Das Weib des Lyrikers

Zur Mode-Messe 1995 in Düsseldorf war das Hotel fast vierzehn Tage lang ausgebucht.

„Ich hätte hundert Zimmer anbauen können“, meinte der Chef mit Tränen in den Augen, „die hätte ich auch noch verkauft. Und zwar doppelt und dreifach.“

Unter den Gästen befand sich ein kleiner Mode-Vertreter aus Offenbach. Er reiste spät am Abend an, die Hände in den Hosentaschen. Ich reichte ihm den Zimmerschlüssel.

„Zimmer 35. Dreizehnter Stock.“

„Ja, danke. Es ist verdammt schwer für einen Auswärtigen, euer Turm-Hotel zu finden. Man sieht es zwar schon von weitem, ist ja ein markantes Gebäude, dazu die blaue Leuchtreklame, aber man weiss einfach nicht, wo man reinfahren soll zum Parken.“

„Ja, da haben Sie Recht, da haben sich schon viele beschwert.. Es ist schlecht beschildert und ziemlich verbunkert hier – der ganze Komplex.“

„Verbunkert! Genau! Ha..! Als hätte es hier mal einen Massenmord gegeben.“ Er nahm sein Gepäck und schlenderte Richtung Aufzüge. „Sagen Sie.. oder kann ich auch zu Fuß hoch gehen?“

„Ja natürlich. Da vorn ist die Treppe.“

Er zog die schwere Stahltür zum Treppenhaus auf und stieß beinahe mit dem spitzbärtigen Herrn Maurits zusammen.

„Hups!“

Maurits, ein deutscher Lyriker, logierte samt Spitzbart und Eheweib im zwölften Stockwerk. Er war gebürtiger Solinger, lebte aber schon seit geraumer Zeit in München. Ein feiner Herr. Etwas umständlich vielleicht, auf eine altmodische Art sittsam und korrekt. Zum Spitzbart trug er Baskenmütze und Seidenschal. Der Chef hatte mir gesteckt, dass Maurits in diesen Tagen ein lokaler Kulturpreis verliehen werden sollte, als einem bekannten Sohn der Stadt. Ich hatte seinen Namen noch nie gehört. Der Chef und die Chefin auch nicht. Der Hausinspektor wusste nicht mal, was Lyrik ist. Niemand schien je von Maurits gehört zu haben.

„Zimmernummer 27, bitte“, sagte er leise, als er am Tresen stand, um seinen Schlüssel abzuholen. Dabei wendete er seinen Blick vorsichtig zur Seite. Er kam mir vor wie ein Reh, das sich vor der freien Wildbahn fürchtet. So plötzlich frei gelassen.

„Die 27, weiss ich doch, Herr Maurits.“

Ich mochte diesen merkwürdigen Mann. Ich mochte viele merkwürdige Männer. Frauen auch. Da war ich nicht wählerisch. Selbst merkwürdige Fragen prüfte ich wohlwollend. Bevor ich als Nachtportier im Turmhotel anfing hatte ich mich immer gefragt, was eigentlich mit dem Licht passierte,  wenn es den Tag verließ, wo schläft das Licht? Jetzt als Nachtportier, mit der Erfahrung von vielen tausend Stunden Finsternis, war ich auch nicht schlauer geworden.

Maurits hatte bislang fünf Gedichtbändchen veröffentlicht, seine Gedichte waren eher scheuer Natur. Ich hatte eins in der Lokalzeitung gelesen. Zur gross angekündigten Lesung im Kammermusiksaal („Einer der grossen Lyriker unserer Zeit!“) waren am Abend siebzehn nicht zahlende Besucher erschienen.

Ich reichte ihm den Schlüssel rüber.

„Eine angenehme Nacht“, wünschte er mit Fistelstimme.

Zehn Minuten später klingelte die Telefonanlage. Auf der digitalen Anzeigentafel leuchtete die 27 auf.

„Rezeption..?“

„Ja, Maurits, Zimmer 27. Wir haben hier ein kleines Problem.. Das Radio rauscht.“

„Wie, das Radio rauscht?“

„Das Radio rauscht.. Wir haben schon alles probiert, es abzustellen, aber es rauscht immer weiter und weiter, man kann es niirgendwo abstellen. Wissen Sie vielleicht, was da zu tun ist?“

Im Hintergrund war tatsächlich ein Rauschen zu hören. Und die erregte Stimme der Gemahlin. Der soll hier hochkommen, hörte ich.

„Wären Sie so nett, mal eben hochzukommen und nachzuschauen?“ übersetzte Maurits.

