Nachtzug nach Budapest

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1. Juli 1993

„Budapest..?! Bei Allah – ihr wollt nach Budapest?! Ist das euer Ernst?“ Der türkischstämmige Taxifahrer, den die Gräfin noch aus ihrer Zeit kennt, als sie selber Taxi gefahren ist und der uns zum Hauptbahnhof bringt, wo Punkt 20 Uhr 37 der Donau-Kurier startet, schlägt die Hände überm Kopf zusammen.“Da sind doch Zigeuner an allen Ecken!“

Am Bahnhofskiosk findet die Gräfin etwas Reiselektüre, einen Roman von Rita Mae Brown und den aktuellen STERN. Titel-Story: DAS CHICAGO AN DER DONAU, eine finstere Ballade über die Unterwelt von Budapest.

„Vielleicht hätten wir doch lieber Ich denke oft an Piroschka einpacken sollen“, meint die Gräfin.

„Ach wo. Auf nach Chicago!!“ ruf ich.

Auf dem Weg nach Köln erzählt sie von ihrer Zeit als Taxifahrerin. Kemperdick hatte eine Flotte von zehn Wagen, das neueste Modell fuhr der Chef grundsätzlich selbst. Ein misstrauischer Mann. Weil die Fahrer seiner Meinung nach zu oft auf eigene Rechnung unterwegs waren, ließ er als erster Taxi-Unternehmer der Stadt Sitzkontakte einbauen, was ihn pro Fahrzeug 2.000 DM kostete. Sobald sich nun ein Fahrgast niederliess, egal, ob auf dem Beifahrer- oder dem Rücksitz, wurde ein Kontakt ausgelöst und das Taxameter sprang automatisch an. So waren keine Schwarzfahrten mehr möglich. Dachte der Chef. Doch es gab einen Pferdefuß. Die Technik reagierte erst ab einer Belastung von vierzig Kilogramm. Ein Kind konnte durchaus Platz nehmen, ohne dass der Kontakt ausgelöst wurde. Zwei Kinder eher nicht. Zwölf Heringe schon. 39 Eierbriketts: die auch.

Als die Gräfin nun, noch neu im Job, am Taxi-Halteplatz am Grafen auf Kundschaft wartete, näherte sich ein älterer Herr. Er ging um den Wagen herum, studierte das Nummernschild, und stieg zu. Vorsichtig schlängelte er sich auf den Beifahrersitz, machte sich krumm wie eine Salatgurke, bis er endlich mit einer halben Arschbacke Platz nahm. Die Gräfin dachte zuerst, der Mann hätte vielleicht Hämorrhoiden oder es läge etwas auf dem Sitz, was störte, und wollte es wegräumen, doch da war nichts. Der Platz war frei.

„Warum setzen Sie sich nicht richtig hin? Ich beiße nicht.“

Der Mann schaute verdattert auf.

„Na Moment.. Sie fahren doch für Kemperdick! Oder etwa nich!?“

Köln-Porz. Ein älterer Rheinländer betritt unser Abteil, und zwar just in dem Moment, als es der Gräfin hinten am Rücken juckt. Da, wo sie selbst nicht drankommt. Ich hebe vorsichtig das Rückenteil ihres T-Shirts an, bis die gerötete Stelle gefunden ist, „nun mach schon.. weiter rechts.. tiefer.. TIEFER!“, und erledige meinen Job. „Fester..!“ Der alte Rheinländer schaut aus dem Fenster, als wäre ihm alles furchtbar schinant, aber mir macht er nichts vor. Der alte Bock hat hinten Augen. Der guckt.

Hach!

Donnerstagabend Anfang Juli mit der Deutschen Eisenbahn Richtung Balkan aufbrechen, was könnte schöner sein, was könnte unspektakulärer sein. Selbst unsere Gepäckstücke, ein grüner Papp-Koffer und ein Bundeswehrrucksack mit ordentlich Fassungsvermögen, passen zum Nachtzug nach Budapest, dem staubstarrenden alten Donau-Kurier.

„Hoffentlich haben wir keinen Fehler gemacht“, meint die Gräfin.

„Was? Dass wir nach Ungarn fahren..?“

„Nein. Dass wir den Hund nicht mitgenommen haben .“

Ich seufze. Hoffentlich schmiert sie mir das nicht die ganzen drei Wochen aufs Butterbrot. Es war tagelang hin und her gegangen, nehmen wir Niete mit, nehmen wir sie nicht mit, schliesslich hatte ich mich durchgesetzt. Die zu lange Zugfahrt, die Großstadt Budapest, der Balaton, die Hitze, ich fand es zuviel für unsere sechsjährige Hündin. Eine Nachbarin erklärte sich einverstanden, Niete während unserer Reise zu betreuen, sie hat selbst zwei Hunde. Zwei große Hunde.

„Hoffentlich fressen die der Niete nicht alles weg“, sorgt sich die Gräfin.

Bonn, Hauptbahnhof.

„Wann kommt ihr denn in Budapest an?“ erkundigt sich der alte Rheinländer, als er aussteigt.

„Zwölf Uhr“, sage ich und füge hinzu, „also morgen Mittag.“

Der Alte winkt heftig ab, „Morgen Mittag? Oje, das ist nix mehr für mich alten Knacker. Also, schö ihr beiden“ und verlässt das Abteil mit einem höflichen Hutlupfen, und ich schiebe eilig die Tür hinter ihm zu.

„Jetzt sind wir schon eine Stunde unterwegs“, rechne ich durch.

„Eine erst? Kommt mir viel länger vor.“

Die Gräfin versucht aus sechs quietschenden Abteil-Sitzen eine große geräuscharme Liegewiese hinzukriegen. Frauen haben ein wärmeres, irgendwie praktischeres Verhältnis zu Zügen, zu Maschinen und Apparaten im Allgemeinen. Einerseits praktisch, andererseits pfleglich. Damit auch ja nichts drankommt. Doch es funktioniert nicht, die Sitze bleiben nicht unten, sie klappen immer wieder hoch wie nervöse Schranken.

Ich sitz am Fenster und blättere im Roman von Rita Mae Brown.

„Lass doch.. können wir später machen, wenn wir uns hinlegen“, murmle ich.

„Später.. bei dir ist immer alles später. Warum nicht jetzt.“ Sie betrachtet den Ring an ihrer Hand, ein Erbstück von Oma Soest. Ein klassisches Teil aus echtem Sterlingsilber. „Was meinst du, sollte ich den in Budapest lieber abziehen? Hinterher wird der mir noch von Taschendieben geklaut.“

„Fingerdieben“, präzisiere ich.

Noch bevor wir Koblenz erreichen, verschwinde ich eine Runde aufs Bordklo. Am Nachmittag hab ich mir auf den letzten Drücker beim Bruder vom dicken Hansen einen Fuffie besorgt, davon müsste noch gut die Hälfte übrig sein. Die Gräfin muss ja nicht alles mitkriegen. Vorallem nicht meine Heroinexperimente. Experimente..!? Dass ich nicht lache. Sind längst keine Experimente mehr. Ich weiß längst, wie der Heroinhase läuft. Und eines steht fest: Die folgenden drei Tage werden kein Zuckerschlecken sein. Für jeden einzelnen Tag, den ich breit bin, zahle ich mit einem Tag Entzug, so die gängige Junkiegleichung. Und da ich den dritten Tag hintereinander auf Schore bin, werde ich mich drei Tage lang affig fühlen. Ein super Ferienbeginn.

Auf dem Bordklo. Ich streue das braune Pulver aus dem Briefchen auf einen Streifen Alu-Folie, erhitze es mit dem Feuerzeug, ein Papierröhrchen im Mund, um den Qualm zu inhalieren. Den Drachen zu jagen. Just in diesem Moment ruckelt der Zug so heftig über die Schienen, als mache er einen Bocksprung und die ganze verdammte Bagage in meiner Hand geht in einer großen Stichflamme auf. Ich verbrenne mir fast die Schnauze. Vor Schreck lasse ich alles fallen, was ich in der Hand halte, Feuerzeug und Alu-Folie landen teils auf dem nassen Boden, teils im Klo.

„Verflucht!!“

Der verkohlte Streifen Aluminiumfolie liegt mitten im Pisswasser und ist nichts mehr zu gebrauchen. Auch das auf den Boden gerieselte Pulver ist nass geworden. Es stinkt wie im Chemieunterricht. Merkwürdigerweise nehme ich das Debakel achselzuckend hin, so, als wäre nichts geschehen. Scheiß doch drauf. Ich schlingere zurück ins Abteil, mit rußverschmierten Fingern.

„Ach nee. Was hat der Herr denn so lange auf dem Klo gemacht? Sich schön einen geblowt..?“

Hm. Vielleicht hätte ich mir doch lieber die Hände waschen sollen..

„Versucht hab ich’s, ja. Aber mir ist alles in Flammen aufgegangen.“

„Toll. Und? Ist noch was übrig? Geht das Spielchen jetzt in Ungarn weiter?“

„Nee. Das war’s.“ Ich hebe wie zum Schwur die Hände. „Ich hab nichts mehr. Niente. Alles weg.“

„Mir doch egal. Mach, was du willst.“

Sie hat partout keine Lust, sich die Laune verderben zu lassen und summt bei offenem Fenster San Bernadino.

