn Gottes, und ein Schwall warmer Blütengerüche weht um die Ecke. Wie zur Erinnerung, dass Sommer ist.

„Friede“, murmelt mein Bruder.

*

1. Juni ’93, Dienstag

Der Mitsubishi Boy ruft mich an. Er ist vor zwei Jahren nach Hamburg gegangen.

„Ich häng die ganze Zeit vorm Fernseher und versuche, einen von euch Vögeln zu erkennen, aber nie ist einer zu sehen. Hängt ihr alle nur im Mumms rum? Geht ihr nicht auf die Demos? Oder habt ihr noch gar nicht mitgekriegt, was bei euch los ist, ihr Loser? ES HAT GEBRANNT IN SOLINGEN!“

Dann erzählt er, dass er sich eine neunzig Kilo schwere Heimorgel gekauft habe. „Funktioniert zwar nur noch zur Hälfte, aber zum Berühmtwerden müsste es gerade noch reichen, hab ich mir überlegt.“

In Verbindung mit einer Vernissage will er dann vom Niedergang dieser Republik singen und im Sommer die Heizung voll aufdrehen, damit Energieriesen wie RWE auch was abkriegen von seinem neuen Reichtum.

„Die sollen nicht leer ausgehen.“

Kaum hab ich aufgelegt, ruft die Gräfin aus Soest an. Sie ist traurig.

„Ich glaub, Oma Soest lebt nicht mehr lange.“

Ihre Mutter, die Onkel und Tanten wollen nun dafür sorgen, dass sie aus dem Krankenhaus kommt und daheim sterben kann, im Kreise der Familie.

„Oma Soest hat die schönsten und krummsten Finger der Welt, da steckt der ganze Schmerz des Lebens drin.“

Als kleines Mädchen schaute die Gräfin ihrer Lieblingsoma fasziniert dabei zu, wie sie in der Küche zauberte, niemals musste Oma Soest eine Waage zu Hilfe nehmen, sie mengte und würzte alles nach Gefühl. Und wie lecker sie dabei gerochen hat, nach Nivea und nach Essenmachen, für die Gräfin der leckerste Geruch der Welt, bis heute.

Zum Abschied sagt sie, ich solle aufpassen, wenn ich auf eine Demo gehe.

„Nicht, dass du dir einen Stein einfängst und blind wirst. Lach nicht. Kann doch passieren. Ein blöder Querschläger, und das war’s. Wärst du nicht der erste, dem das passiert.“

„Okay. Ich halt mich zurück“, sag ich. „Du kennst mich doch.“

„Na, eben, deswegen. Du hast ein Talent für den falschen Moment, du Blödmann. Eigentlich brauchst du einen Leibwächter, der nur darauf achtet, dass du das Richtige tust, vierundzwanzig Stunden lang. Ach was, vierundzwanzig. Achtundvierzig! Zweiundsiebzig!“

„Ist ja gut.“

Später Nachmittag, nächster Protestmarsch. Ich bin nur noch auf der Strasse. Das ist meine Stadt, das ist meine Strasse, das sind meine Toten.

Einmal, als der Zug am Mumms vorüberzieht, sehe ich eine Reihe Stammgäste vor der Tür stehen, mit dem Glas Bier in der Hand, so wie ich sonst auch vorm Mumms stehe, ein Bier in der Hand, dämlich glotzend.

Nachdem es in der Nacht zuvor erneut gekracht hat und auch die allerletzte noch intakte Schaufensterscheibe in der Innenstadt zu Bruch gegangen ist, lese ich an einem Geschäft: Glasschäden – der Verkauf geht weiter. Die neuen Öffnungszeiten werden gleich daneben auf dem mit Pappkarton zugeklebten Fenster gepinselt:

11.00 –  TUMULTBEGINN

Die Polizei greift härter durch – von nun an werden die Kinnriemen der Helme fest gezurrt. Die Jagd ist eröffnet. Vor allem auf Autonome, die aus der ganzen Republik anreisen, haben die Bullen es abgesehen, auf den schwarzen Block. Selbst die GSG 9 kommt aus Berlin. Es ist ein beinah hypnotischer Moment am späten Nachmittag, als die Sonne ihr Varietelicht aufs Pflaster wirft und wir zu Tausenden über die Goerdeler Strasse marschieren, als plötzlich Rufe laut werden, „guckt mal links rüber.“

Viele bleiben stehen und beobachten die Szene, die sich auf der anderen Strassenseite abspielt, in einer Seitengasse. Wie Cowboys fläzt die GSG 9 auf Treppenstufen und Fahrzeugen, eine einzige breitschultrige Masse selbstbewusster Kerle, die es kaum abwarten können, vor die Tür zu gehen und mitspielen zu dürfen. Doch bis dahin: extra-lässiges Abwarten..

