Der Vatter

1989 zog die Gräfin in ein vergessenes kleines Quartier nahe des alten Hauptbahnhofs, das im Volksmund nur die Teufelsinsel heißt. Ein Viertel, das über eine bestimmte Eisenbahnbrücke erreichbar ist, was den Inselcharakter ausmacht. Es hängt ein bisschen davon ab, zu welcher Jahreszeit man die Teufelsinsel betritt, aber im Spätherbst, wenn die Feuchtigkeit des nahen Waldes um die Häuser streicht und alles in eine schaurig-romantische Atmosphäre taucht, fühlt man sich wie in einer Novelle von Robert Louis Stevenson. Nur dass nirgendwo eine Schatztruhe herumsteht, und auch Long John Silver sucht man vergeblich.

Es war eine Zeit, in der ich definitiv zu oft in der Kneipe stand und zunehmend unausstehlich wurde.

„Hast du dich in den letzten Monaten mal betrunken erlebt?“ spöttelte der dicke Hansen, der mit Alkohol nicht viel anfangen konnte. „Ein Lacherfolg.“

Die Gräfin sah es genauso.

„Weißt du was? Kauf dir einen Kasten Bier, setz dich zu Hause hin und während du eine Flasche nach der anderen leerst, hörst du deinem eigenen blöden Gelaber zu – jede Wette, du bist für immer kuriert vom Trinken.“ Jahre später fügte sie hinzu: „Das waren die langweiligsten Stunden meines Lebens, wo ich im Mumms darauf warten musste, bis du fertig warst mit Trinken und wir nach Hause gehen konnten.“ Tatsächlich konnte ich froh zu sein, dass überhaupt noch jemand auf mich wartete, bis ich mit dem Saufen durch war. Zum Glück trank ich nur in Gesellschaft, ich war ein striktes Tresentier. Wenn ich aber einmal an der Bar stand und die ersten Bier und 103er orderte, dann schoss ich mich auch ab. Dann saß ich am nächsten Morgen wie ausgeknockt am Bettrand und hörte den Schwerlasttransportern zu, die in meinem Schädel hin- und herrangierten, ohne wirklich einparken zu wollen.

Hausnummer 22. Die kleine 2-Raum-Wohnung der Gräfin lag im Erdgeschoß. Direkt nebenan hauste der Vatter, irgendwas zwischen fünfzig und sechzig Jahre alt und ein Gesicht wie ein Bierkutscher, an dem sich ein naiver Maler versucht hatte, aber nicht mit dem Pinsel, sondern mit dem Quast. Es lag eine gutmütige Besoffenheit in diesem viel zu großen, präsenten Gesicht, aber man konnte sich nicht sicher sein, ob es sich dabei nicht um eine besonders perfide Art von Verschlagenheit handelte. Der übergewichtige Mann stieß einen ab, und er machte einen neugierig. Ein Kindskopf, ein Einzelgänger. Wir hörten ihn nachts aus der Kneipe kommen und volltrunken in den Hausflur stürzen. „VERDAMMTE HACKE!“ Er schrie und trat vor die eigene Tür, weil er seinen Wohnungsschlüssel nicht ins Schloss bekam. Irgendwann ging ich raus in den Flur und half ihm aufzuschließen, bevor wir die ganze Nacht kein Auge zubekamen.

„NIMM DIE FINGER DA WEG.. DAS IST MEINER..! DAS IST MEIN SCHLÜSSEL!“ Wobei er in seinem Zorn ins Solinger Platt verfiel: „DAT IS MINGEN SCHLÖTEL!“

Am nächsten Tag war er früh auf den Beinen. Er kannte keinen Kater, was aber wahrscheinlich auch daran lag, dass er ständig besoffen war. Großer Hausputz war angesagt. Jeden verfluchten Samstag zerrte er den Hoover aus der Ecke, einen original britischen Klopfsauger, dessen Sound-Ingenieure sich vermutlich 1974 am Single-Hit CUM ON FEEL THE NOIZE von Slade orientiert hatten. Und als wäre das noch nicht Radau genug, lief im Radio seine geliebte Volksmusik. Wir lebten quasi in einer kombinierten Karl Moik-Slade-Einflugsschneise. Bis zum Mittag hatte der Vatter einen halben Kasten Bier leer gemacht. Dann ging es weiter mit Großreinemachen im Hausflur, unter Zuhilfenahme des Großen Grauen, wie er ihn preiste, einen altgedienten fusseligen Putzlappen von anno Tuck. Wir hörten ihn bei der Arbeit dreckig lachen und fluchen.