„Ist nicht viel los in Koblenz, du. Guck mal, die Weinberge. Gekämmt und gescheitelt.“

Ich nicke, bin aber nicht bei der Sache. Ich werde nicht recht schlau daraus, warum es beim Blechrauchen so eine Stichflamme gegeben hat – ruckelnde Bahn hin, ruckelnde Bahn her. Es muss ein Zeichen vom Herrgott gewesen sein, eine Botschaft. Bloß – welche?

Frankfurt am Main. Verspätet eingetroffen auf Gleis 5 der Intercity Johann Sebastian Bach ..

„Ich denke, der heisst Donau-Kurier“, sag ich.

„Heisst der ja auch. Die meinen bestimt einen anderen.“

.. und auf Gleis 12 der Donau-Kurier nach Budapest, über Wien-West.

Noch sind wir allein im Abteil. Und das soll auch so bleiben. Wenigstens für heut Nacht. Wir brauchen keine Gesellschaft. Wir kommen gut alleine klar. Wir pflegen eine besondere Form von Autismus: Wir versuchen so viel wie möglich von der Welt mitzukriegen, ohne länger als nötig behelligt zu werden. Kein leichtes Unterfangen. Sie umschrieb es einmal so, mit leuchtenden Augen: „Am besten, wir schleichen uns in eine betreute Aussenwohngruppe ein, damit wir den Kopf frei haben für die wirklich wichtigen Dinge im Leben.. Dann sind wir Königin!“

„Dieser Zug endet hier“, faucht die Gräfin in den Gang.

Wir ziehen die ochsenblutroten Vorhänge zu, stellen die Deckenbeleuchtung auf matt. Viertelstunde Aufenthalt in Frankfurt, Viertelstunde Bangen und Hoffen, dass die Tür geschlossen bleibt, dass wir unter uns bleiben, unter uns Autisten. Viertelstunde den Gesprächsfetzen auf dem Gang lauschen, dem Ziehen und Poltern von Gepäckstücken. Und dann passiert es doch. Die Schiebetüre öffnet sich, und jemand schaut herein. Aus dem Halbdunkel unserer Kabine starren die Gräfin und ich zurück wie zwei schwachsinnige Hermelinchen und die Tür wird ebenso rasch wieder zugeschoben wie sie aufgemacht wurde.

„Schulligung..“

Ja, kein Problem! Wir klatschen uns ab.

Als im Zug einigermaßen Ruhe eingekehrt ist, gehe ich hinaus und nehme das Reserviert!-Schildchen von der Nachbarkabine, klemme es an unsere Tür

„Mehr kann man nicht machen. Das muss reichen.“

„Ich wüsste da schon noch was“, meint sie. „Zieh die Schuhe aus.“

Gute Idee. Doch kaum hab ich die Sneakers ausgezogen, schiebt sich die Kabinentür auf. „Frei?“ Im Gang stehen ein Vater, ein Koffer, eine halbwüchsige Tochter. Ich nicke mürrisch, mit einem Paar Strümpfe in der Hand. Vater und Tochter setzen sich zu uns, ohne eine Antwort abzuwarten.

„Sie fahren bis Ween?“ fragt der Mann. Hager wie ein Langstreckenläufer, amerikanischer Akzent.

„Wir fahren über Wien“, antworte ich, „bis Budapest.“

Zwei Minuten drauf.

„Und Sie? Wien?“ frag ich doof.

„Weeen“, sagt er. „Yes. Vienna.“

Die Gräfin macht sich am Fensterplatz lang und studiert unser Ticket.

„Kommt Passau vor Wien?“ flüstert sie in mein Ohr.

„Klar. Passau ist die Grenze.“

„In Passau sind wir erst um vier. Und in Wien um acht.“ Sie stöhnt. „Und bis dahin haben wir die ganze Zeit die Amis im Abteil..“

Das Töchterchen liest im Dämmerlicht ein Micky Maus-Taschenbuch und lutscht am Daumen. Einmal verlässt der Mann unser Abteil, mit einem Seitenblick auf meine Strümpfe, und als er wenig später zurückkehrt, sammelt er eiligst Tochter und Gepäck ein.

„Free Abteil! Next to the right! Come on, Josy!“

Jessas! Wir feiern alle ein Fest. Mann, Tochter, Koffer auf der einen Seite, Mann, Frau, zwei Gepäckstücke auf der anderen Seite. Ohne eine Sekunde zu verlieren, löscht die Gräfin das Deckenlicht und wir machen uns daran, die sechs Kabinen-Sitze zu einer großen ochsenblutroten Liegewiese umzubauen, die uns kommod durch die Nacht bringt. Krummes haltungsschädigendes Schlafen bis 4 Uhr, Passkontrolle Passau. 8 Uhr: Wien West. Halbe Stunde Aufenthalt.

„Fühl mal.“

Sie hält mir den Hinterkopf hin. Überall Beulen, meint sie, vom langen Liegen. „So Liegebeulen. Fühl mal.“

„Quatsch. Da ist doch gar nichts.“

„Wie, da ist nichts..? Spinnst du? Du merkst auch gar nichts mehr! Du mit deinem Taubenhirn.“

Sie hat den STERN wieder in Arbeit und macht mit mir irgendeinen Psycho-Test, doch mir fallen dauernd die Augen zu. Ein Fitzel Heroin scheint doch in mein Blut geraten zu sein, anders kann ich mir die Bräsigkeit nicht erklären. In dem Test geht es um Stresstauglichkeit.

 

2. Juli 1993

Hinter der österreichisch-ungarischen Grenze wird aus dem Schnellzug eine zuckelnde Regionalbahn, ohne dass die Zugmaschine gewechselt worden wäre. Der Zug fährt einfach langsamer und legt an jedem Kaff einen Halt ein. Alle Abteile sind besetzt. Die Hitze wird von Stunde zu Stunde unerträglicher, da die Zugfenster eingerostet sind und sich nicht öffnen lassen. Es raubt einem den Atem. Manche Streckenabschnitte sind so überfüllt, dass wir wie in einer Strassenbahn mitten im Gang stehen und uns an Halteschlaufen festklammern. Als wir um Mittag herum endlich Budapest erreichen, sind wir so erledigt, wir können uns kaum noch auf den Beinen halten.

In der Bahnhofshalle identifiziert man uns schnell als Touristen auf der Suche nach einer Unterkunft. Innerhalb kürzester Zeit sind wir von Einheimischen belagert, die wahlweise für little money oder very little money ein Privatzimmer vermieten oder die Leute kennen, die ein Privatzimmer für little oder very little money zu vermieten haben oder die sofort jemanden anrufen können, der Leute kennt, die scheenes Privatzimmer zu vermieten haben.

„Wir bringen direkt in Zimmer, Herr! Wir gutes Doppel-Zimmer! Privát!“

„Hier, billige großes Zimmer! Für scheene Frau!“

Von allen Seiten zerren Hände an uns und am Gepäck, es geht zu wie auf dem Basar. Dummerweise wissen wir nicht, wem man trauen kann. Hat ja keiner einer Schild um den Hals: BIN TOTAL IN ORDNUNG. Eine energisch plappernde, leicht dickliche Frau lotst uns aus dem Gewimmel heraus, wir folgen ihr einfach, wie betäubt von all dem Lärm, der drückenden Stadthitze und der schleppend-langen Zugfahrt. Zum Glück haben wir den Hund daheim gelassen, will ich der Gräfin ins Ohr flüstern, finde dann aber den Moment eher ungünstig und halte die Klappe. Die Frau führt uns über den Bahnhofsvorplatz zu einem Wag. Ein winziges Ostblockmodell, winziger als ein Fiat 500. Die Gräfin ist skeptisch.

„Wie sollen wir da reinpassen? Wir drei und das Gepäck?“

„Vielleicht bringt sie uns einzeln und nacheinander ins Quartier“, vermute ich noch, da hat sie uns beide schon samt Koffern in das Vehikel gestopft, so geschwind, wir wissen kaum, wie uns geschieht. Es ist, als hätte sie um uns herum mal eben die Karosserie aufgebaut.

„Das ist ne Zauberin“, lacht die Gräfin.

Ich quetsche mich vorn auf den Beifahrersitz, die Gräfin hockt auf meinem Schoß, den Kopf direkt unterm Wagendach, während die dicke, nach Schweiß riechende Zauberin losbraust und auf der sechsspurigen Utca wendet, ohne dabei mehr als unbedingt nötig auf den Verkehr zu achten. Dabei dreht sie sich auch noch zu uns um und ruft Dinge, die wir nicht verstehen.

Die Frau kutschiert uns über die Brücke in den Stadtteil Pest, in die Wohnung eines „Freundes“, der aber im Moment nicht daheim sei, aber ein großes helles Zimmer zu vermieten habe. So verstehen wir ihre Worte jedenfalls, als wir an einem klassizistischen Altbau aussteigen und sie uns die Bleibe im dritten Stock zeigt, direkt an der entschlossen lärmenden Hauptstrasse. Bevor wir uns fürs Bleiben entscheiden, trifft sie die Entscheidung für uns und lässt einfach die Schlüssel da und verschwindet ohne ein weiteres Wort zu verlieren durchs hotelartige Treppenhaus.