„Ja klar. Ich komme gleich.“

„Das wäre aber freundlich.“

Ich schnappte mir den roten Generalschlüssel vom Haken und stieg in die Öko-Sandalen vom Chef. Meist saß ich in Strümpfen an der Rezeption. Öfter mal was neues, dachte ich. Ein Radio, das sich nicht abstellen liess. Vielleicht hatte Maurits aus seiner Wahlheimat Bayern einen murmelnden Gebirgsbach mitgebracht, um das Lampenfieber zu bekämpfen, und nun wusste er das fliessende Gewässer nicht mehr zu bändigen, im zwölften Stock. Komm, bei Lyrikern ist alles möglich. Erzähl mir nichts. Ich fuhr mit dem Aufzug eine Etage höher. Maurits erwartete mich bereits am Ende des Flurs, mit beunruhigter Miene. Seine französische Mütze saß schief auf dem Kopf, wie verrutschte Panade, und sein Spitzbart hatte an Spitzheit nichts eingebüßt.

„Wenn Sie mal schauen möchten..?“

Atemlos und dennoch charmant liess er mir den Vortritt, und in den offenen Gesundheitsschlappen meines Chefs schlurfte ich ins Zimmer. Es war  Mitternacht im Bunker.

„N’abend“, grüßte ich.

Frau Maurits lag auf der rechten Seite des Doppelbetts, die Decke bis zur Nase hochgezogen. Sie starrte zur Zimmerdecke. Das Ganze war ihr immens unangenehm.

„Guten Abend“, wisperte sie.

Das Rauschen kam eindeutig aus dem Radio, das gleich überm Nachtschränkchen in die Wand eingelassen war.

„Bei dem Lärm kann man nicht einschlafen, beim besten Willen nicht“, meinte Maurits.

„Ja, das ist richtig“, sagte ich und fummelte eine Weile an den Knöpfen des Radios herum, so als wüsste ich schon, was ich tat, oder als hätte ich zumindest eine Idee gehabt. Nichts passierte. Was sollte auch passieren. Ich wusste ja nicht, was ich tat, es rauschte einfach in einem fort.

„Komisch“, sagte ich, während Dichter Maurits, das 60jährge Vers-Wild, mich unentwegt beäugte.

„So ein Abenteuer“, schien es zu denken. „Muss das sein?“

Da das Hotel komplett ausgebucht war, konnte ich dem Ehepaar kein Ersatz-Zimmer anbieten. Zur Not musste ich das Radio im Klump treten, damit es Ruhe gab, mit den offenen Schlappen meines Chefs. Aber vielleicht lag die Sache ja auch ganz einfach. Vielleicht existierte irgendwo ein Stecker, den man herausziehen musste, und schon war Ruhe. Ich rückte das Nachtschränkchen zur Seite, das direkt unterhalb des in der Wand eingelassenen Radios stand, und hatte irgendwie das Gefühl, das Geräusch rücke mit.
„Aber nein, das haben wir doch schon alles probiert“, winkte Maurits enttäuscht ab. „Es gibt nirgends einen Stecker, den man einfach rausziehen kann und das Rauschen hört auf..“

Ach so.

Sein Weib starrte angestrengt zur Decke, und das Radio rauschte weiter, wie ein Massenmord auf Mittelwelle. Dann aber, als ich das Schränkchen wieder nach rechts an seinen ursprünglichen Ort zurückschob, klang es, als rückte auch der Massenmord auf Mittelwelle nach rechts. Nur – was sollte das? Das gab doch keinen Sinn.

Und dann passierte es gleichzeitig: Ich dachte gerade noch, „das Nachtschränkchen rauscht! Wieso rauscht das verdammte Nachtschränkchen?!“, da rief auch der Dichter schon: „Aber ja doch!! Das gibt es doch nicht! Das ist ja mein.. Rasierapparat, der da rauscht!“

Er griff nach dem schwarzen Kulturbeutel, der auf dem Nachtschränkchen lag, und öffnete den Reißverschluss.
„Mein.. äh Rasierapparat, Schatz!!“
Komischerweise holte er den Apparat aber nicht heraus, um ihn abzustellen. Er ließ ihn im Kulturbeutel, wo er munter weiterrauschte.

„Sind Sie auch sicher, dass es daran liegt?“ fragte ich noch, doch wie ein Lyriker, der sich im Bauerntheater verirrt hatte und nun froh war, endlich vorm Ausgang zu stehen, strahlte Maurits mich an:“ Aber natürlich!“
Erleichtert entschuldigte er sich, dass ich mich umsonst herauf bemüht habe.
„Och, macht nichts“, sagte ich. „Und ich dachte schon, Ihr Nachtschränkchen rauscht! Ha-hah!“

Trotz der Freude um die Aufklärung, Frau Maurits blieb erstaunlich still, die Bettdecke bis unter die Nasenspitze hochgezogen. Erst als ich das Zimmer verließ, hörte ich, bereits auf dem Gang, ihr zittriges und doch forsches Stimmchen.
„Hoffentlich ist die scheiß Batterie nicht leer.“

*
Ein schönes Wort, das ist schinant, behandelt von 500beine

6 Gedanken zu „Das Weib des Lyrikers

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