„VORS ARBEITSGERICHT SCHLEPP ICH DIE WICHSER! DIE SCHNÖSEL! WAS GLAUBEN DIE PENNER, WEN DIE VOR SICH HABEN? NICHT EINEN PFENNIG KRIEGEN DIE VON MIR, DIE FOTZEN!“

„WER BIN ICH DENN, HÖR MAL – BIN ICH ROCKEFELLER!?“

Einmal riss er in einem Anfall von Zorn das halbe Holzgeländer im Flur ab. „Keine Ahnung, wie das passieren konnte.“ Der Handlauf lag auf dem Boden wie eine ausgekugelte Schulter. „Ich bin beim Bohnern ausgerutscht“, verteidigte er sich beim Hauseigentümer. Ja genau.

Ganz klar war es nicht, doch die meiste Zeit schien der Vatter von Arbeitslosenhilfe zu leben. „Ich geh stempeln, Jung“, sagte er einmal zu mir, „tut nich weh.“ „Ich weiß“, sagte ich. Im Sommer trat er eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme als Gärtner an. Das war nicht ohne Probleme. Er hatte null Respekt vor Autoritäten, er konnte nichts und niemanden wirklich ernst nehmen. Das war es auch, was ihn mir sympathisch machte. Sagen wir, ein bisschen. Seine Unverfrorenheit. Einmal versuchte er der Gräfin den Hof zu machen, obwohl ich direkt daneben stand.

„Mädchen, jetzt hör mal zu. Dein Männe hier, der sieht schlecht aus. So blass. Raucht der zu viel? Komm ein Stündchen rüber zu mir, ich mach uns auch ein schönes Kassler. Na, was meinst du? Hm? Ein schönes Stück Fleisch, mit Kartoffeln. Die sind unten im Keller, die sind eingekellert, die muss ich erst hochholen. Komm, wir beide gehen runter und gucken uns die dicken Dinger mal an..“

Überm Vatter wohnte der Mormone. Wahrscheinlich war er kein Mormone, aber er sah aus, als käme er direkt aus Utah. Ein merkwürdig linkischer Vogel, der sich tagsüber selten blicken ließ. Man hörte ihn nur in der Nacht, wenn er Möbel verrückte und nervös vor sich hinhüstelte. Sein Gesicht war stets glatt und perfekt ausrasiert, wie ein Auto, das gerade aus der Waschanlage kam und noch tropfte. Eigentlich war er nur ein großes Stück Haushaltsseife. Ich wusste nicht, was ich von ihm halten sollte. Niemand wusste, was man von ihm halten sollte. Alle zwei Monate ging der Mormone reihum durchs Haus, Wassergeld einsammeln, im Auftrag des Hauseigentümers. Wenn der Vatter an der Reihe war, gab es Probleme. Der Vatter machte die Tür auf und eröffnete sofort das Gefecht.

„DU BÜCKLING, WAT WILLST DU, WASSERGELD?? GAR NIX KRIEGST DU VON MIR! MACH DICH VOM ACKER!“

Erst später brachte ich in Erfahrung, dass der Mormone aus Verzweiflung über ein Jahr lang heimlich das Wassergeld für den Vatter auslegte, bevor er entnervt das Handtuch warf und das Wassergeld fortan mit der Miete eingezogen wurde. So jedenfalls erzählte man es sich an der Teufelsinsel, einer dunklen und feuchten Gegend, wo seltsame Leute lebten.