„Wohnen wir jetzt hier?“ fragt die Gräfin.

„Keine Ahnung. Sieht so aus.“

Am Abend essen wir gleich gegenüber im überfüllten IMBISZ eine Gulaschsuppe und fallen todmüde und geschlaucht ins Bett. Es sind zwei kleine Betten, die Kopf an Kopf stehen. Niemand lässt sich in der Wohnung blicken, weder am Abend noch in der Nacht. Bezahlt haben wir noch keinen Forint.

3. Juli 1993

22. Todestag von Jim Morrison. Schon früh am Morgen ist es so heiß und stickig in der Stadtwohnung, dass wir die Schwimmklamotten packen und mit der Straßenbahn zur Margareten-Insel fahren, zum größten Freibad der Stadt. Den Tipp haben wir aus einem veralteten Reiseführer.

Das Freibad ist grandios überfüllt. Im Schwimmerbecken, groß wie ein Fußballfeld, wimmelt es von toten Insekten, die auf der Wasseroberfläche treiben und niemanden kümmern. Als die Gräfin schreiend die Flügel und weitere Kleinteile einer toten Libelle ausspuckt, hat sie die Nase voll und bleibt fortan auf der Liegewiese.

Seltsam: Anstatt zu schwimmen, stehen die Einheimischen zu Hunderten im Wasser und trampeln sich gegenseitig auf den Füßen rum wie missmutige Stehgeiger. Gelegentlich wird stoisch nach einem Ball gegriffen, der von irgendwoher angeflogen kommt. Unglücklich sieht dabei aber niemand aus. Glücklich natürlich auch nicht.

Über die Hälfte des monströs großen Beckens ist Nichtschwimmerbereich, und als ich es doch einmal wage und ein paar Stöße kraule, beziehungsweise so tue, als könnte ich kraulen, werde ich sofort und unmissverständlich zur Räson gerempelt; „tabú“ tönt es von allen Seiten.

Aus den heissen Duschen sickert eine Brühe heraus, die nach Jauche müffelt, kalte Duschen finden wir nicht.

Es gibt allerlei Bratfischbuden.

Schwimmen macht hungrig, auch wenn man nur im Wasser rumsteht. Wir verlassen die Margarteninsel und landen in einer Nebenstrasse in einem kleinen Keller-Restaurant. Der Wirt legt zu Ehren von Jim Morrisons 22. Todestag „L.A. Woman“ auf, das ganze Album, doch ich bin zu erledigt, ich habe an nichts Freude. Allmählich macht sich der Entzug bemerkbar. Nur bei „Riders on the storm“ werde ich etwas rührselig. Die Gräfin auch. Sie weint sogar ein bisschen, und ich werde neidisch.

Als wir später in die Wohnung kommen, werden wir schon erwartet, von  Zsa Zsa, unserem Vermieter. Er ist schwer enttäuscht, dass wir auf der Margaraten-Insel das hässliche Freibad besucht haben, statt uns auf eine der vielen Sehenswürdigkeiten Budapests zu konzentrieren.

„Gellert-Bad“, bellt er uns ein ums andere Mal an, wie ein dicker verfressener Köter, „Gellert-Bad, wunderbaar!“

4.Juli 1993

Der dritte Tag in der Hauptstadt. Das Hochhaus liegt im Stadtteil Pest, im 8. Bezirk, direkt an einer quirligen Kreuzung. Ohne Unterlaß rollen Strassenbahnen heran, die Hitze staut sich in der Dachwohnung. Zudem arbeitet im Innenhof des Hochhauses eine stramme Zikaden-Manufaktur daran, sich für die Weltmeisterschaft zu qualifizieren. Sie hat gute Chancen.

Unser Vermieter, den wir Zsa Zsa nennen, da er mit Nachnamen Gabor heisst und mit den Augenlidern zuckt wie eine Hollywood-Diva, ist mittlerweile Tag und Nacht daheim und beobachtet uns. Die wenigen Worte Deusch, die er aus dem deutsch-ungarischen Wörterbuch gelernt hat, nuscheln besonders galant aus ihm heraus, wenn ihm morgens die Gräfin über den Weg läuft.

„Scheene Frau.. ! Küss die Haand..“

Für meinen Geschmack tun die Ungarn ein bisschen arg vornehm, mit Bratenflecken auf ihrem gerippten Unterhemd und dem Mundgeruch eines langen Sommers. Seltsam auch: Zsa Zsas Kühlschrank ist zum Bersten bepackt mit Milchprodukten. Sonst nichts. Nur Dutzende von übereinander gestapelten Kefir- und Molke-Becher. Wir wissen nicht, was wir davon halten sollen. Einmal ertappen wir Zsa Zsa in der Küche, mit einem Michbart.

Da es auch in der Nacht kaum unter 25 Grad abkühlt, schlafen wir bei offenem Fenster, trotz der im Fünf-Minuten-Takt vorüberratternden Strassenbahnen und den Ambulanzwagen, deren nordamerikanische Sirenen durch die Nacht heulen wie im Ballerspiel am Computer. Da zudem die Strassenlaternen und Neonreklamen unser Zimmer ausleuchten, wird es niemals richtig dunkel.

Ich schiebe meinen kleinen Affen. Es ist eine einzige Strampelei, ich wandere das Bett im Liegen auf und ab.

Tagsüber ist es kaum besser. Die Hitze staut sich so in den Strassen, dass wir jedes Getränk auf der Stelle wieder ausschwitzen und nichts übrig bleibt zum Pinkeln.

„Ich rieche schon nach Ammoniak“, stöhnt die Gräfin.

Es ist Sonntag, wir gehen wieder schwimmen, diesmal ins legendäre Gellert-Bad, um Zsa Zsa ruhig zu stellen. Der dicke Köter nervt. Ich bin dermaßen mies drauf, dass ich im Gellert-Bad eine geschlagene halbe Stunde wie ein trotziger kleiner Bub neben dem Thermalbecken stehe und bibbere. Ich will nur noch so schnell wie möglich nach Hause. Ein dickes fettes Pack kaufen.

Es ist unmöglich, Zugang zu seiner Umgebung zu kriegen, wenn man einen Affen schiebt. Gegen den kleinsten Heroinentzug ist ein Alkoholkater eine Tüte Süßigkeiten vom Büdchen. Heroin bedient das Ruhebedürfnis. Heroin schafft es, dass man sich für eine Weile pudelwohl wie ein Säugling fühlt. Heroin ist Stille, solange man es intus hat. Hat man Heroin nicht intus, wird es verdammt laut.

Die ganze tolle Jugendstilarchitektur im Gellert-Bad kann mich jedenfalls mal am Arsch lecken. Die Gräfin spielt Kommodo-Waran und toter Mann im Wasser.

„Kann man sich mit Krokodilen anfreunden?“ ruft sie gut aufgelegt. „Ich meine, kennst du jemanden, der ein Krokodil zum Freund hat? Ich finde, Krokodile haben was Tröstliches an sich, was Uraltes, das ich gerne zum Freund hätte. Was meinst du?“

Ich antworte nicht. Ich steh am Beckenrand und bibbere. Sie findet mich doof.

„Komm doch rein ins Wasser, ist lecker warm. Wie in der Badewanne.“

„Nee! Keinen Bock! Echt nicht.“

Ich bin total bescheuert.

5. Juli 1993

„Wir scheissen auf die Großstadt und fahren heute mit dem Bummelzug zum Balaton“, schreibe ich auf die Postkarte, die ich für Karlos und Sandy in Budapest gekauft habe und abschicke.

Zum Abschied hat Zsa Zsa, wie immer frisch herausgeputzt, einen Bückling vor der Gräfin hingelegt, so tief, ich dachte schon, gleich leckt er ihr die Schuhspitze, doch da war ihm sein Wanst im Weg. Das schaffte er nicht, der dicke Köter.

Der Zug zum Plattensee ist so brechend voll, dass wir uns abwechselnd einen Sitzplatz teilen müssen. Der Gräfin steht der Schweiss fingerdick auf der Stirn, und unter ihrem weissen Hemd tropft es vom Busen auf den Bauch.

„Hier, fühl mal.. He! Fühlen! Nicht dranpacken!“

Mir gehts besser, nach drei beschissenen Entzugstagen kann der Urlaub losgehen. Und wir sind endlich aus Budapest raus. Ich hasse große Städte. Große Städte sehen nur im Spielfilm gut aus, wenn man nicht an der Hauptverkehrsader wohnt und die Rush Hour nicht vierundzwanzig Stunden am Tag dauert und keine Ambulanzwagen im Dauereinsatz sind.

Neben unserem Sitzplatz hockt ein gemütlicher dicker Ungar mit Schnauzbart und kleinem Transistorradio, das er leise zur Unterstützung einsetzt, während er die Landschaft erklärt, die am Fenster vorüberzieht, wie in eine Live-Schalte in die gute alte Puszta. Er spricht ein bisschen Deutsch, seine Großmutter stammt aus Schwaben und ein Kamerad von ihm, sein bester Kamerad, arbeitet in München als Foto-Laborant. Bei Quelle.