Bei Anbruch der Dunkelheit findet auf dem zentralen Mühlenplatz eine Protestveranstaltung der Gewerkschaft statt. Ich treffe Leute, die lange nicht in der Stadt waren und nun nach dem Rechten sehen wollen. TB, seit Jahren in Berlin bei Synanon untergekrochen, einer umstrittenen Drogenselbsthilfe, klatscht mich ab.

„Alter.. gibt’s doch nicht..!“ ruf ich. „DER TB!“

Das letzte Mal in seiner Heimatstadt war er Ende der 80er, als er beim dicken Hansen übernachtete. Dem TB dann freundlicherweise gleich in der ersten Nacht dreihundert Mark und den fabrikneuen Audi 80 klaute. Die Bullen stellten TB keine Stunde später auf der Autobahn, kurz vor der holländischen Grenze.

TB, ein Gesicht wie aus der Asservatenkammer der Gesichter, zerfurcht, zerbombt, zerschlagen, beklagt sich, das man ihn heute bereits aus zwei Solinger Kneipen rausgeworfen habe, warum?

„Nur weil ich in schwarzen Klamotten rumlaufe. Die halten mich alle für einen Autonomen“, grinst TB, der lange Schlaks. „Mögt ihr keine Autonomen? Ich bin doch nur ein schwarz gekleideter Ex-Junkie.“

Mit dem Wagen vom dicken Hansen wollte er damals nach Rotterdam knattern, erzählt er ungefragt. Und dann?

„Den Wagen zu Geld machen, von dem Geld Schore kaufen, mit der Schore zurück nach Berlin, Kasse machen. Das übliche halt.“

„Genialer Plan“, sag ich.

TB legt mir den Arm um die Schulter.

„Alter, du glaubst gar nicht, wie froh ich bin, endlich clean zu sein.“

Ich glaube ihm kein Wort. Selbst das T in TB sieht irgendwie gestohlen aus. Als ich mich umdrehe, läuft mir der gute alte Kitty über den Weg. Der alte Super-Kapitalist. Auf dem Gymnasium teilten wir früher die Schulbank und diskutierten leidenschaftlich. Er verteidigte das Geld, ich das Geld der Menschen. Er lebt schon lange in den USA, leitet die deutsche Niederlassung der Commerzbank für Nordamerika. Pool Position.

„Und du? Was machst du so?“ fragt er aus diesem etwas zu klein geratenen, spöttischen Mund.

„Ich protestiere“, sag ich.

Nach Reden von Lokalpolitikern und Gewerkschaftern marschieren ein paar tausend Demonstranten zur Unteren Werner Strasse. Es ist die fünfte oder sechste Demo, bei der ich dabei bin, ich komm mit dem Zählen nicht mehr mit, aber eins ist sicher: Zum ersten Mal ist die Polizei mit ganz großem Aufgebot dabei. Wir fühlen uns wie Bundesliga-Hooligans, die vorm Match von der Bereitschaftspolizei zum Stadion begleitet werden, damit sie nicht aufs feindliche Lager treffen.

Bloß, da ist kein feindliches Lager, nirgends.

Nirgends lassen sich Nazis blicken, die man bekämpfen könnte, niemand ist vor Ort, der sich mit offenem Visier in den Weg stellt und ruft, Jawohl, ich verbrenne Kinder, ich verbrenne türkische Frauen, ich verbrenne Türken, ich bin ein Nazi-Schwein! Und weil das niemand sagt, demn man das vorhalten könnte, endet auch die Randale nicht. Der Zorn auf die Brandstifter, der Hass auf die schweigende Mehrheit, für die der ruinierte Ruf der Stadt wichtiger ist als der Tod von Menschen, findet kein anderes Ventil.