Gleich neben dem Mormonen im ersten Stock hauste Benno, der Frührentner. Der hatte insgesamt nur noch ein Bein am Leib und humpelte auf Krücken durchs Haus.  Manchmal dachte ich, okay, Long John Silver ist doch unterwegs auf der Teufelsinsel. Seine Stimme hatte einen seltsam nasalen Klang, als wäre sie zwischen zwei Türen geraten und eingequetscht worden. Benno und der Mormone hatten sich gesucht und gefunden. Oft standen die beiden wie die Waschweiber auf dem Treppenabsatz und tratschten. Meist ging es um den Vatter und was der im Suff mal wieder angerichtet hatte.

„Der bringt uns noch alle ins Grab mit seiner Qualmerei. Der fackelt uns die ganze Teufelsinsel ab!“ quäkte Benno. „Gestern ist er wieder stockbesoffen im Sessel eingeschlafen, mit der brennenden Kippe im Hals! Der olle Schreihals!“

Im Erdgeschoss wurde die Tür aufgerissen. „WAS IS LOS DA OBEN, IHR FISCHWEIBER?!“ Sofort herrschte Stille im Haus.

Ein anderes ständiges Gesprächsthema war die Gräfin.

„Die Kleine da unten, ob die wohl eine richtige Gräfin ist?“

„Aber wieso wohnt die dann hier am Bahndamm? Ist die pleite?“

„Verarmter Adel. Liest man doch dauernd.“

„Und was ist das für ein Kerl, der da bei ihr schläft?“

„Ein schräger Fürst. Glaub mir das. Ein ganz schräger Fürst. Der hat auch ganz krumme Beine.“

„Zahlt der überhaupt Wassergeld?“

„Ach was. Der doch nicht. Der zahlt kein Wassergeld. Der zahlt gar nix.“

In der Wohnküche des Vatters befand sich eine mächtige Gefriertruhe aus alten Armeebeständen, bis obenhin vollgepackt mit Schweineschnitzeln, Rouladen und panierten Nackenkoteletts, deren Haltbarkeitsdatum überschritten war.

„Ach was, ist doch unter null hier drin, hier ist schön eiskalt, fühl mal“, behauptete der Vatter, als die Gräfin ihn darauf ansprach. „Die werden so schnell nicht schlecht so dicke Koteletts. Die kann man noch essen. Oder möchtest du ein Eis? Alle Mädchen mögen Eis. Möchtest du lieber ein Eis lutschen hm?“

„Bist du wahnsinnig? Schmeiss das weg! Das kann doch keiner mehr essen! Davon wird man doch krank!“

„Näh, hat die Angst vor Eis!“ mokierte sich der Vatter und löffelte zum Beweis gleich eine halbe Packung Himbeereis weg.

Der Vatter war nicht nur alkoholabhängig, er war auch ständig hungrig. Jeden Mittag zwischen zwölf und halb eine  kochte er sich immense Portionen, es gab paniertes Fleisch und große Kartoffeln, Backhendl mit Kartoffelbrei, Arme Ritter, niemals Gemüse. Nach dem Essen setzte er seinen grünen Filzhut auf und ruhte im Ohrensessel, den Fernseher bis zum Anschlag aufgedreht, am Ausrasten wie ein frühes Bill Haley-Konzert.

„HOLT MICH HIER AB! WIE, WO ICH WOHNE?! AUF DEM BAHNDAMM WOHNE ICH, SIE OBERSCHNAUZE!!“

Eine Weile war ich fest davon überzeugt, dass der Vatter Besuch haben musste. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass ein Mann für sich allein so dreckig lachen und fluchen konnte, aber der Vatter  konnte: er lachte und fluchte dreckig für sich ganz allein, er brauchte dafür niemanden. Eine autarke Person, und er hasste jegliche Autoritäten.

Sonntags frönte der Vatter seinem zweiten Lieblingshobby, gleich nach dem Essen, („Ich muss futtern! Ich muss ausschlafen!“): das Bohren von Löchern. Dazu benutzte er eine von Schnürsenkeln notdürftig zusammengehaltene Vorkriegsbohrmaschine. Welche Löcher er allerdings wofür worein bohrte, blieb unklar. Bis der schlimmste Lärm vorüber war, flüchteten die Gräfin und ich Sonntag für Sonntag nach draussen und beobachteten das Schauspiel vom Hinterhof aus, durchs Fenster: Nach getaner Arbeit versank der Vatter im Sessel, Filzhut auf dem Kopf, stinkigen Zigarrenstumpen im Hals, Pulle Export in der Hand.