Alle paar Kilometer zeigt der Ungar nach draussen. Da, wo die langgestreckten verlassenen Kasernen stehen, waren früher SS-20-Raketen der Sowjets stationiert, erzählt er. Und da vorn hat Beethoven eine Weile gelebt. Da hinten gibt es berihmte Knoblauchwurst. Als wir ein duftendes Lavendelfeld passieren, müssen viele der Reisenden plötzlich niesen, und auch mir kitzelt es lila in der Nase.

Wenn der Ungar mal nichts zu erzählen hat, sitzt er angestrengt nachdenkend da, als suche er bereits nach der deutschen Formulierung für die nächste Sensation, die am Fenster vorüberzuckelt. Dann kommt Szekesferhar, die alte ungarische Hauptstadt, in der früher die Keenige gekreent wurden. Dahinten wurde Piroschka übers Knie gelegt. Und dann folgt eine Batterie endloser riesiger Schweinehallen.

„Scheene Schweinestall. Scheen!“

Ein paar Kilometer lang stinkt es so erbärmlich nach Kuhscheisse, dass sich die Gräfin auf eine verschwitzte Kippe ins Raucherabteil abseilt.

„Scheen! Scheen!!“

Da in Budapest keine Zeit mehr war, um sich mit Getränken einzudecken, sitzen wir die zwei Stunden im stickigen Bummelzug zum Plattensee auf dem Trockenen und stellen durstig das Reden ein, was den Ungar schwer enttäuscht. Seine detaillierten Reisebeschreibungen stoßen auf immer weniger Resonanz. Aber was soll man auch sagen, wenn einem der Schmand fingerdick unterm Gaumen steht.

Endlich erreichen wir Siofok, den wichtigsten Badeort am Plattensee. Es herrscht Betrieb wie in Budapest. Wir können kaum die nächste Fähre abwarten, die uns auf die andere Seeseite übersetzt, ins beschauliche Tihany, dem Geheimtipp im Reiseführer. Unserem erklärten Reiseziel 1993.

Am Kiosk in Tihany erkundigen wir uns nach einem Privatquartier, und es dauert keine Minute, da hocken wir mit einer Adresse versehen in einem Geländetaxi, das uns ins höher gelegene Dorf bringt, zur Csokonai 80. Ein flacher Bungalow mit Garten, in dem Mirabellenbäume wachsen und Vögel zwitschern. Der Bungalow hat drei grosse Schlafräume, und wir sind nicht die einzigen Gäste. Ein anderes deutsches Pärchen, zehn Jahre jünger als wir, wohnt bereits hier, wir benutzen gemeinsam die Küche. Wir finden zehn Dosen Ravioli im Küchenschrank, ordentlich übereinander gestapelt. Fortan fungieren die Nachbarn nur noch als der Ravioli-Club.

Im Garten laufen uns kopulierende Riesenkäfer über den Weg, die machen es zu dritt. Da kennen die nichts.

Sieht doof aus.

6. Juli 1993

Das erste Mal gut geschlafen. Kaum wach geworden, sitze ich am Tisch und mach mir ein paar Notizen, bevor ich wieder alles vergesse, was ich geträumt habe, während die Gräfin, an diesem Tag als „schwarze Mumba“ unterwegs, im Bett bleibt und einen Kriminalroman liest. Hin und wieder spielt sie sich am Bär, zwei Mal spiele ich mit. Na, das sind langsam mal Ferien. Auch der Ravioli-Club macht nebenan eine Büchse auf.

Leider hat sich das Wetter über Nacht geändert. Der Himmel ist bedeckt, es ist kühl und windig. Unbeeindruckt davon schleppen sich drei rote Riesenkäfer ineinander verkeilt durch den Garten, wie eine Insektenschleppe.

Wir stellen alle Fenster und Türen auf Durchzug, wie wir es in Budapest gelernt haben, und prompt holt der Wind eine Vase vom Schrank und lässt sie auf dem Parkettboden zerschmettern. Wir sind noch keinen Tag da und haben schon den ersten Versicherungsfall am Arsch. Ich setze die Vase, die jetzt aus fünf großen Einzelteilen besteht, notdürftig wieder zusammen und stelle sie in den Küchenschrank, weit nach hinten, noch hinter den Ravioli-Dosen. Diese Schweine! Die kriegen auch alles kaputt! Woher kommen die überhaupt?

„Aus dem Allgäu“, meint die Gräfin.

Kein Wunder.

Als es anfängt zu regnen, gehen wir spazieren, zum See runter. Mehrfach begegnet uns ein junges Paar, das schlampig im Kreis herumirrt, ohne Orientierung. Augenscheinlich sind es ebenfalls deutsche Touristen, sie grüssen. Aber auf ungarisch!

„Die halten uns für Ungarn“, flüstert die Gräfin.

„Ja, es geht los, ja“, sag ich, „wir assimilieren.“

Das Freibad am Balaton gehört zu einem großen Hotel und hat geschlossen, ansonsten kommen wir nicht ans Seeufer heran. Es regnet sich ein. Die Gräfin kauft am Markstand einen Armreif aus Messing.

„Messing ist das Gold der Beladenen“, sag ich und weiss selbst nicht, wo ich das aufgeschnappt habe und was das soll. Auf dem steilen Rückweg hoch ins Dorf sticht mir eine langbeinige Gulaschmücke in den Hals, und als ich sie verjagen will, verfehle ich das Insekt und scheure mir selbst eine. Die Gräfin kriegt sich nicht mehr ein vor Lachen. Wir sind klatschnass vom Regen.

„Was ein nasser Urlaub“, schimpft sie. „Entweder man schwitzt oder man ist gerade im Wasser oder man war im Wasser und schwitzt schon wieder oder man ist nass vom Regen. Egal, was man auch tut am Plattensee, immer ist man nass.“

Die Einheimischen am Kiosk sind ein Bild für sich. Stehen da wie vornehme Bauarbeiter und saufen Wein aus Bierkrügen. Da fällt mir ein Spruch von Benzini ein: Du kannst von morgens bis abends ein Glas Champagner in der Hand halten, es bringt nichts, du bleibst immer Arbeiterklasse, worauf ich einwarf: Richtig, aber dafür können die Anderen soviel Jägermeister saufen, wie sie wollen, sie werden NIE Arbeiteklasse.

Die Ungarn präsentieren sich als stilles Volk, genügsam irgendwie, es hat die höchste Selbstmordrate der Welt. Abends packe ich das winzige Stück Hasch aus, das ich mitgenommen hab. Wir stecken es auf den Kopf einer Sicherheitsnadel, zünden es an, inhalieren den Rauch. Die Sparmethode. Kratzt im Hals und knallt. Und nicht nur das. Es bleibt sogar noch was übrig.

7. Juli 1993

Erst mal frühstücken. Sie haut ordentlich rein. Danach schneide ich mir im Garten die Fußnägel, überm Gullydeckel. Die sind so happig geworden, die Fußnägel, die ziehen schon Blicke, besonders im Freibad. Nichts gegen Blicke, aber wenn die beständig und ausschliesslich den Füßen gelten, das verunsichert. Füße sind ein bißchen wie Zähne, nur untenrum: Jeder achtet beim Anderen darauf, wie sie in Schuss sind.

Das Dörfchen Tihany erinnert mit seinen rietgedeckten Dächern an das Kaff am Mississippi, wo Tom Saywer und Huck Finn lebten, in der deutschen Verfilmung von 1968. Telegraphenmasten, staubige Wege, Hühner, die in den Hof gescheucht werden. Es gibt sogar einen klappernden Pferdewagen, der Postbote tuckert auf einem Mofa durchs Dorf.

Und auch wenn wir es noch nicht endeckt haben: irgendwo lässt Tante Polly ihren Tom den Zaun streichen, garantiert! Und Huckleberry Finn wird in einer stinkigen Tonne wach.

Huck war das Idol ihrer Kindheit. So wollte die kleine Gräfin leben. Frei, und in den Tag hinein. Pfeife rauchend. Mark Twain, seine kultivierte, zu Herzen gehende Sprache, hatte sie ganz allein für sich entdeckt, als sie neun oder zehn Jahre alt war. Sie las ihn ein ums andere Mal, sie konnte nicht genug davon kriegen.

„Mark Twain hat meine Lust auf Sprache geweckt.“

Zwar ist sie heute noch ihrem Vater dankbar, dass er ihr abends Gedichte vorlas. Den Erlkönig, wo sie stets weinen musste, wenn der Vater mit dem Kinde davonreitet, doch so schön es auch war, es war nichts gegen die Abenteuer von Tom Saywer und Huckleberry Finn, von Indiana Joe und Tante Polly, die gerne streng gewesen wäre, aber ein zu großes Herz hatte. (Vermutlich stammte sie aus dem Rheinland.)

„Aber die Kindheit kommt nie wieder“, seufzt die Gräfin.

„Es kommt niemals auch nur irgendetwas wieder“, sag ich.

Abends Spieleabend auf dem Zimmer. Die Gräfin gewinnt mit 40 Punkten Abstand beim Scrabble. Dann schlägt sie mich mit 2:1 beim Backgammon. Die Partie Dame geht an sie. Die Partie Schach eröffne ich französisch, dann löschen wir das Licht.