Die Täter sitzen, obwohl längst gefasst, immer noch daheim.

Der nächste Demonstrationszug  führt am Mühlenhof-Kino vorüber. Der Titel des Hauptfilms der laufenden Woche, der in grossen Lettern überm Eingang prankt, wirkt wie ein Menetekel: FALLING DOWN. Michael Douglas spielt einen stinknormalen Bürger, der sich eines Tages gegen die Welt erhebt, die ihn triezt, reglementiert und klein hält. Er startet einen Amoklauf. Ein ganz normaler Bürger, der andere ganz normale Bürger tötet.

FALLING DOWN.

Und dann rauscht am Schlagbaum, der großen Verkehrskreuzung, die eigentlich abgesperrt ist, ein weißer Volvo in das Ende des Protestzugs. Niemand weiß, woher der Wagen so plötzlich gekommen ist. Ein Mädchen, 15 Jahre alt, wird auf die Motorhaube geschleudert.

„NAZIS!“ brüllt jemand.

Mein Bruder wird kreidebleich. Der Volvo, HA – Hagener Kennzeichen, versucht zu flüchten, wird von aufgebrachten Türken verfolgt. Zwei Streifenautos schneiden dem Wagen in letzter Sekunde den Weg ab. Stoppen ihn, zerren zwei Männer aus dem Wagen. Deutsche, militärisch kurzer Haarschnitt, Doc Martens Stiefel. Pflastersteine fliegen aus den angrenzenden Gärten, Polizisten reißen ihre Schutzschilder hoch, schützen die beiden Nazis vor jungen Türken, schnell sind weitere Streifenwagen da. Die Stimmung in der Stadt ist auf dem Siedepunkt.

Erneut lodern rund um den Schlagbaum Brände auf, Hubschrauber des Bundesgrenzschutzes donnern im Tiefflug über die Stadt, setzen Sondereinsatzkommandos ab, es herrscht Krieg. Wieder wabern Gerüchte durch die Stadt. Angeblich bringen Kleinlaster, angemietet von jungen linken Türken, dauernd Nachschub heran. Neue Schläger, neue Knüppel, neue Stahlkugeln für die Zwille.

Aber die Bullen sind präsent, in feuerfesten Einsatzanzügen. Eine dritte Nacht mit Millionenschaden soll es nicht geben. Das Viertel am Schlagbaum ist ein Meer aus Tausenden weißer Polizeihelme. Leuchtpistolen werden abgeschossen, linke und rechte Türken, abgedrängt in Seitenstrassen, schlagen mit Holzlatten aufeinander ein, aus denen Nägel stehen.

Es folgt die bislang härteste Nacht, ich bin nicht dabei. Ich bin müde, ich hab die Schnauze voll, ich geh nach Hause. Als ich im Bett liege, höre ich die Kämpfe aus der Innenstadt, es klingt wie das Geblöke von Kampfschafen bei Vollmond.

*

3. Juni ’93, Donnerstag

Heute findet die offizielle Trauerfeier für die Opfer statt, für den kommenden Samstag ist eine letzte Groß-Demo geplant mit 50.000 Teilnehmern. Die vier Brandstifter sitzen in U-Haft. Außer einem bereits inhaftierten 16jährigen drei weitere Solinger im Alter zwischen 15 und 23 Jahren. Alle wohnen in der Nähe des Tatorts und waren dafür bekannt, im Bärenloch irgendwelchen paramilitärischen Scheiß veranstaltet zu haben.

In der Lokalpresse wird eine Skizze veröffentlicht, wo sich minutiös verfolgen lässt, welchen Weg das Quartett in der Nacht von Freitag auf Pfingstsamstag zum Bärenloch genommen hat, nachdem es auf einer Party in der Schrebergartensiedlung Gabelsberger Strasse rausgeschmissen wurde. Zur Strafe, schworen sie, sollte das Türkenhaus am Bärenloch büßen.