„Der ist eingenickert“, flüsterte die Gräfin.

Keine Viertelstunde später wurde er wie aus dem Stegreif wach, und es ging unvermittelt weiter.

„WIE, NUR EIN KOTELETT?? LASSEN SIE MEINE FREUNDIN IN RUHE, SIE OBERSCHNAUZE!“ (Schluck Bier aus der Pulle.) „WIE, SIE KOMMT ZU SPÄT NACH HAUSE!? JA, WOFÜR HAB ICH SIE DENN!?“ (Stöhnen.) „LEBT HIER AUF DEM BAHNDAMM! SOLL SIE MAL LIEBER ORDENTLICH SCHOTTER ANKARREN!!“ (Lautes Gelächter. Poltern.) „ZIEHT DIE SICH ALTES HIMBEEREIS REIN! SCHMECKT DOCH NICH, HÖR MAL!!“

Einmal im Monat bekam der Vatter Damenbesuch. Eine stille und große Frau, das Haar zum strengen Dutt gebunden, mit milden nachsichtigen Augen. Sie machte ihm die Wäsche. Eine feine Frau. Sobald sie da war, wurde der Vatter fromm wie ein Lamm und gab Pfötchen. Ganz lieb watschelte er mit der Einkaufstasche in die Stadt, Waschpulver kaufen. Richtig selig sah er aus. Große Wäsche war angesagt, eine Maschine nach der anderen.

Es war ein Bild für die Götter der Teufelsinsel, wie der Vatter da mit seiner Plauze im Garten stand und stocknüchtern seine riesigen weißen Unterhosen an die Wäscheleine klammerte. Das ganze Wochenende über drang kein böses Wort zu uns herüber. Das Paradies war ausgebrochen im Haus an der Teufelsinsel. Bis Montagmorgen. Dann ging alles wieder von vorn los.

Einmal, es war Sonntag, kamen wir spät in der Nacht nach Hause und mussten den Hund noch raus lassen. Dabei hatten wir wohl vergessen, die Etagentür zu schließen. Im Morgengrauen werde ich plötzlich wach und erkenne schemenhaft den Vatter, wie er sich bückt und neugierig unser Bett durchsucht. Ich denke nur: Moment! was zum Teufel macht der Kerl hier, mitten in der Nacht?! Wie ist der überhaupt hier rein gekommen?! Wieso hat der Hund nicht angeschlagen? Unser erster Hund Niete war eine freundliche Collie-Hündin, die wie ein offener Mantel auf alle Menschen zuwehte.

„Die Tür stand auf.. ich wollte nur nach dem Rechten sehen“, schnaufte der Vatter. Schwerfällig trat er den Rückzug an, nicht ohne noch einen schnellen ungenierten Blick auf die Gräfin zu werfen, die sich im Schlaf wälzte und etwas nackte Schulter zeigte.

Ich lag wach. Es dauerte nicht lange, da hörte ich nebenan Geklapper, ich hörte Pfannen und Töpfe, Cordon Bleu-Wölkchen zogen ruppig durchs Treppenhaus, früh um fünf.

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7 Gedanken zu „Der Vatter

  1. „Insbesondere die Nebelhornstimme von Noddy Holder und der Killerklang des Hoover bei hoher Drehzahl waren höchst verdächtig“

    Hömma, dat war wohl nix. Dat einzig wahre „Nebelhoorn“ vonne Rock is de Mitch Ryder, un nit disse Kastraat.

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  2. >> Unser erster Hund Niete war eine freundliche Collie-Hündin, die wie ein offener Mantel auf alle Menschen zuwehte. <<

    Anrührendes Bild. Wirkt bei mir wie die QiGong-Übung 'dem Herzen zulächeln'.

    Ansonsten wieder und wieder: Ein glummscher 1A-Text!

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