8. Juli 1993

Das Wetter wird besser, das Freibad hat wieder geöffnet. Napi belöpö, so steht es geschrieben auf den Eintrittskarten, napi belöpö wird ab sofort unser Running Gag.

„Napi belöpö! Napi belöpö!“ schmettern wir im Chor wie die Blagen. Die haben auch nie eine Ahnung, was sie da plappern, und es ist ihnen auch schnuppe. Hauptsache, es klingt wie lustiges Knäckebrot.

Auf der Liegewiese haben wir clevererweise einen Platz im Radius eines Rasensprengers belegt. Das ist frech wie Dreck, das Teil. Kaum hat es uns einige Runden lang verschont, schlägt es nur umso emsiger und erbarmungsloser zu. Nur unter Mühen gelingt es mir, auf die Schnelle eine Brücke über meinem kostbaren Notizbuch zu errichten, mit dem Rumpf, damit es trocken bleibt und die Schrift nicht unleserlich wird.

„Na, typisch!“ kräht die schwarze Mumba. „Bei deinem scheiss Buch achtest du darauf, dass ja nichts drankommt, aber ich kann ja nass werden wie in der Regenzeit, das juckt den Missjöh ja nicht! Nee, das nicht.“

„Es ist dreissig Grad“, zurre ich meine Verteidigungslinie fest. „Das ist Wasser doch eine schöne Erfrischung für dich.“

„Ach ja? Und Ihr gnädiges Notizbuch, das braucht wohl keine Erfrischung, wie!?“

Eigentlich nicht.

Das Freibad gehört zu einem Luxus-Schloßhotel und kostete 100 Forint Eintritt, zwei Mark. Es befindet sich am Ufer des Balaton und ähnelt einem herrschaftlichen Anwesen, mit seinem Bestand an dichten Nadelbäumen und der großzügigen Rasenfläche. Es bietet soviel Platz, niemand muss dem Anderen auf den Pelz rücken. Man muss nicht, aber man kann, wie wir noch lernen sollen.

Etwas abseits steht ein weiteres Hotel, leicht heruntergekommen, Marke DDR-Plattenbau. Es stammt noch aus der Zeit, als altgediente Stalinisten am Balaton ihre wohlverdiente Kampfruhe fanden und sich gegenseitig mit Wodka unter die Erde soffen.

Die Gräfin hat einen zweiten Krimi in Arbeit. Wenn sie einmal liest, ist sie nicht mehr zu halten. Sie liest und liest, sie liest sich um Kopf und Kragen. Nur wenn der Rasensprenger wieder mal seine Runden dreht und um sich spuckt, tschilpt sie kurz auf, wie in einer Zoo-Handlung, die ein fieser Kunde betritt, mit dem niemand zu tun haben möchte. „TSCHILP! TSCHILP!“

Dann wird weitergelesen.

Was mich betrifft: Ich hab langsam die Nase voll, immer nur aufzupassen, dass mein scheiss Notizbuch nicht nass wird vom Rasensprenger, und so verlagern wir unseren Liegeplatz einige Meter näher zum Ufer hin. Weg vom Sprenger, hin zu den beiden österreichischen Familien. Vielleicht sind es auch mehr als zwei Familien, vielleicht sind es drei oder vier, vielleicht ist ein ganzer Mafia-Clan aus dem Waldviertel zu Gast. Schwer zu sagen. In ihrer Verkettung erinnern sie an die kopulierenden Käfer in unserem Garten. Jedenfalls, es handelt sich um eine ganze Menge Familienväter, Mütter, Kinder, Tanten und Onkel, und allesamt kommen sie aus Österreich.

Da ist der Pepperl, sein Vater ist der Toni. Vater Toni verharrt eine dreiviertel Stunde in der Kronen-Zeitung, um dann mit einem Mal wild um sich zu schlagen. Erst mit der Zeitung, dann mit Badeschlappen. Dann schmökert er ungerührt weiter. Er hat nicht eine Wespe getroffen.

Pünktlich um sechs läuft ein Ausflugsdampfer in den nahen Hafen von Tihany ein und hupt wie ein Eisbrecher, daraufhin machen wir Schluß für heute und ziehen Leine. Baden macht hungrig. Unser liebstes Restaurant liegt am Rande von Tihany, wo wir die Kellner mit Trinkgeld zuscheissen, weil das Futter so billig ist. Die Küche macht uns den Ranzen rund, ohne dass wir auf dreißig Mark kommen.

Ich nehme grundsätzlich Steak, während die Gräfin schon mal Sachen nimmt wie Huhn mit gefülltem Apfel, das ich dann zur Hälfte als Nachtisch verputze. (Postkarte an Schnaat).

„Ich glaub, heut Abend nehme ich mal ein schönes Steak“, sage ich zur Gräfin, „mit Lyoner Zwiebeln.“

9. Juli 1993

Wir sind erst am frühen Nachmittag im Napi Belöpö-Bad, Grund: Sie hat sich einen ordentlichen Sonnenbrand geholt und möchte sich heute schonen. Ich empfehle, demnächst nur noch in einem Schrank verborgen das Wasser zu betreten. Sinn macht das nicht, aber wir sind in Ferien. Wir sind nicht in Urlaub, wir sind in Ferien. Das ist ein Unterschied. In Ferien ist Unsinn Programm, im Urlaub eher nicht.

Wieder liegen wir im Freibad, dick eingecremt mit Sonnenmilch von Nivea, die hier so teuer ist wie ein ganzes Abendessen und brabbeln wie die Kleinkinder.

Der missratene Teil der österreichischen Großfamilie, sie ist im Luxus-Hotel abgestiegen, trudelt ein. Besonders angetan hat uns der feiste kleine Österreicher mit den schütteren Haartäschchen hinterm Ohr. Dreimal hintereinander fordert er seine Landsleute zum Bier am Kiosk auf, stets im gleichen Tonfall, stets mit dem Vorwurf, es sei schliesslich schon 14 Uhr und damit „allerhöchste Bier-Time!“

Er lacht sich scheckig.

„Allerhöchste Bier-Time! Mahahaaa!“

„Der geht mir auf den Sack“, sag ich zur schwarzen Mumba, die davon nichts hören mag.

„Kümmere dich nicht immer um das Gewäsch anderer Leute.“

„Na, und ob ich mich um das Gewäsch anderer Leute kümmere!“ entgegne ich und imitiere den vertrottelten Glatzkopf,  allerhöchste Bier-Time, ha!

„Der soll die Fresse halten!“ meint die Gräfin.

Als der Österreicher endlich sein gezapftes Allerhöchste-Bier-Time-Bier in der Hand hält, sehe ich ihn herzhaft gähnen, während seine Landsleute ihre Humpen stemmen, mit erschöpften Gesichtern.

Zehn Minuten später, wir kommen gerade aus dem Wasser, hängt der feiste Österreicher erledigt in den Seilen und lässt nur noch ein schwächelndes „bier..time“ herauströpfeln, und wir beömmeln uns vor Vergnügen. Seine Landsleute dagegen wenden sich sauertöpfisch ab.

„Dem brauche ich gar nicht auf die Fresse zu hauen“, sag ich zur Gräfin, „der besorgt das schon selbst.“

„Na, dann ist es ja gut.“

10. Juli 1993

Nach dem Frühstück (reggeli) schneide ich mich beim Rasieren ins Fleisch, zweimal hintereinander. Erst in die Unterlippe, dann in die vor Wut geblähten Nasenflügel. Die blutigen Katschen hole ich mir immer dann, wenn ich eine fabrikfrische Klinge einlege und besonders vorsichtig zu Werke gehe. Das geht jedes Mal besonders schief und ich brauche eine halbe Haushaltsrolle, um die Blutung zu stoppen.

Später liegen wir im Garten. Es ist drückend heiss. In der Ferne grollt ein Gewitter, als habe der Herrgott seinen neuen Riesenbackofen in Betrieb genommen, mit Chesterkäse und Blitzkartoffeln.

„Hast du schon wieder Hunger?“ fragt sie mit den Hintern in der Sonne, während der Rest ihres Körpers Sonnenbrand hat und daher verhüllt ist. Aber sie hat ja recht. Ich bin am Balaton in Ferien und was tu ich? Bin nur am fressen. Ein fahrendes Büdchen auf drei Rädern tuckert durchs Dorf und verkauft Eiscreme in Riesenbechern. Das erinnert die Gräfin an ihre Zeit in der Lukas-Klinik, wo sie Jahre zuvor, mehr aus Versehen, eine Lehre als Krankenschwester begonnen hatte.

„Das muss so vor 12, 13 Jahren gewesen sein.“

Einmal kam ihr auf dem Flur Schwester Ingeborg entgegen, völlig aufgelöst. “Der Borchert hat den Sputum-Becher vom Langner leergesoffen!” Borchert und Langner waren zwei Tattergreise, die gern mal mit Stuhlgang um sich warfen, wenn er nur schön hart und griffig genug war.