Ich verfolge die mit Pfeilen versehenen Wegstrecke mit dem Finger. Selbst die eingezeichneten Abkürzungen gehe ich im Geiste mit. Auch wie die vier gezielt die BP-Nachttanke am Schlagbaum aufsuchen und einen Kanister Benzin kaufen, ist nachvollziehbar. Aber nicht, was sie in dieser schwülen Nacht geredet haben mögen. Da hört es auf. Das funktioniert nicht. Ich kenne ihre Sprache nicht. Ich weiß nicht, was vier angetrunkene Nazis zwischen 16 und 24 labern in einer Frühsommernacht. Wie sie sich gegenseitig hochpushen bis sie am Ende im Eingangsbereich des Türkenhauses den Brandbeschleuniger auskippen und Feuer anzünden.

*

5. Juni ’93, Samstag

Auch wenn die Strassen voller Leute sind, mich kotzen die vielen Einheimischen an, die sich nicht zeigen, die nicht auf die Strasse gehen und sich wegducken, als ginge sie das alles nichts an.

„Was soll ich auf einer Demo?“ meint Hilda, ein Deutsch-Spanierin, die ich vorm Mumms treffe. „Ich hab den Türken doch nichts getan, ich hab denen kein Feuer unterm Arsch gelegt.“

„Natürlich nicht“, sag ich, „aber du lebst genauso hier wie ich und bist an der Stimmung beteiligt, die in der Stadt herrscht und so eine Tat erst möglich macht.“

Das sieht längst nicht jeder so. Auch Hilda nicht.

„Blödsinn. Dann müssten ja auch all die Politiker mitlaufen und Buße tun, die das Asylrecht so gut wie abgeschafft haben und den Eindruck vermitteln, dass alle Ausländer Schmarotzer wären.“

Taxifahrer-Paul erzählt, dass die meisten Fahrgäste schon nach einer Woche nur noch stöhnen und nichts mehr hören wollen von dem Anschlag. Und wenn das Thema doch aufkommt, ist die betroffene Großfamilie Genc dran. Besonders die Gerüchte um eine angebliche Millionenspende des Bertelmanns-Konzerns heizen die Atmosphäre auf. Als könnte noch so viel Geld tote Kinder aufwiegen. Ich könnte kotzen.

Geld kotzen.

„Sollen sie doch zufrieden sein“, hörte Taxifahrer-Paul von einem Fahrgast. „Die sind doch jetzt stinkreich, die Türken. Wer weiss, ob das Ganze nicht ein abgekartertes Spiel war.“

Wahrscheinlich gibt es Leute, die es lieber gesehen hätten, wenn die Türken nicht verbrannt, sondern von echten Solinger Klingen erstochen worden wären. Das hätte Stil und Tradition gehabt. Es fehlt nicht mehr viel, und die Familie Genc hat das Feuer selbst gelegt, um einen neuen Hobbykeller abzugreifen.

Neid ist ein nachhaltigeres Gefühl als Scham, auch wenn beides Hand in Hand geht. Ich schäme mich für Solinger, die einer Familie, die nicht nur fünf Menschen, sondern auch jegliches Hab und Gut verloren hat, jeden Pfennig missgönnen.

„Die saufen ihr Wasser demnächst aus goldenen Armaturen, und ich? Was ist mit mir!? Wer hilf mir!?“

Niemand.

*

6. Juni ’93, Sonntag

Statt der erwarteten fünfzigtausend Leute sind es nicht mal fünfzehntausend, die sich am Samstag zum großen Finale versammeln auf dem staubigen Platz am Weyersberg, wo sonst Autos parken und der Zirkus gastiert. Tausende Autonome aus dem ganzen Bundesgebiet und linke Türken verbrüdern sich gegen Graue Wölfe, und alle zusammen schlagen auf die Bullen ein.

Yüksel, ein türkischer Taxifahrer, den ich schon lange kenne, erklärt die plötzliche Radikalität seiner Landsleute damit, dass man in der Heimat traditionell überzeugt sei, jeder Türke sei als Soldat geboren. Mich nervt das ganze nur noch. Die Auto-Korsos, die Pfeifkonzerte, der ganze beschissene Hass, der ständig geschürt wird, alles geht mir auf die Nüsse. Vor allem der schwarze Block scheint auf nichts anderes als Krawall aus zu sein. Wie alle Spießer haben sie ein fest umrissenes Feindbild, es ist unumstößlich: Bullen sind Schweine, daran wird nicht gerüttelt. Ich seile mich ab. Ich bin erledigt. Erschöpft. Es reicht mir.

Ich will mein Leben zurück.

Ich lasse mir nicht von vier hergelaufenen Kindermördern das Leben rauben.

Weil ich schon mal in der Nähe bin, klingle ich bei Fleschkönigs, er wohnt am Weyersberg. Flesch, ein Prinz aus dem Poesiealbum meiner Kindheit. Er trug schon als Junge das rote Haar schulterlang, und ich hab noch etwas gut bei ihm, seit er mich 1965 im Sandkasten beschissen hat, bei einem Tauschgeschäft. Er ergaunerte von mir ein fast nagelneues Matchboxauto, einen hummerroten Maserati, während er im Tausch nur einen gelben Plastik-Citröen herausrückte, eine 2CV, eine miese Ente, bei der auch noch die Räder vorne blockierten.

„Du hast noch was gut bei mir“, hat er versprochen, als ich ihn kürzlich an den Beschiss mit der kleinen Plastikente erinnerte, und jetzt ist es soweit, ich werde sein Versprechen einlösen.

Ich klingele, und tatsächlich, Flesch öffnet. Er ist nicht allein, er hat Besuch. Ein Kumpel ist da. Zu zweit hängen sie auf der Couch ab, bis zum Kragen von Pulver eingelullt. Sie verfolgen im dritten Programm eine Live-Reportage von der Groß-Demo in unserer Stadt, genauer gesagt, vor ihrer Haustür. Das Pfeifkonzert kommt in Stereophon: links live von der Strasse, rechts live aus dem TV-Gerät, es ist eine ohrenbetäubende skurrile Live-Installation.

„Flesch, was hältst du von der ganzen Sache?“ rufe ich, nachdem er mir eine Line Schore gestreut hat, und Flesch, immer noch schulterlange rote Locken, Sonnenbrille X-Large, die Augen auf Halbmast, entgegenet: „Alter, ich guck mir das seit Tagen in der Glotze an, aber mir ist das alles zu heftig. Nee, im Ernst, muss ich nicht haben.“

Nicht ein einziges Mal habe er in der vergangenen Woche den Fuß vor die Türe gesetzt, obwohl er mitten im Kampfgeschehen wohnt. Andererseits, was soll ein Junkie auch da draußen? Solange er nur genug Material im Haus hat und im Fernsehen alles live übertragen wird.

„Scheiße, ich kack ab“, murmelt sein Kumpel, den ich nicht kenne, und er nickt ein. Joghurt tropft von seinem Kinn, in einer langen klebrigen Spur.

Flesch ist erst seit kurzem wieder im Lande, nachdem er lange Zeit verschwunden war. Keiner wusste, was los war, nicht mal seine engsten Kumpel. Mal hiess es, Flesch habe AIDS und sieche in einer Spezialklinik vor sich hin, mal hatte man ihn in den Pyrenäen verhaftet, auf der Flucht vor den Bullen. Aber als er mir Anfang des Jahres über den Weg lief, am Mühlenhof, sah er aus wie ein verdammter Banker, mit verspiegelter Sonnenbrille und Nadelstreifenanzug. Nur dass er anstatt der FAZ eine gefaltete Ausgabe der BILD Köln unterm Arm trug, locker & leger zusammengerollt.

Nachdem wir uns kurz in den Armen lagen, fragte ich Flesch, was denn nun los gewesen sei, wo er gesteckt habe, all die Zeit. Ob da was dran sei, mit AIDS und so.

„Quatsch, Alter! Ich bin drei Jahre im Zigeunerlager in Rotterdam untergetaucht, unter Messerwerfern und Feuerschluckern. Einen riesigen Ami-Wohnwagen hab ich gehabt, und einen großen schwarzen Puffi-Hund, der auf mich aufgepasst hat. Jetzt wohn ich bei ein paar Hühnern oben auf der Niedersachsenstrasse, kommt mal vorbei. Bring deine Puppe mit, wie heisst sie noch gleich? Ja genau, die Gräfin. Übrigens , ich hab mit dem Schreiben angefangen. Mehr so den drastischen Stil, verstehst du..“

Ich lege Flesch einen Zehner auf den Tisch, für eine zweite Strasse, die er mir auch gleich streut, ohne langes Palaver. Ich zieh eine ordentliche Line, zwischen leeren schimmligen Joghurtbechern, und sehe zu, dass ich Land gewinne.