„Das war für die beiden alten Böcke wie eine Kissenschlacht.“

Wir lachen noch eine Stunde später, jedes Mal aufs Neue, wenn dieses Bild wiederkehrt, wo sich Borchert über den Sputum-Becher vom Langner hermacht.

„Bäähh..!“

„Eigentlich komisch, dass wir mit unseren riesigen Gehirnen nicht jeden Tag wahnsinnig werden“, sagt sie schliesslich.

„Wieso? Werden wir doch.“

„Ja schon. Aber ich meine, so richtig bekloppt.“

„Ja. Das meine ich ja auch.“

11. Juli 1993

Wir spazieren ein Mal quer über die ganze Halbinsel. Clevererweise genau in der Mittagshitze. Schwarz-gelbe Salamander flüchten in die Weinstöcke, wenn sich unsere Badeschlappen nähern.

„Ich finde, man sollte mal wieder Löwen ansiedeln in Europa“, sagt sie, „damit wir alle etwas kleinlauter werden. Elefantenkühe in Köln-Porz, Alphamännchen in Prag. Die Menschheit braucht Freßfeinde, damit sie das Leben wieder zu würdigen weiss, auf freier Wildbahn.“

Der laue Wind macht die Mittagsglut kaum erträglicher. Wir beobachten einen Bauer bei der Arbeit. Ganz allein auf weiter Flur bestellt er sein Feld und singt mit fester Stimme. Ein singender Bauer, in sich versunken, bei der Feldarbeit. Dass es so was noch gibt..

„Eigentlich tut er das Sinnvollste, was ein Mensch tun kann“, sagt die Gräfin leise. „Er baut Nahrung an. Er sät, er erntet, und irgendwann landet es auf seinem Teller. Er braucht von niemandem Anerkennung.“

„Und bekommt sie doch“, sag ich. „Er bekommt die Anerkennung von Gott.“

Keine Menschenseele begegnet uns, zwei Stunden lang. Der Boden ist wie ausgedörrt. Salamander huschen ins Weizenfeld, wir ruhen unter einem Aprikosenbaum. Und urplötzlich hören wir Strandbadgeräusche. Gequieke von Kindern. Wir biegen um die Ecke, und befinden uns mitten in Rimini: ein 50 Meter langer Sandstrand am verschilften Ufer des Balaton. Hunderte von Leuten faulenzen im Schatten, alles Einheimische. Warum kaum einer im Wasser ist, merken wir, als wir kopfüber in den See stürzen und auftauchen, inmitten von Unmengen totem, stinkigen Fischlaich.

„Napppff“, nehme ich den Mund halbvoll.

Zurück nach Tihany halten wir an der Uferstrasse den Daumen raus. Drei junge Ungarn nehmen uns im Skoda mit. Im Radio laufen die Doors.

„Don’t you love her madly.“

In unserem Häuschen auf der Csokonai Str 80 hocke ich erst mal eine halbe Stunde platt im Sessel. Etwas Fischlaich kommt hoch, als ich rülpse. Dann verschwinde ich mit dem Mini-Piece aufs Klo. Stecke es auf den Kopf der Sicherheitsnadel, und rauche mir einen. Die Badezimmertür springt auf. Die Gräfin. Sucht ihr Feuerzeug.

„Och, du Arsch! Hast du alles weggeraucht?“

Der Qualm steht noch in der Luft.

„Nee, ich hab noch was in petto“, wiegel ich ab. „Im Schränkchen neben meinem Bett.“

Verdammt, das muss ich jetzt abtreten.

Am Abend, noch vor dem üblichen Steak, suchen wir uns im Garten ein sonniges Plätzchen. Ganz am Rand der Wiese werden wir fündig. Erst sind wir nicht allein, doch der Ravioli-Klub macht sich schnell vom Acker, als er uns kommen sieht. Überhaupt erweisen sich unsere Nachbarn aus dem Allgäu als angenehm mundfaul. Pro Tag wechseln wir im Schnitt einen Satz, zumeist unvollständig.

„Da, du haben“, hab ich heut morgen nur geknurrt, als ich dem Jungen die Glaskanne der Kaffeemaschine aushändigte. Sollte in etwa heissen: Hier, wir sind fertig mit Kaffee, ihr könnt jetzt Tee saufen, wenn ihr wollt.

„Ja“, antwortete er, und dann habe ich ihn auch nicht weiter stören wollen, wo er doch grade so schön mit dem Abwasch beschäftigt war, unter anderem auch mit unserem dreckigen Geschirr. Da fiel der Abschied leicht. Seine blonde Freundin Rita ist geborene Ungarin, soviel hat sie der Gräfin verraten, im vertraulichen Gespräch von Frau zu Frau. Meist sehen wir Rita beim Wäscheaufhängen im Garten, oder Essen machen.

Um mal auf meinen eigenen Stuhlgang zu sprechen zu kommen, ich meine, immerhin befinde ich mich in Ungarn auf fremden Terrain: Ich könnte auch genauso gut Schnecken sammeln, auf die Strasse legen und langsam von den Autos überfahren lassen. Das wäre von der Essenz her in etwa das gleiche Ergebnis wie das, was ich morgens in die Schüssel setze.

„Dabei hab ich heut noch gar nicht geschissen. Gestern auch nicht.“

„Das brauchst du mir nicht zu sagen, das riech ich auch so“, meint die schwarze Mumba. Sie löst Kreuzworträtsel.

„Liegt Celle in Niedersachsen?“

„Mh. Klar.“

„Weisst du, was Wechsel, Umlauf ist?“

„Mh. Irgendwas in der Finanzscheisse. Da kenn ich mich nicht so aus.“

„Hab ich aber gedacht, dass du das weisst. Du bist ja noch dööfer als ich.“

Wie will eine Frau, die dööfer mit doppel-ö schreibt, Rätsel lösen?

„Wie denn sonst? Mit einem ö?! Doch wohl nicht?“

Mh. Döfer? Scheisse. Um zu prüfen, ob nicht nur meine Gehirnleistung, sondern auch mein Gewebe altert, zeichnet sie mir irgendeinen Kram mit dem Kugelschreiber auf den nackten Hintern. Ich kann es nicht richtig erkennen, vermutet aber, es handelt sich bei dem Tattoo um zwei skelettierte Fische, die sich einen Herrenwitz erzählen. Wie sie damit allerdings den Alterungsprozess meiner Haut prüfen will..

„KLAPPE HALTEN, HASCHDIEB!“

Da wir keinen Fernseher auf dem Zimmer haben, müssen wir behelfsmäßig vorgehen: Am frühen Abend lassen wir uns auf dem alten Sofa nieder und glotzen auf die Stelle an der Wand, an der sich der Schatten eines gegenüberliegenden Fensters abbildet, etwa in Bildschirmgröße.

„Schalt mal um“, sag ich.

Dann muss es wohl 17.30 sein. Zeit für Al Bundy oder irgendeinen anderen TV-Verlierer. Wir haben ein Faible für Gesockse und verkommene Subjektive, wir lieben skurrile Gewinner und andere Personen. Und die müssen nicht notwendigerweise skurrile Namen tragen. Das ist wirklich nicht nötig. Die konnten ruhig Orion Specht heißen. Oder Herr Billwitz. Randolph Stuttgard. Kinkerlitzchen Carmichael.

Alles kein Problem.

Abends essen wir zur Abwechslung im Gulazs-Hof. Die Ungarn sind die wahren Krauts. Alles wird eingelegt und in Kraut gewickelt. Die Schnäpse laufen unter BARACK PALINKA und UNICUM. Ausserdem soll ich für die Gräfin etwas notieren, nämlich dass auf den Milchkartons FRISS TEJ steht. Als wir auf den Nachtisch warten, Palatschinken, sägt sie mit dem Speisemesser in meinen kleinen Finger.

„HERR OBER! HIER VERBLUTET EINER! RUFEN SIE BITTE DIE AMBULANZ, ABER LANGSAM!“

12. Juli 1993

Ob mein Gewebe altert, hat sie nicht feststellen können, aber dafür ist unsere Bettwäsche heut morgen kuliverschmiert. Sie malt ein Hütchen auf meinen Schwanz.

„Das ist nicht gemalt“, sagt sie.

Ach so. Richtig. Montagmittag. Wir sitzen im Garten.

„Komisch“, mault sie, „in jedem Urlaub krieg ich schnell braune Füße, aber hier, guck mal, immer noch Käsequanten.“

„Nächstes Mal nehmen wir einen Karton Selbstbräuner mit.“

„Hartmut, die Brechstange!“

„Irmgard!“

In der Tat, das Wetter am Balaton ist sehr wechselhaft. Zudem nervt, dass immer mehr Deutsche vorfahren. In NRW ist Ferienbeginn. Die Dachdecker kommen. Verdruss bereitet weiterhin, dass wir tags drauf den Bungalow räumen müssen, die Hütte ist ab dem 13. Juli gebucht. Wohin also? Die Gräfin kümmert sich nicht darum, überlässt mir alles. Sie liest den nächsten Krimi, er spielt in Uruguay, aber sie kapiert die Handlung nicht richtig. Ich hingegen kapiere so langsam überhaupt nichts mehr. Bestehen Ferien bloß aus Herumlungern im Garten unter Wolken und gelegentlichem Almdudler-aus-dem-Kühlschrank-holen für die Freundin, die einem die Zigaretten wegqualmt – sonst nichts? Nicht mal, wo man die nächsten Nächte unterschlupfen soll?