Ein bisschen kotzen, und dann ab nach Hause.

17 Gedanken zu „„Unser Türkenhaus brennt!“ Pfingsten 1993: Der Brandanschlag von Solingen

  1. Pingback: Erinnerung an den Brandanschlag in Solingen | Der Amaot

  2. deine sehr hautnahe und auch selbstkritische erzählung geht unter die haut.
    vorurteile, verurteilung andersdenkender, ziellose aggression … was eben noch „reine motive“ hatte (gerechtigkeit) verkommt in kürze zu leerer gewalt …

    ein sehr ehrlicher text, der mich aufwühlt und in mir viele frage auslöst.

    die sequenzen mit der gräfin und ihrer oma geben deinen erinnerungen eine zusätzliche dimension. eine beinahe surrealistische …

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  3. ich lief in Ohligs rum und wartete auf den ICE und traf in der Passage auf Jämmen am lesen noch..hey .bist du aber gross geworden
    meine Einladung zu Bier verneinte er
    keene ZicK!
    dann wurde ich angesprochen,nicht wie üblich junger Mann..
    ein stand war da und das Anliegen

    es wäre bis heute nicht wirklich geklärt die Tatsachenn..ok ich wohn hier nich aber wo soll ich unterschreiben..hihi

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  4. Pingback: Totterturm » Blog Archive » 20 Jahre nach dem Brandanschlag in Solingen: Wie Rechte auf Facebook Meinung machen

  5. herr glumm, natürlich schreiben sie immer großartig und haben zurecht eine riesige fangemeinde. mit diesem artikel aber übertreffen sie sich selbst. ein perfekter mix aus berichterstattung und literatur. vielen dank.

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  6. Pingback: Hohlkörper-Deko | blog.tetti.de

  7. Toller Bericht, bin bei folgendem Absatz aber ins Grübeln gekommen:,, Unter den Tätern ist ein Arztsohn, dessen Vater ich zufällig kenne. Wir haben 1980 gemeinsam Fußball gespielt in der Auswahl des Städtischen Klinikums, wo ich Zivildienst machte. Ein Liberaler, ein Linker, der sich für Ärzte gegen den Atomkrieg engagierte und auf dem Sportplatz vor Einsatzfreude nur so sprühte, der immer gute Laune hatte. Wieso fackelt sein 15jähriger Sohn das Haus einer türkischen Familie ab, als wäre es lästiger Abfall? Und was kann er als Vater dafür?

    Wieso erwähne ich überhaupt, dass der Sohn Arztsohn ist?“

    Also so wie ich und viele Solinger, die ich kenne den Prozess verfolgt haben , ist die Täterfrage gerade auf den Arztsohn und zwei Andere der Verurteilteb nicht so eindeutig gewesen , wie es das Urteil und die Medien nach dem Urteil nach Außen getragen haben. Es gab ernstzunehmende Ermittlungspannen (Bedrohungen um Aussagen zu erpressen, keine Spurensicherung, der Weg den diese 3 Verurteilten zurückgelegt haben sollen betrunken 4,6 Km in 43 Minuten , der vierte Typ (der wohl mit Sicherheit schuldig ist) von der Unteren Wernerstraße sagte während des gesamten Prozesses die Tat alleine begangen zu haben etc etc. Der Arztsohn und ein Anderer bestreiten bis heute eine Beteiligung.

    Kann man im Netz auch etwas darüber lesen (Youtube) und Spiegel Artikel.

    Ganz so eindeutig war es nicht , wie es heute gerne dargestellt wird.

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  8. Pingback: Danke, VW | Studio Glumm

  9. Danke für den extrem guten Beitrag, der mir die
    Ereignisse ins Gedächtnis zurückrief. Gerade heute ist die Erinnerung soooo wichtig. – Und ja: Auch damals gab es in Solingen schon Neonazis, leider hatte ich einige in der Familie.

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