„Lass mal ziehn.“

Wir rauchen unser absolut allerletztes Piece von der Sicherheitsnadel. Noch knapp eine Woche Ferien, und nichts mehr zu rauchen. Schon sehe ich mir die eintrudelnden Neu-Urlauber genauer an, frage mich, wer ein Kiffer sein könnte. Aber das lässt sich nur noch schwer voraussagen. Männer mit Zöpfchen, früher sichere Haschisch-in-der-Tasche-Kandidaten, kannst du mittlerweile abheften. Oder nicht?

„Man müsste da mal nachhaken“, sag ich.

Der Ravioli-Klub kehrt vom Einkauf heim, beladen mit zwei Kartons Wein. Hm. Sollten wir uns in den beiden etwa getäuscht haben? Sollten diese ganze Dosen Ravioli, mittlerweile zur Pyramide aufgebaut wie in einer Wurfbude, nur Tarnung sein? Und was ist mit den merkwürdigen Kennzeichen an ihrem Wagen, einem Audi Sport: vorne Kreis Koblenz, hinten Flensburg? Ich denk, die kommen aus dem Allgäu! Hier stimmt was nicht, und zwar ganz gewaltig nicht. Das sind Terrorhelfer. Und da kommt auch schon die Bombe!

„Puh.. geh mal aufs Klo“, meint die Gräfin.

„Das sind die ungarischen Gewürze! Das vertrage ich nicht. Das viele Paprika.“

13. Juli 1993

Dienstag. Wir ziehen um. Das neue Quartier ist nur einen Steinwurf entfernt auf der gegenüberliegendren Strassenseite. Das Häuschen gehört einer alleinstehenden Bäuerin, deren Mann bereits seit einiger Zeit tot ist. Als sie merkt, dass wir ihrer Lebensgeschichte tatsächlich folgen, sie spricht gut deutsch, holt sie das Fotoalbum aus der Wohnzimmerschrankwand und gleich das zweite hinterher. Das Erste Ungarische Fernsehen zeigt Derrick, ungarisch synchronisiert. Die Gräfin ist davon so fasziniert, dass ich das Fotoalbum alleine über mich ergehen lassen muss.

Keine halbe Stunde später bin ich mit den Familienverhältnissen so weit vertraut, ich meine sogar Onkel Wanja auf einem verwackelten Foto zu erkennen, das aus dem Album gerutscht ist und zu Boden segelt.

Ich hebe es auf.

„Onkel Wanja?“ frage ich.

„Wanja, ja, scheene Mann. Aber Saufbruder. Immer Saufbruder.“

Wir haben das Gefühl, in ein Museum einzuziehen, in dem alle Zimmer noch haargenau so hergerichtet sind wie vorm Tod des Ehemannes und dem Auszug der Kinder. Ein Museum der 70er Jahre. Im Bad finden wir ein orangefarbenes Töpfchen Creme 21, („die gibt’s in Deutschland nicht mehr!“ ruft die Gräfin so begeistert, als habe sie eine archäologische Sensation aufgetan), und in allen Räumen und Fluren hängt der geschnitzten Herrgott an der Wand. Und so kommt es auch, dass wir am Nachmittag die Wand anbeten, es möge doch bald bitte wieder die Sonne scheinen, denn das Wetter ist so schlecht geworden. So schlecht, so viel kann man gar nicht futtern.

Im Gulasch-Hof, der eigentlich Gulyásdvar heisst, wechselt uns der Kellner unter der Hand Geld. Schwarzer Kurs, guter Kurs: 54 Forint für eine Mark statt der offiziellen 50 Forint. Können wir noch mehr Kesselgulasch fressen. Auf der Speisekarte, ganz oben, das Tages-Angebot: Napi: Fözelékek! (Heute: Fötzeleck!)

„Das nehm ich!“

„Bist du sicher?“ meint die Gräfin. „Du weisst doch gar nicht, ob die vorher geduscht hat.“

Das Ende vom Lied: ich nehme zwei Kessel Gulasch mit Nockerln, die Mumba einen Kessel. Ärgerlich: der Palatschinken, auf den wir uns immer besonders freuen, ist ausgegangen. Pappsatt und dennoch beleidigt ziehen wir heim, auf eine Runde Scrabble zur Nacht.

*

14. Juli 1993

Mittwoch. Sie träumt, ein von mir deponierter Sprengsatz sei in ihrem Kiefer detoniert, nachdem sie kurz zuvor auf der Strasse meinen Bruder getroffen und ihn gefragt hat, ob er schon wüsste, dass ich jetzt eine Schwuchtel sei. Das Wetter bessert sich, nicht nur das, es wird wieder knallheiß. In der Mittagsglut schlendern wir eine Runde durch Tihany, unser beschauliches kleines Dorf am Mississippi. Dass nirgends ein Lattenzaun gestrichen wird, besagt gar nichts.

Ich bin barfuß auf den geteerten Wegen unterwegs, was sich schnell rächt. Ich finde kaum noch schattige Spots, auf die ich meine Füße setzen kann, ohne dass mir die Sohlen verqualmen. Ich bewege mich von Spot zu Spot, manchmal muss ich regelrecht springen, wie von Pfütze zu Pfütze. Das ist kein Mark Twain Abenteuer, das ist Jules Verne. Mit einem Mal steht ein großer verlauster Köter vor uns. Ein Streuner, viereckig und traurig. Er tippelt vorsichtig auf uns zu, daran gewöhnt, sofort mit Fußtritten und Schimpfworten vertrieben zu werden.

Als er spürt, dass wir es gut mit ihm meinen, jedenfalls nicht notwendigerweise schlecht, wird er sofort anhänglich und läuft hinter uns her. Die Gräfin will den armen großen Kerl schon mit nach Hause nehmen, als sie in seinem Fell eine schwärende Wunde entdeckt, über die eine Hundertschaft Flöhe hüpft. Das Blut darunter ist schon ganz schwarz. Wir sehen zu, dass wir Land gewinnen. Es brennt auch plötzlich nicht mehr so doll unter den Fußsohlen.

„Wir sind gemein“, meint die Gräfin, als wir wieder daheim sind. „Wir sind genauso gemein wie alle anderen.“

Dagegen ist nichts einzuwenden, und ich wüsste auch nicht, warum. Von der Illusion, ich sei ein besserer Mensch, hab ich mich schon lange verabschiedet.

15. Juli 1993

Als kleines Mädchen, erzählt sie, habe sie ständig versucht, kranke Tiere vor dem sicheren Tod zu bewahren. Jungvögeln, die aus dem Nest gefallen waren, schob sie Würmer in den Hals, „und trotzdem waren die Vögelchen ruckzuck verendet.“ Auch Mäuse brachte sie mit nach Hause, „die hatte ich allerdings aus dem Nest geklaut, weil die so schutzbedürftig aussahen.“

„Ich wollte immer alle Tiere aufpäppeln, die malad waren, ich wollte propere Riesenvögel aus Spatzen machen – hat nie funktioniert. Meine Mutter hat mal einen Schreikrampf gekriegt, als sie meine Jackentasche ausleerte und da war eine glibbrige tote Kröte drin, die ich am Teich gefunden hatte. Danach hat sie meine Taschen nie wieder angerührt.“

„Wenn ich vom Teich kam, hatte ich ständig die Jacke voller Froschlaich und Würmern und was sonst so über den Boden krabbelte. Andererseits waren aber auch tausend Insekten ständig an mir interessiert, das muss man auch mal so rum sehen.“

Donnerstag. Junge, ist das heiss. Zu heiss zum Lachen, reicht es nur zum Glucksen und Gackern. Wieder im Napi belöpö, unserem Freibad hinterm Luxus-Hotel, das in seiner Stille und Gediegenheit wie ein Sanatorium wirkt. Nur die bekloppten Österreicher stören im Bild. Aber wir haben es ja gern, wenn etwas stört. Und das bißchen Österreich, mein Gott, wenns scheen macht. Der Allerhöchste Bier-Time-Blödmann, der gut zwanzig Kilogramm Übergewicht mit sich herumträg, (und zwar samt und sonders im Gesicht), tritt ein weiteres Mal in Erscheinung. Diesmal am Kiosk, und er hat wieder Durst.

„Ich hätt gern eine Limonade“, brüllt er den armen Ungarn hinter der Theke an, „so hoch wie bis zur Decke!“ Er kriegt sich kaum wieder ein. „SOO HOOOCH WIE BIS ZUR DECKE!!“

Als ich heut morgen bei unserer Vermieterin anklopfe, an der Küchentür, um die nächsten zwei Nächte zu zahlen, steht sie überm Abwasch gebeugt und weint. Erst denke ich, sie hätte vielleicht Zwiebeln geschält, doch dann stösst sie unter Tränen hervor, dass am Morgen eine ihrer Schwestern gestorben sei. Dabei fängt sie richtig an zu heulen und in meiner Hilflosigkeit geh ich auf sie zu und schliesse sie in meine Arme. Es war ihre letzte Schwester.

Als wir später ins Freibad aufbrechen, sehen wir unsere Vermieterin am Fenster stehen. Sie trägt bereits schwarz. Heute sind wir nicht albern.

*

16. Juli 1993

Ich weiß nicht, ob Gott existiert. Ich glaube nicht. Aber ich hätte es gern. Ich fände es besser, wenn es Gott gibt. Und ich würde mich für einen Mann entscheiden, als Gott. Kein Mann im schmutzigen Hemd. Ein Mann mit kanariengelber Fliege. Keine Frau. Oder nur eine sehr vornehme Frau. Eine Herzogin vielleicht, mit 100.000 Dollar teurem Zobel und einem ungeduldigen Fingerschnippen, wenn es unten auf der Erde zu trödelig vonstatten geht. Zu wenig schick. Ist Gott aber doch ein Mann, was ich vermute, dann ist er Österreicher – ein österreichischer Lagerarbeiter, 47 Jahre alt, der sein Stammcafe hat und ein wenig nuschelt. Keine große Sache. Gott eben.

„Hör mir auf mit Gott. Ich hab noch nie mit Gott gelacht“, meint die Gräfin. „Ich hab noch nie zu ihm gesagt, na, hör mal, du bist mir ja vielleicht einer..“

17. Juli 1993

Unser letzter Tag am Balaton. Zum Abschied gehts noch mal ins Napi belöpö, logisch. Weil am Tag zuvor ein Aal in Ufernähe gesichtet worden war, haben alle Kinder Angst vor der „riesigen Wasserschlange“. Um sie abzuschrecken, hat ein Witzbold mehrere Bojen, die eigentlich den Badebereich abstecken, mit schwarzen Feinstrumpfhosen bezogen, die sich nun im leichten Wellengang bewegen wie schwarze autonome Hühner, die Seewasser picken.

Ansonsten ist auf dem Balaton die Hölle los. Dutzende von Segelbooten sind unterwegs, eine Regatta. In unserem Salamisandwich, das wir täglich am Kiosk kaufen, entdeckt die Gräfin eine Wildschweinborste. Oder vielleicht vom Esel was dünnes. Zum Abschluss steigen wir fünf Mal ins Wasser. Als wir auf der Wiese liegen, erzähle ich von früher. Weil mein Kopf voll niedlicher Löckchen war, machten sich meine Schwester und meine Cousine einen Spaß daraus, mich zu verkleiden und zu schmücken, sie konnten nicht genug davon kriegen, wenn sie mal wieder auf mich aufpassen mussten. Sie nannten mich Goldmarie und trugen mir Lippenstift auf, sie behängten mich pfundweise mit Lametta vom Christbaum und kicherten. Ich hatte keine Chance. Ich war vierundzwanzig Monate alt.

Dann, als Teenager, hatte ich soviel Locken, man konnte mich auf hundert Meter Entfernung von hinten erkennen, nur an meiner wilden Naturkrause. Ich war ein junger weißer Little Richard, ein Priester der Straße. Und heute?

„Herr Geheimrat! Wo sind deine Locken geblieben?“ entrüstete sich Harry neulich, der mich länger nicht gesehen hat. Als hätte ich meine negroide Kopf-Bebauung selbst geplättet, aus lauter Vergnügen am Plattmachen. Aber es stimmt ja. Aus der wilden Mähne der 70er Jahre ist gemäßigter Wellengang geworden, es plätschert dunkelblond über den Schädel, Geheimratsecken fressen sich wie Parkplätze in den brasilianischen Urwald. (Ein unhaltbarer Zustand. Ich spiele mit dem Gedanken, nordamerikanische Umweltaktivisten zu engagieren, die sich an die letzten verbliebenen Riesen ketten.)

„Also, ich finde das sexy“, sagt die Gräfin. „das sieht so verletzlich aus..“

„Sexy?! Du findest Geheimratsecken sexy?“

„Na.. sexy nicht wirklich. Aber verletzlich. Verletzlichkeit finde ich sexy. So herum ist es richtig..“

Erst sexy, dann nicht wirklich sexy, oder doch nur mit Einschränkung, also, ich weiss nicht. Früher lagen die Dinge einfacher. Ich hatte eine schöne Matte und die Mädels liefen mir hinterher. Das war besser. Da war ich mein eigenes Naturvolk.

„Blödsinn, das sind doch gar keine richtigen Geheimratsecken. Die kommen erst noch..“, tröstet sie mich.

„Na, toll! Weißt du noch früher? Da war ich mein..“

„..eigenes Naturvolk, ja, ich weiß.“

18. Juli 1993

Samstag. Rückfahrt im Schnellzug nach Köln. Aus vier Sitzen bauen wir eine Liegewiese und hauen uns zwei, drei Stündchen hin. Krummes Liegen bis hinter Regensburg, da hören wir, wie die Türe aufgeschoben wird und zwei Leute Platz nehmen, die sich leise unterhalten. Es dauert seine Zeit, bis wir richtig wach sind und realisieren, was los ist.

„Morgen“, grüßen die Eindringlinge.

„Morgen“, murmeln wir zurück und schieben die Sitze zusammen. Wir schauen eine Weile verpennt dem aufkeimenden Morgen zu, bis die Unterhaltung der beiden Kollegen, beim Sozialamt beschäftigt, abrupt abbricht. Als wir uns umschauen, schnarchen beide friedlich vor sich hin, so friedlich, sie verpennen sogar ihren Zielbahnhof, während die Gräfin und ich fortan hellwach sind. Super Sache, insgesamt.

Kaum nähern wir uns dem Bergischen Land, dem kleinen England, beginnt es zu regnen. Hauptbahnhof Solingen. Der Taxifahrer, der uns zum Kannenhof bringt, ein ehemaliger Kollege der Gräfin, entpuppt sich als echt bergischer, wortkarger Knabe. Immerhin schafft er es, so etwas wie eine zusammenhängende Frage zu stellen.

„Und witterungsmäßig? War gut? In Ungarn?“

Die Gräfin erzählt vom schnellen Wetterwechsel am Plattensee, doch er hört gar nicht richtig hin, und als wir oben an der Wupperstrasse an der Ampel stehen, murmelt er nur, den Finger in der Nase: „Und das Wetter? War schön?“

33 Gedanken zu „Nachtzug nach Budapest

  1. ja, in dieser geschichte hier, mein ich, ist diese stelle.
    du hast woanders kommentiert.
    bei der 10.000 Euro Story.
    Ist aber auch egal,
    eigentlich.
    Aber so egal wiederum auch nicht.

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  2. Pingback: Himmelende · Das Letzte

  3. Früher war ich öfter mal in Sopron, weil das nur einmal Spucken von meiner Oma war. Aber seit die die Ebene gewechselt hat vor zwei Jahren, interessiert mich diese Richtung nimmer wirklich. Ungarisch ist eine interessante Sprache, ja. In diesem Sinne: Jó napot kivanok!

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  4. ..also manchmal muss man. manchmal muss man einfach doch:

    der song heisst sabbath bloody sabbath, nix sunday, vielleicht u2?

    und paranoid ist alles andere als eine instrumental-nummer, HERR glumm!!!! lochfraß?

    (das aschecontaimerschiff ist unterwegs)…

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  5. ich hab jetzt fernweh iss klasse
    wer sollte da an lissabon denken dem schweitzer geleehrten der hier vielleicht was abgekupfert hat
    als er ein buch in händen hielt und vorher im nassen den sprüngen auf die schliche kam
    das geile iss sein wahrer name
    irgendwas mit bier
    nich der biermann der shakesspeare übersetzt hat,nein ein dozent in berlin der nix wissen will von der welt bis er seine tüte mit sachen widerfindet nach dem besuch bei der augenärztin der schönen die auch was zu sagen hatte ,wie hört der roman eigentlich auf…hihi

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  6. es war nich das lesen ,..es war das schnaufen vor den bergischen plattlatschen
    die u-bahn zwischen klauberg und schelltunnel
    eine durchführung nur am zigeunerposten zur umkleide im schacht
    wir pieppten nie
    und das war der weg

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  7. Pingback: 2011 in review « Glumm

  8. Ich hab auch mal Urlaub in Solingen gemacht, zwei Tage, in einem Bauhaus – Villa mit Heimkino, der Garten ein Park, riesige Rhododendrons, Springbrunnen und rumänischem Gärtner. Mehr habe ich von dem Ort nicht gesehen. Aber das war auch schon spannend genug. Aus anthropologischer Sicht.-:)

    Es grüßt aus Budapest.

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  9. Mir ist schon wieder danach,von meinen Urlaubserlebnissen zu erzählen,aber das wäre für andere zu langweilig.zufällig weiß ich,daß ich am 2.7.meinen 24.gefeiert hab und am 3.7.völlig fertig mit zwei Riesenflaschen DHC-Saft (bäääh)und zwei Kumpels bewaffnet für drei Wochen in die Dom Rep geflogen bin.war schön,aber sicher nicht so schön als mit einer Gräfin in Ungarn.schätze ich.und ich weiß,daß wir nach dem Rückflug im Zug ein-und in Ohligs ausgestiegen sind.ganz schön lange her.

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